Der BigBrotherAward 2019 in der Kategorie Biotechnik geht an die Firma Ancestry.com mit ihrer Niederlassung in München, weil sie das Interesse an Familienforschung dazu ausnutzt, Menschen zur Abgabe von Speichelproben zu veranlassen.
Familienforschung – auch Ahnenforschung oder Genealogie genannt – ist ein relativ harmloses Hobby: Wer bin ich? Wo komme ich her? Mit wem bin ich verwandt? Diese Fragen wurden früher mit Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden, Familienstammbäumen und Kirchenbüchern beantwortet. Die Gentechnik eröffnet nun ganz neue Erkenntnismöglichkeiten, da die Analyse unserer Gene, unserer DNA, verrät, mit wem wir biologisch verwandt sind – bis zum 3. oder 4. Grad. Selbst die sogenannte biogeografische Herkunft unserer Urahnen, also die Frage, in welcher Region meine Familienmitglieder in vergangenen Generationen gelebt haben, lässt sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit genetisch bestimmen.
DNA ist die englische Abkürzung für Desoxyribonukleinsäure - deoxyribonucleic acid – die wissenschaftliche Bezeichnung für unser Genom, also die Gesamtheit unserer Erbanlagen. Die Erkenntnisse daraus sind verblüffend. Kein Wunder, dass viele Familienforschende ihren Speichel zur Untersuchung einsenden, um mehr über sich herauszubekommen.
Familienforschung als Hobby ist in den USA weit verbreitet. Viele Firmen bieten hierzu ihre Dienste an. Der Marktführer ist Ancestry.com mit angeblich derzeit mehr als 10 Millionen Kund.innen weltweit und 20 Milliarden weiteren Datensätzen und Urkunden, gefolgt von der Google-Gründung „23andMe“ mit 5 Millionen DNA-Analysen1.
Ancestry hat in München eine Niederlassung eingerichtet und drängte kurz vor Weihnachten 2018 massiv auf den deutschen Markt. Versprochen wird eine „Selbstentdeckungsreise“, „Erstaunliches über sich selbst“, ein „Schlüssel in die Vergangenheit“. Das Ganze für einen Einführungspreis von 79 €, heute 89 € incl. Mehrwertsteuer zuzüglich Versand. Ein Schnäppchen, denn immerhin hat im Jahr 2003 die erste Entschlüsselung des gesamten menschlichen Genoms mit seinen über 3 Milliarden Basenpaaren im Rahmen des Human Genome Projectes noch 3 Milliarden Euro gekostet. 2008 fielen die Kosten pro Genom auf eine Million Euro. 2011 war ein Next Generation Sequencing schon für 10.000 € zu haben. Ein Jahr später konnte erstmals das 1000-Euro-Genom mit der inzwischen verfügbaren Rechenpower und neuen Analysemethoden innerhalb weniger Stunden analysiert werden.
Das Angebot ist nicht nur „billig“, sondern auch einfach zu bekommen: Im Internet kann ich ein Ancestry-Konto einrichten und mir damit ein Testkit bestellen. Meine Speichelprobe wird an ein Labor geschickt; 6 bis 8 Wochen später kann ich im Internet über den Account die Ergebnisse abrufen. Toll!
Dass da alles mit guten Dingen zugeht, dafür verbürgten sich angeblich Ende 2018 auf der Internetseite von ancestry.com noch viele deutschsprachige „Partner“, etwa viele Landesarchive, die Deutsche Nationalbibliothek, das Deutsche Auswandererhaus, die Marineschule Mürwik, das Schweizerische Bundesarchiv oder der niedersächsische Landesverein für Familienkunde. Nur: Von uns auf ihre Partnerschaft angesprochen, hatten diese davon keine Ahnung. Schnell verschwand dann auch diese illegale Werbemethode.
Das Angebot sei, so heißt es auf der Internetseite, datenschutzkonform. (Zitat:) „Sicherheit und Datenschutz genießen bei Ancestry oberste Priorität“. Die Kunden blieben (Zitat) „Eigentümer ihrer Daten“. Die Daten sowie die Gewebeproben würden auf Anforderung der Betroffenen wieder gelöscht bzw. vernichtet. Eine Weitergabe an Dritte erfolge nicht – außer, soweit (Zitat) „gesetzlich erforderlich“ oder „Sie geben uns Ihre ausdrückliche Zustimmung“. Also alles paletti?
Der Haken liegt – wie so oft – im Kleingedruckten und ist im Falle von Ancestry in einem dichten Gestrüpp von Bestimmungen verborgen: einer 16seitigen Datenschutzerklärung2, elf Seiten Allgemeine Geschäftsbedingungen3 und siebeneinhalb Seiten Einwilligung in das Forschungsprojekt „Ancestry Human Diversity Project“4.
Mit dem Einsenden des Speichels erfolgt die Zustimmung zu den Datenschutzbestimmungen, wonach Ancestry selbst mit meinen Daten unbeschränkt über (Zitat) „Merkmale, persönliche Gesundheit und persönliches Wohlbefinden“ Forschung durchführen kann. Wird dem „Ancestry Human Diversity Project“ zugestimmt, so kommen „mitwirkende Partner“ ins Spiel. Die Partner befinden sich (Zitat) „in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern“. Dabei kann es sich um „akademische Einrichtungen sowie Non-Profit-Organisationen, gewinnorientierte Unternehmen und Regierungsbehörden“ handeln.
