Gesundheit & Soziales (2004)

Ulla Schmidt

Ministerin Ulla Schmidt erhält den BigBrotherAward in der Kategorie "Gesundheit und Soziales" für das GKV-Modernisierungsgesetz. Durch die versichertenbezogenen Datenverarbeitung kommt es zu einer massiven Verschlechterung des Datenschutzes für die Patient.innen. Diese datenschutzrechtlichen Risiken hätten durch die Verwendung moderner und datenschutzfreundlicher Technik einschließlich der Pseudonymisierung vermieden werden können. Diese Möglichkeiten sind von ihr nicht berücksichtigt worden.
Laudator.in:
Werner Hülsmann am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2004.
Werner Hülsmann, Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF)

Der BigBrotherAward 2004 in der Kategorie "Gesundheit und Soziales" geht an die Bundesministerin für Gesundheit und soziale Sicherung, Frau Ulla Schmidt, für das Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung GKV-Modernisierungsgesetz (GMG), das am 01. Januar 2004 in Kraft getreten ist.

Ministerin Ulla Schmidt erhält den BigBrotherAward in der Kategorie "Gesundheit und Soziales" für das GKV-Modernisierungsgesetz. Durch die versichertenbezogenen Datenverarbeitung kommt es zu einer massiven Verschlechterung des Datenschutzes für die Patienten. Diese datenschutzrechtlichen Risiken hätten durch die Verwendung moderner und datenschutzfreundlicher Technik einschließlich der Pseudonymisierung vermieden werden können. Diese Möglichkeiten sind von ihr nicht berücksichtigt worden.

In diesem Gesetz wird ein fundamentaler Richtungswechsel bei der Datenverarbeitung durch die Krankenkassen vorgenommen, der zu einer massiven Verschlechterung des Datenschutzes für die Patienten führt. Die Krankenkassen rechnen seitdem die Krankheitskosten nicht mehr anonymisiert und fallbezogen ab, sondern erhalten neben den Rechnungen von Apotheken und Krankenhäusern auch die von sämtlichen ambulanten Behandlungen übermittelt - und zwar personenbezogen! Damit entsteht bei den Krankenkassen ein lückenloses Krankheitsprofil von sämtlichen Mitgliedern.

Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder haben bereits im September 2003 vor folgenden Risiken und Nebenwirkungen gewarnt:

"Für das neue Vergütungssystem werden künftig auch die Abrechnungen der ambulanten Behandlungen mit versichertenbezogener Diagnose an die Krankenkassen übermittelt. Mit der vorgesehenen Neuregelung könnten die Krankenkassen rein tatsächlich umfassende und intime Kenntnisse über 60 Millionen Versicherte erhalten. Die Gefahr gläserner Patientinnen und Patienten rückt damit näher. Diese datenschutzrechtlichen Risiken hätten durch die Verwendung moderner und datenschutzfreundlicher Technologien einschließlich der Pseudonymisierung vermieden werden können. Leider sind diese Möglichkeiten überhaupt nicht berücksichtigt worden.

Ohne strenge Zweckbindungsregelungen könnten die Krankenkassen diese Daten nach den verschiedensten Gesichtspunkten auswerten (z.B. mit data-warehouse-systemen)."

Diese Warnung wurde in den Wind geschlagen, das Gesundheitsmodernisierungsgesetz wurde gemäß den Vorstellungen der Gesundheitsministerin verabschiedet.

Bislang wurde durch die Zwischenschaltung der Kassenärztlichen Vereinigungen bei der Abrechnung erreicht, dass die Kassen keine umfassende Kenntnis über die Krankheiten der einzelnen Mitglieder haben und welche Kosten diese verursachen. Dadurch sollte verhindert werden, dass die Kassen aus rein ökonomischen Gründen in die medizinische Behandlung eingreifen, z.B. durch Vergraulen von "teuren Patienten". Nun erhalten die Krankenkassen von ihren Mitgliedern ein umfassendes Behandlungs- und Medikationsprofil, mit dem sie in den Behandlungsprozess gegenüber Ärzten und Patienten manipulativ eingreifen können, z.B. indem sie die Bezahlung von Gesundheitskosten verweigern und verzögern. Dabei nutzen sie den überarbeiteten WHO-Diagnoseschlüssel, den sog. ICD-10. Dieser Krankheitsschlüssel deckt das gesamte Spektrum der medizinischen und psychologischen Diagnosen ab, ohne dass es darauf ankommt, ob diese Angaben für die Kassen zur Abrechnung nötig sind. Hierzu gehören auch sensible Informationen über die Persönlichkeit und die Lebensumstände der Patientinnen und Patienten, etwa, ob - neben tausenden anderen Kennzeichnungen - jemand ein "gesteigertes sexuelles Verlangen" (Code F52.7) hat oder dem "fetischistischem Transvestitimus" (Code F65.5) nachgeht. Solche Angaben sind für den Arzt oder die Ärztin für eine fachgerechte und umfassende Anamnese u.U. erforderlich. Die Krankenkassen geht dies aber nichts an. Das heißt: Die ärztliche Schweigepflicht wird de facto ausgehebelt.

