Arbeitswelt (2022)

Lieferando

Der BigBrotherAward 2022 in der Kategorie Arbeitsrecht geht an Lieferando und den deutschen Betreiber dieses Angebots, die yd.yourdelivery GmbH. Lieferando erhält den BigBrotherAward 2022 für die unzulässige Totalkontrolle ihrer beschäftigten „Rider“. Diese erfolgt mit Hilfe der Scoober-App, die detailliert und sekundengenau eine Fülle von Verhaltensdaten erfasst. Hierzu gehört neben dem Zeitpunkt der Abholung im Restaurant und der Übergabe an Kunden auch alle 15 bis 20 Sekunden eine Standortbestimmung.
Laudator.in:
Prof. Dr. Peter Wedde am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Prof. Dr. Peter Wedde, Frankfurt University of Applied Science

Stellen Sie sich vor, Ihr Arbeitgeber weiß zu jeder Zeit, wo Sie sich aufhalten. Er registriert, wie schnell oder langsam Sie Ihre Arbeit erledigen, Ob Sie Pausen machen oder wie genau Sie die Vorgaben einhalten. Und all diese Daten sammelt er – für unbestimmte Zeit.

Keine Dystopie. Sondern Alltag in der schönen neuen Arbeitswelt der Lieferdienste.

Der BigBrotherAward 2022 in der Kategorie Arbeitswelt geht deshalb an Lieferando und an die hinter diesem Firmennamen stehenden Unternehmen yd.yourdelivery GmbH und Takeway Express GmbH, beide ansässig in Berlin. Der Einfachheit halber werde ich im Folgenden von „Lieferando“ sprechen.

Lieferando erhält den BigBrotherAward 2022 für den Einsatz der Scoober-App, die eine umfassende Überwachung der für den Lieferdienst tätigen Fahrerinnen und Fahrer ermöglicht und die zugleich personenbezogene Daten an eine Reihe von Internet-Tracker weiterleitet.

Lieferando ist aus unserer Sicht nur die Spitze eines Eisbergs von Firmen aus der „Plattform-“ oder „Gig-Economy“, die eine Tätigkeit davon abhängig machen, dass Beschäftigte ihnen vielfältige persönliche Daten zur Verfügung stellen. In Deutschland beziehen inzwischen fast sechs Prozent der Erwerbstätigen zumindest einen Teil ihres Einkommens aus sogenannter Plattformarbeit.1 Beschäftigte, die nicht aus Spaß für Firmen wie Lieferando arbeiten, sondern weil sie ihren Lebensunterhalt verdienen müssen.

Wem gehört der Preisträger?

Die hinter Lieferando stehenden Unternehmen gehören zum börsennotierten holländischen Konzern Just Eat Takeaway.com N.V in Amsterdam. Die holländische Muttergesellschaft besitzt auch den Markennamen „Takeaway.com“, der in den App-Stores von Android und Apple als „Entwickler“ der Scoober-App genannt wird.

Die Verwendung dieser App ist Voraussetzung für eine Liefertätigkeit für Lieferando. Über diese App melden sich die Fahrerinnen und Fahrer „dienstbereit“. Ist dies geschehen, weist ihnen die Scoober-App über das Smartphone – ausgehend vom aktuellen Standort – automatisch Restaurants zu, bei denen Ware abzuholen ist. Sie zeigt die Adressen der Kundinnen und Kunden sowie den geplanten Lieferzeitpunkt an und registriert die erfolgte Übergabe der Bestellung. Diese Informationen sind für den Lieferprozess erforderlich – und nicht der Grund für den BigBrotherAward.

Mit der Auszeichnung würdigen wir vielmehr die Verarbeitung von weiteren personenbezogenen Daten über die Scoober-App, die für die Abwicklung einer Lieferung nicht erforderlich sind: Nach einer Recherche des Bayerischen Rundfunks aus dem vergangenen Jahr werden pro Lieferung 39 Einzeldaten erhoben und verarbeitet.2 Dazu gehört neben Hinweisen zur verspäteten Ankunft in Restaurants oder bei Kunden insbesondere die permanente Erfassung der aktuellen Standorte der Fahrerinnen und Fahrer mittels GPS-Tracking. Sie erfolgt alle 15 bis 20 Sekunden. Die persönlichen Standortdaten erhält Lieferando.