Wer in dieses „Ancestry Human Diversity Project“ einmal seine Einwilligung erteilt, gibt die Kontrolle über seine genetischen Daten aus der Hand und hat keinen Einfluss mehr darauf, wer was und wo damit forscht. Ca. 80% der Einsendenden geben gemäß Presseberichten bei 23anMe ihre DNA für „Forschungszwecke“ frei und machen weitere Angaben zu sich und ihrer Familie5. Bei Ancestry dürfte es ähnlich sein.
Damit nicht genug: Den Kunden als „Eigentümern ihrer Daten“ wird von Ancestry jegliche Auskunft verweigert über die sogenannte Forschung, über Methoden, Partner oder Rückschlüsse, die daraus gezogen werden. Was dahinter steckt, wird offenkundig, wenn man sich die junge, aufstrebende Branche der Gendatenkraken genauer ansieht. So schloss der Ancestry-Konkurrent 23andMe, der nur einen halb so großen Datenbestand hat, kürzlich mit dem Pharmakonzern GlaxoSmithKline über 300 Mio. US-Dollar einen Kooperationsvertrag zur Nutzung der Daten. Das Geschäftsmodell dieser Anbieter ist nicht die Ahnenforschung, sondern es geht um das ganz große Geld mit den Gendaten, mit insbesondere der Pharmaindustrie als Abnehmer.
Das Ganze ist also keine Win-Win-Geschichte, bei denen Kunden einfach für eine Dienstleistung bezahlen, die sie bestellt haben. Tatsächlich werden die Betroffenen abgezockt. Die Abzocke erinnert an Google, Facebook und Co. mit Internetdaten. Die Betroffenen erhalten außer spärlichen Auswertungsergebnissen keine Auskunft über die Nutzung ihrer Daten, geschweige denn, dass sie – als vermeintliche „Dateneigentümer“ – an den Gewinnen beteiligt würden. Im Gegenteil: Ihnen wird von Ancestry gar verboten, ihre eigenen Analyseergebnisse an Dritte weiterzugeben6.
Welche weiteren Begehrlichkeiten die Daten der Firma Ancestry wecken, ist 2018 aus den USA bekannt geworden. Menschen, die dort ihre DNA analysieren liessen, gerieten mitsamt ihren Familien ins Visier der Polizei, etwa weil sie mit dem so genannten „Golden State-Killer“ auch nur entfernt verwandt sind. Um den Täter zu ermitteln, wurde die gesamte Verwandtschaft von den Ermittlern ausgeforscht. Kein Wort bei Ancestry.über die potenzielle Strafverfolgung von biologischen Verwandten.
Ancestry erteilt deutschen Kunden vor der DNA-Analyse auch keine humangenetische Beratung, obwohl diese verpflichtend im deutschen Gendiagnostikgesetz vorgesehen ist. Die Firma prüft auch nicht, ob eine Person berechtigt ist, die eingesendeten Speichelproben untersuchen zu lassen. So könnte z.B. ein Vater DNA von sich und von seinen Kindern einsenden, um auf diesem Weg de facto einen Vaterschaftstest machen zu lassen. Ancestry klärt ihn weder darüber auf, dass er sich damit nach deutschem Recht strafbar macht, noch dass seine biologischen Verwandten ein „Recht auf Nichtwissen“ haben und welche gravierenden familiären Verwerfungen und psychischen Folgen so ein Schritt haben kann, etwa wenn per DNA-Test die Unehelichkeit eines Kindes herauskommt oder ein angeblich anonymer Samenspender plötzlich ans Tageslicht gezerrt wird.
Nichts gegen Genanalysen. Diese können für die Familienforschung, insbesondere aber für die Medizin eine wichtige Erkenntnisquelle sein. Doch sollten die Probengeber sich darüber im Klaren sein, was sie da tun. Anbieter wie Ancestry missbrauchen das Interesse an Familienforschung, um einen Genom-Schatz für die kommerzielle Forschung anzuhäufen, denn das ist ihr eigentliches Geschäftsmodell. Die Datenschutzrechte der Probengeber und ihrer Verwandten müssen respektiert werden. Die deutschen Datenschutz- und Aufklärungspflichten werden aber von Ancestry aus Profitinteresse bewusst ignoriert. Wir sehen hier einen Trend: Nach der Ausbeutung von Internetdaten wird die Ausbeutung von Gendaten das nächste ganz große Ding. Ancestry ist der Platzhirsch, der keine Datenschutz- oder Grundrechtsskrupel kennt.
Deshalb erhält Ancestry den BigBrotherAward 2019. Herzlichen Glückwunsch.
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Laudator.in
1 consumerreports.org: How to Delete Your Data From 23andMe, Ancestry, and Other Sites (Web-Archive-Link)
2 ancestry.de: Ihre Privatsphäre ist wichtig für Sie. Deshalb ist sie so wichtig für uns. (Web-Archive-Link)
3 Allgemeine Geschäftsbedingungen von Ancestry (Web-Archive-Link)
4 ancestry.de: Patienteninformation und Einwillungungserklärung für ANCESTRYDNA (Web-Archive-Link)
5 bbc.com: Who’s making money from your DNA? (Web-Archive-Link)
6 Allgemeine Geschäftsbedingungen von Ancestry, Punkt 2 (Web-Archive-Link)