Verbraucher (2008)

16. Deutscher Bundestag

Ob zur See oder in der Luft: Der Bundestag hat mehrere Gesetze zur Erfassung von Reisenden durchgewunken. Dafür erhalten die Parlamentsmitglieder Mitglieder des 16. Deutschen Bundestages und ihr Präsident Dr. Norbert Lammert den BigBrotherAward 2008 in der Kategorie „Verbraucher“.
Laudator.in:
Alvar Freude am Redner.innenpult während der BigBrotherAwards 2008.
Alvar Freude, Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG)

Der BigBrotherAward 2008 in der Kategorie „Verbraucher“ geht an die Mitglieder des 16. Deutschen Bundestages, vertreten durch Dr. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages, für das Durchwinken mehrerer Gesetze, die eine Erhebung, langfristige Speicherung und Weitergabe von detaillierten Daten über Reisende erzwingen.

Reisende stehen heutzutage unter dauernder Überwachung. Man könnte denken, dass Reisen an sich schon als Terror- und Kriminalitätsverdacht ausreicht. Nicht nur die permanente Videoaufzeichnung auf Bahnhöfen und Flughäfen, in U-Bahnen und Bussen hinterlässt ein mulmiges Gefühl. Auch die – vorläufig vom Bundesverfassungsgericht gekippten – Ländergesetze zur Massenerfassung von Autokennzeichen müssen „unbescholtenen“ Bürgern zu denken geben. Selbst wer mit dem Zug reist, kann dies kaum tun, ohne in einer Datenbank zu landen. Dafür hat die Deutsche Bahn AG bereits letztes Jahr einen BigBrotherAward erhalten. Es gibt bald kein Fortbewegungsmittel mehr, das sich der konstanten Beobachtung entzieht. Und das Netz wird immer engmaschiger.

Wussten Sie zum Beispiel, dass künftig die Daten der Passagiere von Fähr- und Kreuzfahrtschiffen automatisch an die Schifffahrts-Behörden und an die Bundespolizei übermittelt, dort gespeichert und sogar an andere Behörden und Unternehmen weitergereicht werden? Ihr Ausflug auf die ostfriesischen Inseln wird also in Zukunft registriert.

Dies haben wir einem Gesetz zu verdanken, das am 24. Januar 2008 vom Bundestag mit nur wenigen Gegenstimmen von der Öffentlichkeit quasi unbemerkt durchgewunken1 wurde. Es hat den sperrigen Namen Gesetz zur Änderung seeverkehrsrechtlicher, verkehrsrechtlicher und anderer Vorschriften mit Bezug zum Seerecht2, was vielleicht darauf hindeutet, dass unsere Volksvertreter sich nicht so genau damit beschäftigt haben. Neu ist unter anderem der § 9e im Seeaufgabengesetz3, worin die über jeden Reisenden zu speichernden Daten aufgelistet werden – zur „Gefahrenabwehr“, versteht sich; darunter Name, Ausweisnummer sowie Abfahrts- und Ankunftshafen. Diese Daten dürfen an nicht näher spezifizierte „öffentliche Stellen“ übermittelt werden – außerdem, falls nötig, an Hafenbetriebe, Schiffsmeldestellen, Hafendienstleister und andere nichtöffentliche Stellen, sprich: private Firmen. Sogar der Transfer an „ausländische oder über- oder zwischenstaatliche öffentliche Stellen“ ist mit wenigen, schwammigen Ausnahmen erlaubt.

Wo die Daten überall landen, ist also kaum überschaubar. Und wie lange sie gespeichert werden, ist im Gesetz nicht definiert. Dort steht nur lapidar, dies würden Innen- und Verkehrsminister unter sich regeln: Der Blankoscheck zur unkontrollierten Speicherung und Verarbeitung der Schiffs-Reisedaten von jährlich 29 Millionen Passagieren.

Die Begründung für das Datensammeln klingt vertraut: laut Gesetzesbegründung sollen vermeintliche „Risikopersonen“ aufgespürt werden. Früher dienten Passagierdaten vor allem dem Zweck, bei einem Unglück feststellen zu können, wer an Bord war. Heute geht es darum, unerwünschte Personen im Vorfeld rauszufiltern – zum Preis eines weiteren Stückchens Anonymität und Privatsphäre aller Schiffsreisenden.