Gläserne Lieferanten

Anhand dieser GPS-Daten lässt sich ein umfassendes Bild des individuellen Arbeitsverhaltens gewinnen: Wer zu schnell oder zu langsam für Lieferando unterwegs ist, wer von vorgegebenen Routen abweicht (vielleicht, weil sie oder er einen besseren oder schlicht sichereren Weg kennt, der vielleicht einen Umweg bedeutet), wer verkehrt durch Einbahnstraßen fährt – oder scheinbar grundlos Pausen einlegt. Die übermittelten GPS-Daten werden auch nach der Übergabe der Bestellung weiter aufbewahrt, ohne dass dafür eine Notwendigkeit bestünde. Es gibt Hinweise darauf, dass Lieferando innerhalb eines Jahres für Vollzeitkräfte mehr als 100.000 Einzeldaten gesammelt hat.3

Der Landesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationssicherheit in Baden-Württemberg, der eine Kurzprüfung der Scoober-App durchgeführt hat, stellt dazu kurz und bündig fest: „Die äußerst engmaschige Überwachung des Nutzers (Übermittlung des GPS-Standorts ca. alle 15 bis 20 Sekunden an Scoober) ist eine nicht erforderliche und damit rechtswidrige Beschäftigtenüberwachung (nach § 26 Abs. 1 BDSG und Art. 88 DS-GVO)“.4

Diese unzulässige GPS-Totalkontrolle der Fahrerinnen und Fahrer wäre schon Grund genug für den BigBrotherAward 2022 in der Kategorie Arbeitswelt. Wir verleihen den Preis an Lieferando aber auch deshalb, weil diese Software eine Reihe von Internet-Tracker mit personenbezogenen Daten versorgt. Dazu zählen:

  • Google Analytics

  • Google CrashLytics

  • Google Firebase Analytics

  • Google Tag Manager

  • Instabug und

  • Optimizely

Warum diese Weiterleitungen für die Durchführung einer Essenslieferung erforderlich sein sollen, wird den Beschäftigten nicht mitgeteilt. Der Datenschutzbeauftragte des Landes Baden-Württemberg hält dazu fest: „Das Nutzer-Tracking stellt sich mangels wirksamer Einwilligung und hinreichender Nutzerinformationen als rechtswidrig dar.“5

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Allein im finsteren Wald

Wenn sich Fahrerinnen und Fahrer vor dem Download der Software über die Verarbeitungen ihrer Daten durch die Scoober-App informieren wollen, finden sie in den App-Stores einen Link zu einer „Datenschutzerklärung“. Dieser Link führt zu einem englischsprachigen „Privacy Statement for Applicants“6, auf Deutsch wohl „Datenschutzerklärung für Bewerber“. Im Konfliktfall soll diese englische Fassung der verbindliche Text sein. Wer den Text liest, ohne über verhandlungssichere Kenntnisse des Rechtsenglisch zu verfügen, der fühlt sich bei der Lektüre schnell „allein im finsteren Wald“.

Unter der Überschrift „Welche Daten werden in der Scoober-App verarbeitet“ findet sich der Hinweis, dass dazu auch der „Live-GPS-Standort“ gehört. Als Rechtsgrundlage für die Erfassung der aktuellen Standorte wird aber lediglich Folgendes genannt: „The legal ground for this purpose is the performance of our contract with you.“ Will heißen: „die Erfüllung unseres Vertrags mit Ihnen“. Wenig später heißt es: „Motion data are processed via the App by default but will not be registered or used by us.“. Die Bewegungsdaten werden zwar standardmäßig über die App verarbeitet, aber nicht registriert oder verwendet? Nimmt man diese Aussage ernst, erfolgt die Verarbeitung der GPS-Daten weitgehend zweckfrei. So etwas nennt man auch „Vorratsdatenspeicherung“.

Die naheliegende Vorgabe, dass die Daten nach erfolgreicher Lieferung zu löschen seien, sucht man in der „Datenschutzerklärung“ vergebens.

Das Prinzip „Wünsch dir was“

Unbestimmt und formelhaft bleibt die „Datenschutzerklärung“ zum Thema „Tracking“. Sie beschränkt sich auf die Mitteilung, dass bei allen Verarbeitungen von Beschäftigtendaten Tracking-Technologien zum Einsatz kommen („All of our uses of your data make use of tracking technologies on your device.“). Eine datenschutzrechtliche Grundlage für diese Verarbeitung wird nicht benannt.

