Regional (2007)

Behörde für Bildung und Sport

Die Ausländerbehörde der Hansestadt Hamburg nutzt das Schülerzentralregister, um Familien ohne Papiere aufspüren und abschieben zu können. In der Konsequenz nehmen deshalb Eltern ihre Kinder sicherheitshalber von der Schule, trotz Schulpflicht. Für dieses Eigentor zu Lasten geflüchteter Kinder, die ebenso ein Recht auf Bildung haben wie alle anderen, erhält die Senatorin für Bildung und Sport, Alexandra Dinges-Dierig, den BigBrotherAward 2004 in der Kategorie „Regional“.
Laudator.in:
Alvar Freude am Redner.innenpult während der BigBrotherAwards 2008.
Alvar Freude, Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG)

Der BigBrotherAward 2007 in der Kategorie „Regional“ geht an die Behörde für Bildung und Sport der Freien und Hansestadt Hamburg, vertreten durch Alexandra Dinges-Dierig, Senatorin für Bildung und Sport, für die Einrichtung eines Schülerzentralregisters mit dem (Neben-) Zweck, ausländische Familien ohne Aufenthaltserlaubnis aufzuspüren.

Hamburg ist bundesweit für eine besonders rigide und menschenunwürdige Abschiebepraxis bekannt. Mal soll ein seit 21 Jahren in Deutschland lebender Palästinenser aus Nablus im Westjordanland abgeschoben werden, mal sollen minderjährige Schüler ohne ihre Eltern (die eine Aufenthaltsgenehmigung haben) in deren Heimat abgeschoben werden.

Da ist es nicht verwunderlich, dass alle Mittel genutzt werden, um Familien für die nächste Abschiebung aufzuspüren. So nutzt die Ausländerbehörde auch das Zentrale Schülerregister, um Kinder und ihre Eltern ohne Aufenthaltsgenehmigung zu entdecken.

In Deutschland gibt es bekanntermaßen eine Schulpflicht. Nicht nur das: Jeder hat das Recht auf Bildung1 und es gilt, dass „das Recht auf Bildung niemandem verwehrt werden darf“2, wie es beispielsweise in der Europäischen Menschenrechtskonvention, im UNO-Menschenrechtspakt I3 und der UNO-Kinderrechtskonvention4 festgeschrieben ist.

Das Recht auf Bildung besteht für jedes Kind, egal welcher Nationalität es angehört. Und egal, ob es sich rechtmäßig im betreffenden Land aufhält oder nicht.

2006 wurde mit der Novellierung des Hamburgischen Schulgesetzes und der Schul-Datenschutzverordnung5 in Hamburg das Zentrale Schülerregister eingeführt. Alle Schulen des Stadtstaates müssen dort die Daten aller Schüler eingeben, worauf ein automatischer Abgleich mit dem Melderegister erfolgt. So sollen Kinder aufgespürt werden, die vernachlässigt werden und nicht zur Schule gehen. Erklärtes Ziel der Datensammlung ist, unter anderem tragische Fälle wie den der siebenjährigen Jessica zu verhindern, die 2005 nach unbemerktem jahrelangem Martyrium in der elterlichen Wohnung qualvoll verhungert war.

Allerdings hätte das Schülerregister Jessica auch nicht geholfen: Das Kind war der Schulbehörde bekannt, sie hat sogar ein Bußgeldverfahren wegen Verletzung der Schulpflicht eingeleitet. Aber niemand prüfte, warum das Mädchen der Schule fern blieb. Mit dem Bußgeldverfahren war der Fall für die Schulbehörde offenbar erledigt, weder Jugend- noch Sozialamt oder Polizei wurden eingeschaltet. Wenn die Behörden so einen Fall nicht weiterverfolgen, nutzt die größte Datensammlung nichts.

Aber wofür ist das hamburgische Schüler-Zentralregister dann ein taugliches Mittel? Außer, vielleicht, zur Sicherung der Arbeitsplätze von Softwareentwicklern?

