Wirtschaft (2007)

Deutsche Bahn

Der BigBrotherAward 2007 in der Kategorie „Wirtschaft“ geht an die Deutsche Bahn AG, da sie systematisch anonymes Reisen mit den Mitteln des faktischen Zwangs unmöglich macht: Auflösen von Fahrkartenschaltern, Automaten ohne Bargeldannahme, personalisierter Kauf im Internet, Abfrage des Geburtsdatums und Zwangsabgabe eines Bildes bei Bahncards, flächendeckende Videoüberwachung und ein RFID-Chip in der Bahncard 100 ohne Kund.innen zu informieren u.v.m.
Laudator.in:
padeluun am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
padeluun, Digitalcourage

Der BigBrotherAward 2007 in der Kategorie „Wirtschaft“ geht an die Deutsche Bahn AG, vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Hartmut Mehdorn, da sie systematisch anonymes Reisen faktisch unmöglich macht.

„Brötchen gibt’s am Automaten“. Das ist ein Satz, den ich von meiner Bäckereifachverkäuferin bisher noch nicht gehört habe. Sie hat auch nicht ergänzt, dass ich für 5 Euro Aufpreis die Brötchen doch auch bei ihr am Tresen kaufen könnte. Ich müsse mich im Gegenzug allerdings an die 5 Meter Lange Schlange ganz rechts anstellen. Und sie hat auch nicht gesagt, dass ich die Brötchen im Internet bestellen könnte und diese mir dann in zwei Tagen ins Haus geschickt würden – dabei würden aber meine Adresse, Geschmacksvorlieben und Kreditkartennummer zentral gespeichert.

Wenn ich mit der Deutschen Bahn reisen möchte, dann sind solche Aussagen bittere Realität.

Aber dies hier ist kein Verbraucherschutz-Negativpreis, es geht nicht um das alltägliche Genervtsein im Umgang mit einem servicefremd agierenden Großkonzern, sondern es geht um die Datenkrake Deutsche Bahn AG. Ich möchte Sie mitnehmen zu meinen Gedanken um das systemtische Aushebeln des anonymen Reisens. Steigen Sie ein und lassen Sie die folgenden Ausführungen an sich vorüberziehen.

Die Deutsche Bahn AG will anscheinend alles wissen und stellt planvoll und effektiv ihre Weichen.

Erste Station: Die Deutsche Bahn AG schiebt die Reisebüros aufs Abstellgleis. Die Provisionen wurden so gekürzt, dass Reisebüros es sich nicht mehr leisten konnten, Fahrkarten ohne Aufpreis auszustellen. Für die Reisebüros bedeutet das: Endstation – bitte aussteigen. Ab sofort hat die Deutsche Bahn AG die volle Kontrolle über die verkauften Tickets. Wir reisen weiter zur zweiten Station.

Die Fahrkartenschalter im Bahnhof. Die Kapazitäten von Personal an Fahrkartenschaltern werden so knapp gehalten, dass man schon ordentlich viel Zeit mitbringen muß, um sich eine Fahrkarte zu kaufen. Bis zu 5 Euro teurer ist der Kauf am Schalter, 2 Euro teurer jede Platzreservierung. Wer also weder zuviel Geld noch zuviel Zeit hat, kauft seine Fahrkarte anders. Hier teilt sich die Strecke:

Sie können zum Beispiel übers Internet reisen. Sie ahnen, was das bedeutet: Sie sind namentlich und mit voller Adresse und Ihrer Kontonummer dem ‚Unternehmen Zukunft’ bekannt.

Also doch lieber die Umwegstrecke über den Fahrkartenautomaten nehmen? Kaum ein Automat nimmt Bargeld. Da müssen Sie dann schon Ihre EC-Karte einstecken. Haben Sie eine Bahncard, um Fahrkarten zu einem halbwegs vernünftigen Preis zu erstehen? Damit Sie den Rabatt bekommen, verlangt der Automat – unnötigerweise, da der Rabattanspruch sowieso erst bei der Fahrkartenkontrolle im Zug geprüft wird  dass Sie die Bahncard ins Gerät stecken: Privatsphäre Adé. Nur sehr gewiefte Menschen entdecken, dass man beim „Bahncard-gefordert-Fenster“ im Automaten einfach auf Abbrechen klicken kann, und trotzdem eine Karte bekommt.

Wo wir schon mal einen Umweg machen, nehmen wir uns Zeit, uns die Bahncard mal genauer anzugucken! Haben Sie beim Bahncard-Antrag Ihr Geburtsdatum angegeben? Warum? Es gibt keinen Grund, dass die Bahn Ihr Geburtsdatum erfährt. Das Geburtsdatum ist nur für Datenkrakereien brauchbar und darf laut Bundesdatenschutzgesetz gar nicht als Pflichtfeld abgefragt werden. Schon vor ein paar Jahren schrieb uns der Berliner Datenschutzbeauftragte, dass er die Abfrage des Geburtsdatums bei der Deutschen Bahn AG moniert habe. Geändert hat sich allerdings nichts.