Die Zulässigkeit der über die Scoober-App stattfindenden „App-Analyse“ wiederum wird schlicht mit dem „berechtigten Interesse“ des Unternehmens begründet, das gegenüber den Fahrerinnen und Fahrer bestehen soll – „es sei denn, ihre Zustimmung ist nach geltendem Recht erforderlich“ („unless your consent is necessary according to the applicable law.“). Hierzu ein kleiner Tipp an Lieferando: Dem europäischen Datenschutzrecht liegt der Gedanke von „Verbotsgesetzen mit Erlaubnistatbeständen“ zugrunde – und nicht das Prinzip „Wünsch Dir was“. Wer das Vorliegen eigener „berechtigter Interessen“ geltend macht, der muss zudem vorher prüfen, ob diesen berechtigten Interessen überwiegende Interessen, Grundrechte und Grundfreiheiten der Betroffenen gegenüberstehen. Mit einer Einwilligung hat das nichts zu tun.

Pflichtübung in einfacher Sprache

In der DSGVO ist die Verpflichtung festgehalten, dass datenschutzrechtlich zwingend vorgegebene Informationen denjenigen, die davon betroffen sind, in „präziser, transparenter, verständlicher und leicht zugänglicher Form in einer klaren und einfachen Sprache“ zu übermitteln seien. Gegenüber Beschäftigten, deren Muttersprache nicht Englisch ist, wird die Verpflichtung zur Verwendung einer „einfachen Sprache“ schon durch eine englische „Datenschutzerklärung“ nicht erfüllt. Aber auch englischen Muttersprachlern erschließen sich die Inhalte aufgrund der vielen unbestimmten Rechtsbegriffe und offenen Formulierungen wie etwa „Erforderlichkeit“, „mit dem ursprünglichen Zweck vereinbar“, „gleichwertiges Schutzniveau“ im Zweifelsfall nicht.

Dazu kommt, dass Lieferdienste wie Lieferando in großer Zahl Menschen mit Migrationsgeschichte beschäftigen, die teils kein Englisch verstehen – oder auch Prekarisierte, deren Aufenthaltserlaubnis mit der ausgeübten Tätigkeit verknüpft ist. Die werden es sich gut überlegen, Datenschutzrechte geltend zu machen und damit ihren Aufenthalt in Deutschland zu riskieren.7

Permanente Überwachung geht gar nicht

Das Bundesarbeitsgericht sieht in dauerhaften Überwachungsmaßnahmen von Beschäftigten (im Regelfall) einen unzulässigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte.8 Das gilt insbesondere für die kurztaktige, dauerhafte Feststellung der Aufenthaltsorte. Diese Form der Totalkontrolle mit GSM/GPS-Transpondern ist nur in seltenen Ausnahmefällen erlaubt – etwa zur Absicherung von Geldtransportern, oder von Berufsfeuerwehrleuten während des Einsatzes in brennenden Gebäuden.

Bei Lieferando könnte die permanente Standortbestimmung der Fahrerinnen und Fahrer in diesem Sinne ausnahmsweise zulässig sein, wenn ein Kunde für seine Gäste eine größere Lieferung mit Gold beschichteter Steaks anfordert. Bei allen „Standardlieferungen“ ist und bleibt die Erhebung und Verarbeitung dieser Daten aus arbeitsrechtlicher Sicht unzulässig.

Daran würde auch eine Einwilligung der Beschäftigten nichts ändern, weil es große Zweifel an der dafür notwendigen Freiwilligkeit gäbe. Welche Essensfahrerin oder welcher Essensfahrer erklärt sich schon aus freien Stücken damit einverstanden, dass der Arbeitgeber immer genau den Aufenthaltsort, die Geschwindigkeit oder eventuelle Standzeiten erkennt?

Gesundheitsgefährdung

Die Live-GPS-Ortung gefährdet allerdings nicht nur das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der für Lieferando tätigen Fahrerinnen und Fahrer, sondern auch deren Gesundheit.

Dauerhafte und umfassende Kontrollen erhöhen den Druck auf Beschäftigte, besonders, wenn das Tempo der Erledigung von Aufträgen sich auf das Gehalt auswirkt. Dies führt zu einem erhöhten Unfallrisiko für Lieferfahrerinnen und -fahrer – auch bei Lieferando, wie ein Report illustriert, der am 1. April 2022 im „Magazin der Süddeutschen Zeitung“ erschienen ist, aber leider kein Aprilscherz war.

