Politik (2006)

Bundesinnenministerkonferenz

In diesem Jahr wurden in der Kategorie Politik zwei Preise verliehen. Die Bundesinnenministerkonferenz erhält ihn für ihren Beschluss, eine zentrale Anti-Terror-Datei zu errichten, die auf elektronischem Wege zu einer „sicherheitspolitischen Wiedervereinigung“ von Polizei und Geheimdiensten führt. Fast 40 Sicherheitsbehörden von BND, MAD und Verfassungsschutz über Bundespolizei und Landeskriminalämter bis hin zum Zollkriminalamt sollen personenbezogene Daten von „Terrorverdächtigen“ und deren Kontaktpersonen einspeichern und darauf Zugriff erhalten. Mit dieser gemeinsamen Verdachtsdatei wird eine wichtige demokratische Lehre aus der deutschen Geschichte weitgehend entsorgt: die strikte Trennung von Polizei und Geheimdiensten, mit der eine unkontrollierbare Machtkonzentration der Sicherheitsapparate verhindert werden sollte.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)

Der Big Brother Award 2006 in der Kategorie "Politik" geht an die ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (Innenministerkonferenz), vertreten durch deren Vorsitzenden Günther Beckstein (CSU), Innenminister des Freistaates Bayern.

Die Innenministerkonferenz (IMK) erhält den Preis für ihren Beschluss vom 4. September 2006, eine gemeinsame Anti-Terror-Datei einzurichten, die von allen bundesdeutschen Polizeien und allen 19 Geheimdiensten des Bundes und der Länder bestückt und genutzt werden soll. Diese Vernetzung führt zu einer verstärkten Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten - unter Missachtung des Verfassungsgebots einer strikten Trennung dieser beiden Arten von Staatsschutzbehörden.

Die IMK hat damit den Weg freigemacht für eine fatale sicherheitspolitische Wiedervereinigung. Sie formulierte die Eckpunkte der Vernetzung, die inzwischen von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) in seinem Entwurf eines "Gemeinsame-Dateien-Gesetzes" weitgehend übernommen worden sind.1 Nachdem dieser Gesetzentwurf von der Bundesregierung am 20. September 2006 abgesegnet wurde, könnte jetzt nur noch der Bundestag das Projekt stoppen.
Die IMK begründete die Notwendigkeit einer zentralen Anti-Terror-Datei - ursprünglich als "Islamistendatei" geplant - nicht zuletzt mit den Anschlagsversuchen in Koblenz und Dortmund - wohl wissend, dass die beiden mutmaßlichen Täter vorher in keiner Weise auffällig geworden waren, weder geheimdienstlich noch polizeilich. Deshalb wären sie in einer solchen Datei überhaupt nicht erfasst worden.

Die IMK spricht von einer notwendigen "Verbesserung der Zusammenarbeit von Polizeien und Nachrichtendiensten gerade im Hinblick auf den Austausch von Daten über Terroristen". Diese Formulierung vertuscht, dass es sich nicht etwa um eine Datei rechtkräftig verurteilter Straftäter handeln soll, sondern im Kern um eine Präventivdatei mit Daten von Verdächtigen. "Tatsächliche Anhaltspunkte", was immer darunter zu verstehen sein mag, sollen für einen solchen Verdacht ausreichen. Aber auch die personenbezogenen Daten mutmaßlicher "Kontaktpersonen" von Verdächtigen sollen in der neuen Datei gespeichert werden. Gerade dies birgt die Gefahr, dass auch das soziale Umfeld der bloß Verdächtigen, also Familie, Kinder, Arbeitskollegen, Geschäftspartner, Anwälte, Vermieter, Sportsfreunde etc., systematisch in der Datei erfasst wird und dass auch Menschen in einen gravierenden Terrorverdacht geraten, die sich bislang nichts haben zu schulden kommen lassen. Die Erfassung in einer Terror-Datei wegen eines bloßen Verdachts ist extrem stigmatisierend.