Ein Jugendlicher, der sich seine Bahncard im Reisebüro bestellte, zeigte seinen Ausweis vor, und bestand darauf, dass lediglich der Vermerk gespeichert wird, dass er berechtigt sei, eine vergünstigte Bahncard für Jugendliche zu beziehen – ohne Speicherung des Geburtsdatums. Die – übrigens im Voraus bezahlte – Bahncard wurde ihm nie zugeschickt. Diskussionen am Telefon mit den Tentakeln der Datenkrake führten zu nichts. Das Reisebüro, das den Vorgang angenommen hatte, existiert nicht mehr. Das Geld ist futsch.

Mit dem Foto auf Bahncards wollte sich der Mitarbeiter des zuständigen Berliner Datenschutzbeauftragten schon eher anfreunden. Mich selber beschleicht ein eher ungutes Gefühl, wenn das Staatsunternehmen in Auflösung, das in Deutschland eine nahezu flächendeckende Videoüberwachung unterhält, die wohl zentral in Berlin zusammengeschaltet werden kann, mein Bild als Datei bekommt und auch noch jahrelang abspeichert. Zumal mein Bild als Merkmal auf der Bahncard auch gar nicht notwendig ist: Meine Identität und Berechtigung, eine Bahncard zu besitzen und zu nutzen, kann ich jederzeit durch einen Lichtbildausweis belegen.

Deshalb trägt meine Bahncard weder ein Bild noch ein Geburtsdatum. Mein Alter (Vorsicht meine Damen, das ist auf der Bahncard aufgedruckt) ist mit 95 Jahren angegeben.

An anderer Stelle wurde das zur ungewollten Notbremse: In Berlin wollte ich mir eines der hübschen, per Handy freischaltbaren Fahrräder der Deutschen Bahn mieten. Nachdem ich länger mit der freundlichen Servicemitarbeiterin telefonierte, meinen Namen und meine Adresse angab, kam das Aus: Als Einstiegspasswort sollte ich mein Geburtsdatum angeben. Das müsse sein, belehrte mich die die Dame am Telefon. Ich seufzte und ging zu Fuß.

Richtig anonym und komfortabel geht’s wohl nur mit der Bahncard 100. Freie Fahrt für reiche Bürger, auch auf der Datensammelbahn – sollte man meinen. Einmal 3.400 Euro bezahlen, einsteigen und einfach fahren, ohne Fahrkartenkauf, ohne Internetgeklicke, ohne fummelige Zettelwirtschaft. Aber auch hier lauert die Datenkrake in ihrem perfiden Versteck: In der Karte ist heimlich ein RFID-Schnüffelchip integriert. Der Chip kann, vom Benutzer unbemerkt, per Funk ausgelesen werden. Zur Erinnerung: Der Metrokonzern mußte seine heimlich mit Schnüffelchips verwanzten Payback-Karten im Jahr 2004 umtauschen; die gesamte RFID-Industrie wurde in Mißkredit gezogen. Der zuständige Vorstandsvorsitzende der Metro mußte seine Vorstandstätigkeit zwischenzeitlich aufgeben.

Wir haben den Chip in der Bahncard 100 bereits im Jahr 2005 in einem kleinen Artikel auf der Website des FoeBuD e.V. beschrieben. Drei Tage nach Veröffentlichung rief der betriebliche Datenschutzbeauftragte an und fragte an, ob die Bahn jetzt den BigBrotherAward bekommen würde. „Bis repetita non placent“ beschieden wir als gebildete Asterix-Leser ihm. „Wiederholungen gefallen nicht“. RFID-Karten hatten ja schon soooo einen Bart. Er atmete hörbar auf. Er versprach, dass die Bahn zukünftig deutlich auf den Chip hinweisen wird.

Einem Kunden gegenüber, der eine Bahncard 100 ohne Chip wollte, gab er nach unserem Telefonat die Auskunft, dass der Chip nicht aktiviert sei. Dennoch meldet sich der Chip an jedem Lesegerät, das nach dem gleichen Standard arbeitet. Wären die Lesegeräte bereits so flächendeckend verbreitet, wie sich das die Industrie noch 2003 vorgestellt hatte, wäre die Bahncard 100 letztendlich eine Art Wanze, die durch ihre eindeutige Nummer den Standort der Kartenbesitzerin mitteilt. Solche Daten gehören nicht freigelassen! Zumindest haben die Benutzer ein Recht darauf, zu wissen, was sie mit sich herum tragen. Ich habe extra noch einmal alle Newsletter der Deutschen Bahn AG seitdem durchgesehen. Bis heute kein Wort. Gar nichts.