Krankenkassen wollen ihre Risiken minimieren. Dafür brauchen sie möglichst individuelle Daten ihrer Versicherten, um teure Patienten herauszufiltern. Dieser Datenhunger wird unter dem verfälschenden Begriff "moderner Gesundheit" durch die Gesundheitsministerin immer mehr gefördert. So sorgte sie im Rahmen der Disease Management Programme dafür, dass die Kassen über chronisch Kranke besondere Dokumentationen zur Verfügung gestellt bekommen. Da die Kassen mit diesem umfangreichen Datenmaterial nicht selbst zurecht kommen, erlaubte sie unter Verletzung des Sozialgeheimnisses die Auswertung der sensiblen Daten durch private EDV-Dienstleister evtl. gar im Ausland mit einem niedrigen Datenschutzniveau. Die von der Gesundheitsministerin geplanten zentralen Datenbanken sollen dazu führen, dass den Versicherten jeweils ein "Morbiditätsfaktor" zugewiesen wird, mit dem die individuell in Zukunft erwarteten Krankheiten und damit deren Kosten eingestuft werden. Die Maßnahme ist unter dem Vorwand des Risikostrukturausgleichs zwischen den Kassen eingeführt worden. Diese Gesundheitstaxierung wird zwangsläufig dazu führen, dass eine - von der Zahlungsfähigkeit und der "Morbidität" abhängige - Mehrklassenmedizin eingeführt wird. Zugleich wird den Kassen das Recht eingeräumt, die Patienten in Gesundheitsfragen zu beraten, obwohl für die medizinische Unterstützung eigentlich ein gesonderter "Medizinischer Dienst" zuständig ist.

Vor diesem Hintergrund muss die für Anfang 2006 geplante Einführung der elektronischen Gesundheitskarte mit äußerster Skepsis gesehen werden. Zwar ist bisher noch nicht festgelegt, wer in welcher Form Zugriff auf die über diese Karte erschlossenen Gesundheitsdaten erhält. Doch steht die Gefahr im Raum, dass die Patienten hierüber faktisch gezwungen werden, ihre Behandlungsdaten in noch weiterem Maße auch dann zur Verfügung zu stellen, wenn sie dies nicht wollen. Eine elektronische Gesundheitskarte ist nur bei Einhaltung strenger Datenschutzvorschriften akzeptabel!

Das immer noch gültige Patienten- und das Sozialgeheimnis soll den Versicherten die Gewissheit geben, dass alles, was sie dem Arzt erzählen, vertraulich bleibt und nur für die Behandlung genutzt wird. Mit dem so genannten Gesundheitsmodernisierungsgesetz hat sich die Ministerin von diesem hippokratischen Ideal immer weiter entfernt.

Herzlichen Glückwunsch, Frau Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Falls Sie die Gesundheitskarte wie geplant einführen, halten Sie sich schon mal den 28. Oktober 2005 frei, da werden die nächsten BigBrotherAwards verliehen.

Jahr

Laudator.in

Werner Hülsmann am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2004.
Werner Hülsmann, Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF)

Über die BigBrotherAwards

Spannend, unterhaltsam und gut verständlich wird dieser Datenschutz-Negativpreis an Firmen, Organisationen und Politiker.innen verliehen. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und wurden deshalb von Le Monde „Oscars für Datenkraken“ genannt.

Ausgerichtet von (unter anderem):

BigBrother Awards International (Logo)

BigBrotherAwards International

Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden fragwürdige Praktiken mit diesen Preisen ausgezeichnet.