Europa/EU (2008)

EU-Ministerrat

Der BigBrotherAward 2008 in der Kategorie „Europa/EU“ geht an den Rat der Europäischen Union (EU-Ministerrat) in Brüssel, vertreten durch Ratspräsident Bernard Kouchner/Generalsekretär Javier Solana. Der EU-Ministerrat erhält den BigBrotherAward für die von ihm verantwortete EU-Terrorliste.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)

Der BigBrotherAward 2008 in der Kategorie „Europa/EU“ geht an den Rat der Europäischen Union (EU-Ministerrat) in Brüssel, vertreten durch Ratspräsident Bernard Kouchner/Generalsekretär Javier Solana.

Der EU-Ministerrat erhält den BigBrotherAward für die von ihm verantwortete EU-Terrorliste. Darin werden zahlreiche Organisationen und Einzelpersonen als „terroristisch“ eingestuft und gravierenden Sanktionen unterworfen, die zu schweren Menschenrechtsverletzungen führen. Diese Datensammlung ist weder demokratisch legitimiert noch unterliegt sie einer demokratischen Kontrolle. Lange Zeit ist den Betroffenen noch nicht einmal rechtliches Gehör gewährt, geschweige denn Rechtsschutz gegen die amtliche Stigmatisierung zugestanden worden.

Als Reaktion auf die Anschläge vom 11.09.2001 erließ die EU eine Verordnung, nach der allen Mitgliedsstaaten, ihren öffentlichen und privaten Institutionen sowie allen Bewohnern untersagt wird, Terrorismusverdächtigen und deren Organisationen Gelder und sonstige Finanzmittel zur Verfügung zu stellen oder mit ihnen Geschäftskontakte zu knüpfen. Seitdem werden durch Beschlüsse des EU-Ministerrates Terrorverdächtige oder mutmaßliche Unterstützer in eine „Schwarze Liste“ aufgenommen, die immer wieder aktualisiert wird.

Die EU-Terrorliste wird von einem geheim tagenden Gremium des Ministerrates erstellt. Die Entscheidungen erfolgen im Konsens, wobei die für eine Listung vorgebrachten Verdachtsmomente und Indizien zumeist auf dubiosen Geheimdienstinformationen einzelner Mitgliedsstaaten beruhen. Eine unabhängige Beurteilung der Fälle auf Grundlage von gesicherten Beweisen findet jedenfalls nicht statt – weshalb der vom Europarat beauftragte Sonderermittler, Dick Marty, mit Entsetzen feststellt: Er habe selten „etwas so Ungerechtes erlebt, wie die Aufstellung dieser Listen“, deren Verfahren er als „pervers“ bezeichnet.

Hinsichtlich der verhängten Sanktionen spricht Marty von „ziviler Todesstrafe“ und schildert Ende 2007 in einem Bericht sehr anschaulich, was eine Aufnahme in die EU- oder auch in die UN-Terrorliste für Betroffene bislang bedeutete: Sie wurden nicht verständigt, sondern erfuhren davon, wenn sie etwa eine Grenze überschreiten oder über ihr Bankkonto verfügen wollten. Es gibt keine Anklage, keine offizielle Benachrichtigung, kein rechtliches Gehör, keine zeitliche Begrenzung und keine Rechtsmittel gegen diese Maßnahme. Wer einmal auf der Liste steht, hat kaum mehr eine Chance auf ein normales Leben. Er ist quasi vogelfrei, wird politisch geächtet, wirtschaftlich ruiniert und sozial isoliert. Das gesamte Vermögen wird eingefroren, alle Konten und Kreditkarten werden gesperrt, Barmittel beschlagnahmt, Arbeits- und Geschäftsverträge faktisch aufhoben; weder Arbeitsentgelt noch staatliche Sozialleistungen dürfen noch ausbezahlt werden; hinzu kommen Passentzug und Ausreisesperre sowie staatliche Überwachungs- und Fahndungsmaßnahmen.

Alle EU-Staaten, alle Banken, Geschäftspartner und Arbeitgeber, letztlich alle EU-Bürger sind rechtlich verpflichtet, die drastischen Sanktionen gegen die Betroffenen durchzusetzen, ansonsten machen sie sich strafbar. Um dies zu vermeiden, setzen zahlreiche Behörden und Unternehmen teure Spezialsoftware ein, um die personenbezogenen Daten ihrer Kunden, Lieferanten und ihres Personals mit der Terrorliste in der jeweils aktuellen Fassung abzugleichen.

EU-Sonderermittler Dick Marty hält das Listungsverfahren für höchst fehleranfällig: So reichten schon einfache Verdächtigungen aus oder es komme zu Namensverwechslungen, so dass auch völlig Unbeteiligte auf die Liste geraten können; in solchen Fällen müssen die Betroffenen unter widrigsten Umständen ihre Unschuld nachweisen.

Die EU greift mit ihrer Terrorliste im „Kampf gegen den Terror“ gewissermaßen selbst zu einem Terror-Instrument aus dem Arsenal des sogenannten Feindstrafrechts – eines menschenrechtswidrigen Sonderrechts gegen angebliche „Staatsfeinde“, die praktisch rechtlos gestellt und gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Ihre drakonische Bestrafung erfolgt vorsorglich und wird im rechtsfreien Raum exekutiert – ohne Gesetz und Urteil. Ein Serienkiller habe mehr Rechte, so Dick Marty, als ein Mensch, der auf einer Terrorliste steht. Das haben inzwischen auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates und der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof erkannt.

Trotz der systematischen Entrechtung der Gelisteten sind beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg einige Klagen von Betroffenen eingegangen. Und auch Urteile gibt es inzwischen, mit denen die Aufnahme bestimmter Personen und Organisationen auf die Terrorliste und das Einfrieren ihrer Gelder für rechtswidrig und nichtig erklärt werden. Ihr Anspruch auf rechtliches Gehör und effektive Verteidigung, so die Richter, sei grob missachtet worden.

Zwar sind die Betroffenen inzwischen pro forma angehört worden, doch konkrete Abhilfe geschaffen wurde nicht. Weder wurden sie aus der Liste gestrichen noch die eingefrorenen Mittel wieder frei gegeben oder die Sanktionen aufgehoben. Das heißt: Die Geheimgremien des EU-Ministerrats sind in ihrem nach wie vor undemokratischen Listungsverfahren – ohne Anflug von Unrechtsbewusstsein – stur bei ihren ursprünglichen Beurteilungen geblieben: Die Verfemten blieben also verfemt – mit allen freiheitsberaubenden Konsequenzen, unter Verstoß gegen die Unschuldsvermutung und die Europäische Menschenrechtskonvention. Und ohne Aussicht auf Entschädigung.

Herzlichen Glückwunsch, EU-Ministerrat, für diese anti-terroristische Meisterleistung.

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Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)

Über die BigBrotherAwards

Spannend, unterhaltsam und gut verständlich wird dieser Datenschutz-Negativpreis an Firmen, Organisationen und Politiker.innen verliehen. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und wurden deshalb von Le Monde „Oscars für Datenkraken“ genannt.

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Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden fragwürdige Praktiken mit diesen Preisen ausgezeichnet.