Und dann gibt es noch Mitfahrer auf unserer Rundreise, die sammeln Punkte. Bahn-Comfort-Punkte. Gut, mittlerweile hat es sich herumgesprochen, dass Punktesammeln und Privatsphäre nicht so wirklich richtig gut miteinander harmonieren. Aber angeblich hat dennoch immerhin die Hälfte der Bahncard-Besitzerinnen und –Besitzer das Punktesammeln freigeschaltet. Auf der Website verbürgt sich die Deutsche Bahn AG in der Datenschutzerklärung dafür, dass die Daten nicht den DB-Konzern verlassen, garantiert nicht an Dritte weitergehen. Das steht im Widerspruch zu einem Eintrag in Wikipedia, der anderes behauptet. Ich mache mich auf die Suche.

Auf der Homepage der Firma Loyalty-Partner werde ich fündig. Diese Firma hat ein Konsortium um sich gesammelt, das die Bahn-Bonuspunkte verwaltet. Die Bahncards werden von der Bamberger GHP Holding hergestellt. Die GHP bearbeitet übrigens auch die Happy Digits-Vorgänge. Und die Firma Loyalty-Partner, bei denen ich das gelesen habe, ist Betreiberin des Payback-Systems, Gewinner des BigBrotherAwards im Jahr 2000. Payback, Happy Digits und Bahn-Comfort-Punkte, alles unter dem Dach eines Konsortiums. Was für eine Gemengelage – kein Wunder, dass die Deutsche Bahn AG das nicht einfach zugibt. Und der Zug rollt immer weiter.

Der Datenkrake hat viele Tentakel. Da mag überempfindlich, aber verständlich sein, dass sich Leute unwohl fühlen, wenn die Kamera des mobilen Kontrollgerätes, mit dem die Schaffner die Strichcodes der Online-Tickets prüfen, genau auf Ihr Gesicht gerichtet ist.

Wo geht die Reise hin? Ab Anfang November 2007 geht ein neues Abrechnungssystem in den Pilotversuch. Die Testpersonen bekommen spezielle neue Handys. In diesen Geräten werden alle Mobilfunk-Funkzellen auf dem Fahrweg gespeichert. Zu Beginn und Ende einer Fahrt funken diese Handys ihre Daten an die Bahn AG. Bessere Bewegungsprofile kann es kaum noch geben

So werden mehr und immer mehr Daten angehäuft; die Sensibilität für Datensparsamkeit muß immer wieder erst von Datenschutzbeauftragten angemahnt werden, bevor die Tentakel eingezogen werden. Bei Zugverspätungsgutscheinen und Fahrkartenrückerstattungen mußte erst ein Bußgeldverfahren eingeleitet werden, bevor die Bahn davon absah, bei Erstattungen persönliche Daten in Hülle und Fülle abzufragen.

An vielen Stellen hat die Deutsche Bahn AG anscheinend recht ausgefeilte Verfahren und Abläufe, um direkten Datenmißbrauch zu verhindern. Aber das ‚komische Gefühl in der Magengrube’ bleibt. Ein Staatskonzern, der so viele Bewegungsdaten von Menschen sammelt, stellt ein hohes Risiko dar. Ein Konzern, der Profit abwerfen soll, ist kein guter Garant für vertraulichen Umgang mit personenbeziehbaren Daten.

10.000 Fahrkartenautomaten gibt es in ganz Deutschland, die keine Brötchen, aber Fahrkarten verkaufen. 10.000 Automaten, für die weder Sozialabgaben noch Lohnsteuer abgeführt werden. 10.000 Automaten, die alle gleichgeschaltet am großen Zentralrechenzentrum hängen. 10.000 Automaten, die zusammen mit ihren Spießgesellen, den am Internet angeschlossenen Heim-PCs, Daten saugen und ihren Herren ausliefern. 10.000 Automaten, die von Videokameras überwacht werden, damit sie nicht fortlaufen ... weil selbst sie die soziale Kälte nicht ertragen können.

Anschluss verpasst, Herr Mehdorn! Herzlichen Glückwunsch Deutsche Bahn AG zum BigBrotherAward 2007.

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Über die BigBrotherAwards

Spannend, unterhaltsam und gut verständlich wird dieser Datenschutz-Negativpreis an Firmen, Organisationen und Politiker.innen verliehen. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und wurden deshalb von Le Monde „Oscars für Datenkraken“ genannt.

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Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden fragwürdige Praktiken mit diesen Preisen ausgezeichnet.