Dort wird ausführlich berichtet, dass Fahrerinnen und Fahrer erhöhte persönliche Risiken in Kauf nehmen, um innerhalb der vorgegebenen Zeitfenster zu liefern. Im SZ-Magazin wird bezogen auf Lieferando eine Zahl von 1135 Verletzten im Jahr 2021 genannt. Das hat Lieferando allerdings dementiert. Nach Mitteilung des Unternehmens handelte es sich tatsächlich „nur“ um 1081 Fälle.

Umso erschreckender, womit den Fahrerinnen und Fahrer in der „Datenschutzerklärung“ gedroht wird: „We really need your GPS location to provide you with App’s core services and turning this off means that the App cannot notify you of delivery opportunities, which will impact your ability to make money and may be contrary to the terms of your employment.“.

Individuelle Abschaltungen der Tracker über die Scoober-App können sich auf die Verdienstmöglichkeiten auswirken und verstoßen möglicherweise gegen die Bedingungen der Arbeitsverträge.

Wo führt das hin?

Bleibt nur zu hoffen, dass der BigBrotherAward 2022 dazu beiträgt, dass die zuständigen Datenschutzaufsichtsbehörden sich mit der Verarbeitung von Beschäftigtendaten mit der Scoober-App schnell befassen. Bestätigt sich dabei die Rechtsauffassung des Landesdatenschutzbeauftragten aus Baden-Württemberg, wird eine Geldbuße fällig, die wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein soll. Möglich werden bis zu 4% des konzernweiten Jahresumsatzes im Vorjahr fällig. Da der holländische Mutterkonzern von Lieferando im Jahr 2020 rund 2,4 Milliarden Euro Umsatz gemacht hat, könnten da am Schluss rund 96 Millionen Geldbuße auf der Rechnung stehen.9

In diesem Sinne sage ich „Herzlichen Glückwunsch Lieferando, Herzlichen Glückwunsch yd.yourdelivery GmbH und Takeway Express GmbH in Berlin und Herzlichen Glückwunsch auch in die Niederlande an die Just Eat Takeaway.com N.V zum BigBrotherAward 2022 in der Kategorie Arbeitswelt.

Jahr
Kategorie

Laudator.in

Prof. Dr. Peter Wedde am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Prof. Dr. Peter Wedde, Frankfurt University of Applied Science
Quellen:

1 Vgl. spiegel.de: Ausgeliefert – Arbeitsbedingungen bei Gorillas, Flink, Lieferando (Web-Archive-Link)

2 Vgl. https://www.tagesschau.de/investigativ/br-recherche/ueberwachung-lieferando-101.html vom 21.5.2021 [Inhalt nicht mehr verfügbar]

3 Vgl. ebenda.

4 Vgl. Kurzprüfung: Scoober-App (Version 2.7.0 | Android) des Landesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit des Landes Baden-Württemberg vom 26.3.2021, Seite 7.

5 Vgl. ebenda, Seite 7.

6 Scoober-App im deutschen Apple-App-Store (Web-Archive-Link) – dort ist https://www.thuisbezorgd.nl/en/courier/privacy als „Datenschutzerklärung“ verlinkt. Zitate aus der Datenschutzerklärung nach dem Stand vom 22. April 2022 (Web-Archive-Link)

7 Vgl. journalistico.com: Die Welt der Lieferdienste: Oben bestellt, unten bezahlt (Web-Archive-Link) und https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/lieferdienste-bringdienste-arbeitsbedingungen-bezahlung-101.html [Inhalt nicht mehr verfügbar]

8 Vgl. allgemein etwa Bundesarbeitsgericht vom 28.3.2019 – 8 AZR 421/17 und grundlegend zur Zulässigkeit von Überwachungsmaßnahmen vom 14.12.2004 – 1 ABR 34/03.

9 Vgl. https://www.tagesschau.de/investigativ/br-recherche/ueberwachung-lieferando-101.html vom 21.5.2021 [Inhalt nicht mehr verfügbar]

Über die BigBrotherAwards

Spannend, unterhaltsam und gut verständlich wird dieser Datenschutz-Negativpreis an Firmen, Organisationen und Politiker.innen verliehen. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und wurden deshalb von Le Monde „Oscars für Datenkraken“ genannt.

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BigBrotherAwards International

Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden fragwürdige Praktiken mit diesen Preisen ausgezeichnet.