Die Anti-Terror-Datei wird beim Bundeskriminalamt geführt. Eingabe- und zugriffsberechtigt sollen außerdem fast vierzig Sicherheitsbehörden sein: Bundespolizei (Ex-BGS), Zollkriminalamt, Bundesnachrichtendienst, Bundesamt für Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst, die Verfassungsschutzbehörden der Länder, die Landeskriminalämter; in begründeten Fällen auch andere Polizeidienststellen. Alle angeschlossenen Sicherheitsbehörden haben eine Einspeicherungspflicht - nur im Einzelfall kann diese aus Geheimhaltungs- oder Quellenschutzgründen ganz oder teilweise entfallen oder mithilfe verdeckter Speicherungen vor Zugriffen geschützt werden.

Die Anti-Terror-Datei soll als erweiterte Indexdatei ausgestaltet werden, genauer: als eine Kombination aus Index- und Volltextdatei. Das heißt: Die beteiligten Behörden können online unmittelbar erkennen, ob zu einer verdächtigen Person, Gruppe, Firma oder Stiftung bei einer anderen Behörde etwas vorliegt. Sie sehen dabei zunächst nur die Grunddaten, also Personalien des Verdächtigen und dessen Identifizierungsmerkmale (u.a. auch: "besondere körperliche Merkmale, Sprachen, Dialekte, Lichtbilder...") sowie die Fundstellen der Erkenntnisse und Vorgänge (= Index). In einem zweiten Schritt fordert die abfragende Stelle bei der entsprechenden Behörde die Freigabe eines erweiterten Datensatzes an, der in einem verdeckten Bereich der Datei gespeichert ist und der auch sensible personenbezogene Daten über Verdächtige und gewisse Kontaktpersonen enthält - wie etwa Telekommunikationskontakte und Bankverbindungen, Schul- und Berufsausbildung, Arbeitsstellen, Fahr- und Flugerlaubnisse, "terrorismusrelevante" Fähigkeiten, Aufenthaltsorte und Reisebewegungen, selbst Angaben über Volks- und Religionszugehörigkeit und womöglich bald auch sexuelle Auffälligkeiten, wie schon von SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz gefordert. Dieser Datenkatalog soll, so heißt es im IMK-Beschluss, "eine zuverlässige Gefährdungseinschätzung durch die Sicherheitsbehörden ermöglichen". Darüber hinaus sollen auch "besondere Bemerkungen, ergänzende Hinweise und Bewertungen" der beteiligten Behörden aufgenommen werden. Damit ist der Weg in Richtung einer Volltextdatei beschritten, die durch diese Öffnungsklausel jederzeit erweitert werden kann. Neben der ständigen Einrichtung der Anti-Terror-Datei sollen auch gemeinsame personenbezogene "Projektdateien" legalisiert werden, die von Polizeien oder Geheimdiensten anlassbezogen und bis zu vier Jahre lang angelegt und gemeinsam genutzt werden dürfen. Ob in all diese Dateien dann auch die giftigen "Früchte der Folter" Eingang finden? Hält es doch Bundesinnenminister Schäuble mit menschenrechtlichen Grundsätzen für vereinbar, dass deutsche Sicherheitsbehörden von unmenschlichen Haftbedingungen und Verhörsituationen in anderen Ländern profitieren, ja möglicherweise unter Folter zustande gekommene Geständnisse und Erkenntnisse für die Gefahrenabwehr verwenden.