Auch ein anderes Mädchen hatte Probleme mit Hamburger Behörden, aber nicht, weil diese sich zu wenig um sie kümmerten:.Ein anonymer Denunziant hatte die 13-jährige Yesim und ihre Mutter bei der Ausländerbehörde gemeldet: Sie lebten seit 13 Jahren ohne gültige Papiere bei der Großmutter in Hamburg. Für die Ausländerbehörde ein typischer Fall von „illegalem Familiennachzug“, daher sollten Yesim und ihre Mutter in die Türkei abgeschoben werden. Wäre Yesim nicht eine vorbildlich integrierte und beliebte Musterschülerin, wären sie und ihre Mutter sicherlich schon lange abgeschoben.

Doch nun ist die Ausländerbehörde nicht mehr auf den petzenden Nachbarn angewiesen: Über das Schülerregister können nicht nur Kinder aufgespürt werden, die gemeldet sind, aber nicht zur Schule gehen. Nein, im Gegenteil: Es können auch Schüler aufgespürt werden, die zur Schule gehen, aber nicht gemeldet sind. Also Schüler, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in Hamburg aufhalten. Denn die Daten aus dem Schülerregister werden laufend und automatisch mit dem Melderegister abgeglichen.

Ist das Zentrale Schülerregister also eher ein Yesim-Register als ein Jessica-Register, wie Flüchtlingsorganisationen vermuten? Tatsächlich ist das Aufspüren von Kindern ohne Aufenthaltserlaubnis auch ein Ziel des Schülerregisters, wie speziell die CDU in Hamburg fordert, und konsequenterweise hat die Ausländerbehörde auch Zugriff darauf.

So besagt § 9 der Hamburger Schul-Datenschutzverordnung:

§ 9 Datenübermittlung an andere Behörden oder sonstige öffentliche Stellen

Die zuständige Behörde darf einer anderen Behörde oder sonstigen öffentlichen Stelle der Freien und Hansestadt Hamburg die in § 7 genannten personenbezogenen Daten aus dem Zentralen Schülerregister übermitteln, wenn dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben oder zur Erfüllung der Aufgaben des Empfängers erforderlich ist. Die übermittelten Daten dürfen von der anderen Behörde oder sonstigen öffentlichen Stelle nur zu den Zwecken verarbeitet werden, zu denen sie übermittelt wurden. […]

Aha: „Die übermittelten Daten dürfen von der anderen Behörde nur zu den Zwecken verarbeitet werden, zu denen sie übermittelt wurden.“ Frau Dinges-Dierig, heißt das: Wenn die Daten zum Abschieben von Familien ohne Aufenthaltserlaubnis übermittelt wurden, dann dürfen die Daten auch nur für Abschiebungen verwendet werden?

Nach Auskunft der Schulbehörde gab es bisher keine Abschiebungen aufgrund des Schülerregisters. Es wurden keine Kinder ohne gültige Aufenthaltserlaubnis aufgespürt. Kein Wunder: Betroffene Eltern haben die begründete Angst, dass der Schulbesuch ihrer Kinder nahezu zwangsläufig zur Abschiebung der ganzen Familie führt. Dass hier die Entscheidung gegen den Schulbesuch fällt, ist nachvollziehbar. Diese Angst hatten viele Familien schon früher, aber Hilfsorganisationen wie beispielsweise „Fluchtpunkt“6 konnten die Eltern meist davon überzeugen, dass ihnen durch den Schulbesuch ihrer Kinder keine Gefahr droht. Mit dem Schülerregister geht dies nicht mehr, betroffene Familien haben ihre Kinder von der Schule genommen. Kein Wunder, dass niemand mehr aufgespürt werden konnte. Ein Gesetz, dass dem Kindeswohl dienen soll, bewirkt das Gegenteil.