Soviel zur Schifffahrt. Doch in der Luft sieht es nicht besser aus: Am 15. November 2007 haben die Abgeordneten des Bundestages mit den Stimmen der Regierungskoalition einem Gesetz4 zugestimmt5, das das Flugdaten-Abkommen der EU mit den USA ratifiziert. Dieses Abkommen wurde im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft federführend von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ausgehandelt – einer altbekannten Datenkrake. Es regelt die Datenübergabe von Fluggesellschaften an das Heimatschutzministerium der USA. Dieses Abkommen ersetzt ein Vorgängerabkommen aus dem Jahre 2004, das vom Europäischen Gerichtshof wegen mangelnder Rechtsgrundlage gekippt6 worden war. Schade, möchte man im Nachhinein fast sagen, denn nun wurde das Datenschutzniveau noch weiter gesenkt. Die USA geben nun beispielsweise weniger Garantien gemäß europäischen Normen über eine Verwendung der Daten ab und speichern diese auch länger, nämlich 15 Jahre.

Es geht um die so genannten Passenger Name Records (PNR). Sie werden von den Fluggesellschaften bereits vor dem Flug an die US-Behörden übermittelt und nicht nur beim Zoll und Grenzschutz ausgewertet, sondern auch beim Heimatschutzministerium gespeichert. Diese PNR-Daten umfassen 19 Details: Neben Name, Anschrift und Kreditkartendaten kommen auch Informationen zu Hotelreservierungen, Sitzplatznummer und sogar spezielle Essenswünsche unter die Lupe. Selbst der Preis des Flugtickets und der Name des Sachbearbeiters im Reisebüro werden gespeichert – für 15 Jahre. Einmal auf dem Flug das falsche Menü gegessen, neben einem verdächtigen Passagier gesessen oder im falschen Reisebüro gebucht? Gespeichert – für 15 Jahre. Ein Auskunfts- und Klagerecht für betroffene Personen ist nicht vorgesehen.

Da fragt man sich: Warum interessieren sich US-Behörden für diese Details? Noch spannender ist aber die Frage: Warum haben die Mitglieder des Deutschen Bundestages mehrheitlich für eine derart umfangreiche Datenweitergabe gestimmt?

Die eigenen persönlichen Daten sind vielen Abgeordneten heilig, man denke nur an einige Reaktionen auf die Aufforderung zur Offenlegung der Nebeneinkünfte. Die Privatsphäre der Bürger dagegen scheint vielen nicht weiter schützenswert.

Übrigens: Sollten Sie sich nun dafür entscheiden, zum Schutze Ihrer Privatsphäre nicht oder nicht direkt in die USA zu fliegen, hilft Ihnen das auch nicht lange weiter. Die EU hat nämlich ähnliche Pläne für Flüge zwischen Nicht-EU-Staaten und Europa. Auch hier möchte man die sensiblen Daten jahrelang aufbewahren, zu welchem Zweck auch immer. Noch ist der Bundestag dagegen. Die Frage sei erlaubt: Wie lange noch?

Die nächsten Datensammel-Gesetze stehen an, deshalb: Denken Sie, liebe Bundestagsabgeordnete, einmal mehr über Ihre Entscheidung nach und heben Sie nicht leichtfertig die Hand.

Vorerst:

Herzlichen Glückwunsch zum BigBrotherAward, liebe Mitglieder des 16. Deutschen Bundestages!
Herzlichen Glückwunsch zum BigBrotherAward, Herr Dr. Lammert!

Jahr
Kategorie

Laudator.in

Alvar Freude am Redner.innenpult während der BigBrotherAwards 2008.
Alvar Freude, Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG)
Quellen:

1 Plenarprotokoll (16139)

2 Änderungsgesetz: https://www.bgblportal.de/BGBL/bgbl1f/bgbl108s0706.pdf und https://www.epd.de/medien/medien_index_37159.html [Inhalte nicht mehr verfügbar]

3 Vollständige Fassung des Seeaufgabengesetzes (Web-Archive-Link)

4 Gesetz zu dem Abkommen vom 26. Juli 2007 zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über die Verarbeitung von Fluggastdatensätzen (Passenger Name Records – PNR) und deren Übermittlung durch die Fluggesellschaften an das United States Department of Homeland Security (DHS) (PNR-Abkommen 2007)
https://frei.bundesgesetzblatt.de/pdf/bgbl2/bgbl207s1978.pdf und https://www.epd.de/medien/medien_index_37159.html [Inhalte nicht mehr verfügbar]

5 Plenarprotokoll (16126)

6 Pressemitteilung Nr. 46/06

Über die BigBrotherAwards

Spannend, unterhaltsam und gut verständlich wird dieser Datenschutz-Negativpreis an Firmen, Organisationen und Politiker.innen verliehen. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und wurden deshalb von Le Monde „Oscars für Datenkraken“ genannt.

Ausgerichtet von (unter anderem):

BigBrother Awards International (Logo)

BigBrotherAwards International

Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden fragwürdige Praktiken mit diesen Preisen ausgezeichnet.