Einsicht in den zunächst verdeckten Datenbereich der Anti-Terror-Datei sollen die anfragenden Behörden recht problemlos im Onlineverfahren bekommen, "soweit dies zur Erfüllung der jeweiligen Aufgaben zur Aufklärung oder Bekämpfung des internationalen Terrorismus erforderlich ist": Im Falle eines Treffers wird die Freigabe auf Nachfrage, so heißt es im IMK-Beschluss wörtlich, "umgehend erteilt" - das soll wohl heißen: vollautomatisch und ohne inhaltlich-rechtliche Prüfung des Einzelfalls. Im geplanten Gesetz ist die Rede von einer Entscheidung nach den geltenden Über­mittlungsregelungen. Das bedeutet, dass jede speichernde Stelle ein Ersuchen nach den für sie geltenden gesetzlichen Vorgaben zu beantworten hat. Der gewährte Zugriff erfolgt dann im Online-Verfahren. In Eilfällen, etwa zur Verhinderung eines unmittelbar drohenden terroristischen Anschlags, erfolgt der Zugriff dagegen ohne vorherige Freigabe - das Bundesinnenministerium spricht insoweit von einer sekundenschnellen Datenübertragung "auf Knopfdruck".

Mit der Anti-Terror-Datei können also alle Polizeien des Bundes und der Länder im vereinfachten Verfahren nicht gesicherte geheimdienstliche Vorfeldinformationen online nutzen und umgekehrt bekommen alle Geheimdienste hochsensible polizeiliche Verdachtsdaten.
Was ist nun so problematisch an einem gemeinsamen Datenpool? Eine solche Vernetzung bedeutet letzten Endes die Aufhebung des verfassungsmäßigen Gebots der Trennung von Polizei und Geheimdiensten - immerhin einer historisch bedeutsamen Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo der Nazizeit, die sowohl geheimdienstlich als auch exekutiv-vollziehend tätig war. Mit dem Trennungsgebot, das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes ableitet, sollte in Westdeutschland eine unkontrollierbare und damit undemokratische Machtkonzentration der Sicherheitsapparate und eine neue politische Geheimpolizei verhindert werden. Die negativen Erfahrungen mit der Stasi der ehemaligen DDR, die Geheimdienst und -polizei in einem war, untermauern diese ursprüngliche Intention.
Die nicht allein organisatorisch-funktional zu verstehende Trennung ist zwar in der Bundesrepublik im Laufe der Jahrzehnte längst durchlöchert worden, wird aber mit einem Online-Informationsaustausch zwischen Polizei und Geheimdiensten, wie ihn die IMK beschlossen hat, auf elektronischem Wege praktisch ausgehebelt. Die Gefahr besteht, dass Geheimdienste tendenziell zum verlängerten nachrichtendienstlichen Arm der Polizei mutieren und diese zum verlängerten Exekutiv-Arm der Geheimdienste. Eine behördeninterne Einzelfallprüfung bei der Datenübermittlung, wie sie bislang unter Berücksichtigung des Trennungsgebots und der informationellen Selbstbestimmung weitgehend üblich war, findet jedenfalls nur noch eingeschränkt statt. Eine effektive Kontrolle der Datenströme wird damit schier aussichtslos - auch wenn jeder Zugriff auf die Datei protokolliert werden soll und die Datenschutzbeauftragten datenschutzrechtliche Kontrollen durchführen können.
Wir haben es hier mit einer fatalen Strukturveränderung zu tun - oder anders ausgedrückt: mit dem Element einer neuen Sicherheitsarchitektur, mit der das Ziel verfolgt wird, staatliche Macht mehr und mehr zu entgrenzen. Dieser Umbau des liberal-demokratischen Rechtsstaats ist schon seit Längerem im Gange. Dabei geht es im Kern um zwei Tabubrüche, die auf dem Hintergrund deutscher Geschichte von besonderer Bedeutung sind. Zum einen: die schon erwähnte verstärkte Vernetzung und Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten. Für diese Entwicklung steht neben dem Projekt einer gemeinsamen Anti-Terror-Datei unter anderem auch das "Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum" in Berlin, in dem Polizei und Geheimdienste seit 2005 unmittelbar zusammenarbeiten. Zweiter Tabubruch: die Militarisierung der "Inneren Sicherheit", in deren Mittelpunkt der Einsatz der Bundeswehr als reguläre Sicherheitsreserve im Inland steht - obwohl Polizei und Militär hierzulande aus historischen Gründen sowie nach der Verfassung strikt zu trennen sind.