Ja, das Zentrale Schülerregister in Hamburg soll dem Kindeswohl dienen, obwohl es dazu gar nicht in der Lage ist. Jessica hätte es nicht vor ihren misshandelnden Eltern und den schlampigen Behörden bewahrt. Kindeswohl definiert wohl jeder anders – denn nach Lesart der CDU-Fraktion und Schulsenatorin Dinges-Dierig im Hamburger Senat gilt: Da das Leben ohne Aufenthaltserlaubnis per se nicht dem Kindeswohl diene, sei eine Beendigung der Illegalität das Beste für das Kind7. Ob es ihm aber in Afghanistan, im Gazastreifen oder im Irak besser geht, ist mehr als fraglich. Dennoch: Nach der bisherigen Praxis der Hamburger Ausländerbehörde ist eine Abschiebung auch in Krisengebiete keine unwahrscheinliche Option, wie mehrere Fälle gezeigt haben.

Diese krude Ansicht von Kindeswohl geht in der Realität nicht auf: Eltern nehmen ihre Kinder lieber von der Schule, als dass sie eine Entdeckung und Abschiebung riskieren. Damit konterkariert Hamburg bewusst das Recht auf Bildung, denn, zur Erinnerung: dieses gilt auch für Kinder ohne Aufenthaltsgenehmigung.

Zwar mussten Schulen auch früher bereits Kinder ohne gültige Papiere bei der Ausländerbehörde melden. Wer nun aber im Zentralen Schülerregister steht, ist auch zentral gespeichert, ein Datenabgleich mit den den Meldedaten findet automatisch statt. Die Schulen stehen unter erheblichem Druck, die Daten der Schüler zu erheben. Papierlose Kinder könnten zwar ganz verschwiegen werden. Diese sind dann aber auch nicht existent für Zeugnisse und Abschlüsse und wären bei Schulunfällen nicht versichert.

Was haben wir gelernt, Frau Dinges-Dierig?

  1. Ihre Datensammelwut verstärkt das humanitäre Problem von Flüchtlingen und Familien ohne gültige Aufenthaltsgenehmigungen, anstatt es zu reduzieren. Betreffenden Kindern wird de facto das Recht auf Bildung verweigert.
  2. Der angegebene Zweck, die Schulpflicht für alle Kinder durchzusetzen, wäre kostengünstiger auch mit anderen Methoden erreichbar – beispielsweise, wenn Ihre Behörde Schulpflichtverletzungen tatsächlich nachgehen würde.  
  3. Werden Daten gesammelt und zentral gespeichert, so können sie missbraucht, also für viele Zwecke genutzt werden.

Herzlichen Glückwunsch zum BigBrotherAward, Frau Dinges-Dierig.

Jahr
Kategorie

Laudator.in

Alvar Freude am Redner.innenpult während der BigBrotherAwards 2008.
Alvar Freude, Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG)
Quellen:

1 Artikel 26 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

2 Artikel 2 im 1. Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zur Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950, von Deutschland 1952 ratifiziert

3 Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, kurz: Sozialrechtspakt, 1966 von der UN-Generalversammlung einstimmig verabschiedet, von Deutschland 1968 unterzeichnet und 1973 vorbehaltlos ratifiziert

4 Übereinkommen über die Rechte des Kindes, 1989 von der UN-Generalversammlung angenommen; Deutschland hat neben Österreich als einziges europäisches Land die Kinderrechtskonvention nur unter dem Vorbehalt unterschrieben, dass das deutsche Ausländerrecht Vorrang habe.

5 Verordnung über die Verarbeitung personenbezogener Daten im Schulwesen (Schul-Datenschutzverordnung) vom 20. Juni 2006 (Web-Archive-Link)

6 https://fluchtpunkt-hamburg.de/ und https://www.kinderfluchtpunkt.de/ [Inhalte nicht mehr verfügbar]

7 siehe bspw. Taz-Artikel vom 12.10.2006: "Kindeswohl wird registriert" (Web-Archive-Link)

Über die BigBrotherAwards

Spannend, unterhaltsam und gut verständlich wird dieser Datenschutz-Negativpreis an Firmen, Organisationen und Politiker.innen verliehen. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und wurden deshalb von Le Monde „Oscars für Datenkraken“ genannt.

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BigBrotherAwards International

Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden fragwürdige Praktiken mit diesen Preisen ausgezeichnet.