Die Anti-Terror-Datei ist darüber hinaus auf dem Hintergrund der seit dem 11.9. 2001 erlassenen Antiterror-Gesetze ("Otto-Kataloge", für die Ex-Bundesinnenmini­ster Otto Schily mit dem BigBrotherAward ausgezeichnet worden ist) zu sehen, mit denen Aufgaben und Befugnisse von Geheimdiensten und Polizei drastisch ausgeweitet wurden und die die Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft beträchtlich erhöht haben. Sie ist auch im Zusammenhang zu sehen mit dem geplanten "Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz", das die Große Koalition jüngst in den Bundestag eingebracht hat und mit dem die befristeten Antiterror-Befugnisse von 2002 nicht nur um weitere fünf Jahre verlängert, sondern auch noch ausgeweitet werden sollen - ohne zuvor eine unabhängige, kritische Bilanzierung der bisherigen Antiterrorgesetze und ihrer Wirkungen vorzulegen. Jetzt sollen alle Geheimdienste noch mehr Befugnisse bekommen und zwar nicht allein zur Terrorabwehr, sondern auch schon zur Aufklärung verfassungsfeindlicher Bestrebungen, die Gewalt fördern könnten. Aus geheimdienstlichen Antiterror-Instrumenten mit Ausnahmecharakter werden so Regelbefugnisse des Alltags.

Fazit: Mit einer Anti-Terror-Datei als Kernstück eines neuen Antiterror-Netzwerks wächst zumindest partiell zusammen, was nicht zusammen gehört, wird eine wichtige demokratische Lehre aus der deutschen Geschichte weitgehend entsorgt, werden rechtsstaatliche Begrenzungen letztlich einer grenzenlosen Prävention geopfert. Möglicherweise landet auch die Anti-Terror-Datei deswegen vor dem Bundesverfassungsgericht, das in den letzten Jahren schon mehrfach Gesetze und Maßnahmen für verfassungswidrig erklären musste - erinnert sei nur an den Großen Lauschangriff mit elektronischen Wanzen in und aus Wohnungen, an die präventive Telekommunikationsüberwachung, die Lizenz zum Abschuss eines gekaperten Passagierflugzeugs im Luftsicherheitsgesetz sowie an die exzessiven Rasterfahndungen nach sogenannten "Schläfern". Das Verfassungsbewusstsein in der politischen Klasse scheint im Zuge der Terrorismusbekämpfung jedenfalls immer mehr zu schwinden - strenggenommen ein Fall für den "Verfassungsschutz", wenn nicht sogar für eine Aufnahme in die Anti-Terror-Datei.
Der BigBrotherAward 2006 an die Innenminister des Bundes und der Länder wird von der Jury bewusst präventiv vergeben, also schon bevor ihr Beschluss in die Tat umgesetzt wird. Nun hat der Bundestag das letzte Wort, nur er könnte dieses Projekt noch stoppen. Wir betrachten diese Preisverleihung als Maßnahme der Gefahrenabwehr und der Arbeitsentlastung für das Bundesverfassungsgericht.

Herzlichen Glückwunsch, Herr Vorsitzender Beckstein, herzlichen Glückwunsch an die verantwortlichen Mitglieder der Innenministerkonferenz.

Jahr
Kategorie

Laudator.in

Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)
Quellen:

1 Demnach soll die Einrichtung der Datei über 15 Millionen Euro kosten und jährlich über 6 Millionen Euro laufende Kosten verursachen. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums ist ein erster Probebetrieb bereits für Ende des Jahres geplant; die Betriebsaufnahme soll im März 2007 erfolgen.

Über die BigBrotherAwards

Spannend, unterhaltsam und gut verständlich wird dieser Datenschutz-Negativpreis an Firmen, Organisationen und Politiker.innen verliehen. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und wurden deshalb von Le Monde „Oscars für Datenkraken“ genannt.

Ausgerichtet von (unter anderem):

BigBrother Awards International (Logo)

BigBrotherAwards International

Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden fragwürdige Praktiken mit diesen Preisen ausgezeichnet.