Arbeitswelt (2011)

Daimler AG

Der BigBrotherAward 2011 in der Kategorie Arbeitswelt geht an die Daimler AG in Stuttgart für die Praxis, flächendeckend Bluttests von ihren Produktionsmitarbeitern zu fordern. Diese Form von modernem Vampirismus erfolgt ohne Rücksicht auf Persönlichkeitsrechte und meist ohne arbeitsrechtlich erforderlich zu sein. Ursprünglich hatte die Daimler AG diese Bluttests auch von ihren Verwaltungsmitarbeitern gefordert, das wurde allerdings inzwischen wieder eingestellt. Daimler erhält den Preis stellvertretend für mehrere weitere deutsche Unternehmen, die diese Bluttests fordern, weil der Autohersteller nicht die Bluttests für problematisch hält, sondern die aus dem Datenschutz folgenden Eingriffe in ärztliche Befugnisse.
Laudator.in:
Prof. Dr. Peter Wedde am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Prof. Dr. Peter Wedde, Frankfurt University of Applied Science

Der BigBrotherAward 2011 in der Kategorie „Arbeitswelt“ geht an die Daimler AG in Stuttgart (stellvertretend).

Die Daimler AG erhält den Preis stellvertretend für alle Unternehmen, die von allen Bewerberinnen und Bewerbern bei Einstellungsuntersuchungen Blutproben verlangen. Diese Form des modernen Vampirismus fand bei der Daimler AG bis Ende 2009 ohne Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte statt. Arbeitsrechtlich erforderlich waren die Blutproben in den meisten Fällen nicht.

Der Blutentnahme konnte kein Bewerber entgehen, der einen Arbeitsvertrag haben wollte. Zwar hätten die Bewerber gemäß Arbeits- und Datenschutzrecht einer Blutprobe freiwillig zustimmen müssen. Ein „Nein“ bedeutete aber im Ergebnis das Ende des Traums vom Job „bei Daimler“. Wie freiwillig ist also eine solche Zustimmung?

Auf die kritischen Berichte über dieses Verfahren hat die Daimler AG erwidert, dass die Blutentnahmen bereits seit langer Zeit und mit einem „guten Gewissen“ praktiziert wurden. Das Unternehmen sei der Auffassung, dass das Verfahren im Einklang mit dem geltenden Arbeitsrecht stünde. Der heftige Streit, den es unter Juristen zum Thema Bluttests schon seit einigen Jahren gab, war am Unternehmen offenkundig vorbei gegangen. Die Arbeitsrechtler im Konzern hatten wohl Anderes zu tun als sich um den Schutz der Grundrechte von Arbeitnehmern zu kümmern.

Überraschend ist, dass sich bei der Daimler AG zum Thema „Bluttests“ auch der Gesamtbetriebsrat an die Seite des Arbeitgebers gestellt hat. In einer Stellungnahme unmittelbar nach Bekanntwerden der Vorwürfe teilte die Sprecherin des Gesamtbetriebsrats, Silke Ernst, der Presse mit, dass Bluttests auf der Grundlage einer Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2004 zulässig seien. Mit Zustimmung des Betriebsrates wurde also seit 2004 allen neu eingestellten Beschäftigten im Verwaltungs- und Produktionsbereich unterschiedslos Blut abgenommen. Wir meinen: Der Schutz der Persönlichkeitsrechte von Beschäftigten sieht irgendwie anders aus!

Inzwischen hat die Daimler AG die flächendeckende Blutentnahme als Folge der kritischen Diskussion eingestellt. Weiterhin zur Ader gelassen werden aber Bewerberinnen und Bewerber, die im Produktionsbereich tätig werden wollen.

Der Daimler AG blieb wohl auch nichts anderes übrig als der teilweise Verzicht, nachdem die in Baden-Württemberg zuständige staatliche Datenschutzaufsichtsbehörde das gute Gewissen des Unternehmens durch eine kritische Bewertung belastet hatte. Die staatlichen Datenschützer stellten fest, dass die Bluttests in keinerlei Zusammenhang zur später auszuübenden Tätigkeit standen und damit unzulässig waren. Es ging also nicht darum, z.B. Arbeitsunfälle durch plötzliche Ohnmachtsanfälle zu vermeiden oder Kolleginnen und Kollegen vor ansteckenden Krankheiten zu schützen.

Die Daimler AG hat sich für die kritischen und konstruktiven Hinweise der Aufsichtsbehörde nicht etwa bedankt, wie es heute zum guten PR-Ton gehört. Nein, das Unternehmen hielt die geforderten Veränderungen vielmehr für sehr problematisch, weil Aufsichtsbehörde nach seiner Auffassung klar in die ärztlichen Befugnisse der Betriebsärzte eingreifen würde. So etwas nennt man heutzutage „beratungsresistent“.

Aufgrund der klaren Vorgaben der Datenschutzaufsicht muss die Daimler AG aber auf flächendeckende Bluttests derzeit verzichten.

Die Daimler AG steht mit ihren Bluttests in der deutschen Unternehmenslandschaft nicht allein da. Nach einer Untersuchung der Online-Ausgabe der Zeitung „Die Welt“ fanden zu Beginn des Jahres 2010 flächendeckende Bluttests beispielsweise auch bei der BASF, bei der DEUTSCHEN BÖRSE, bei K+S, bei Linde, bei der Salzgitter Stahl, bei ThyssenKrupp und bei zahlreichen Landesrundfunkanstalten der ARD statt.

Die „Dunkelziffer“ bei weiteren Unternehmen und Betrieben dürfte groß sein. Nur: Nach den kritischen Reaktionen in der öffentlichen Diskussion sprechen Arbeitgeber über das Thema nicht mehr so gern. Gleiches gilt für Urintests, mit denen Bewerber flächendeckend konfrontiert werden – die Urintests für Auszubildende wurden bereits 2002 mit einem BigBrotherAward für die Bayer AG angeprangert. Ziel ist und war hier insbesondere die Identifikation von Drogenkonsum.

Blut- wie Urintests greifen tief in das verfassungsmäßig geschützte Persönlichkeitsrecht von Bewerberinnen und Bewerbern ein. Den Unternehmen scheinen die Grundrechte von Bürgern, die sich bewerben, die also noch gar keine Geschäftsbeziehung zum Unternehmen eingegangen sind, und von ihren vertraglich bereits gebundenen Beschäftigten nicht sonderlich viel wert zu sein. Sonst würden sie die Test nur noch in wirklich klar erforderlichen Fällen durchführen.

Wie absurd flächendeckende Blut- und Urinproben von Bewerberinnen und Bewerbern sind, zeigt im Übrigen der Blick auf andere Geschäftsbereiche: Auch Vermieter oder Kreditabteilungen von Banken sind an gesunden und drogenfreien Vertragspartnern interessiert. Ebenso Autovermieter, Skiverleiher, Versandhändler usw. Wenn Arbeitgeber uns Blut abzapfen dürfen, warum dann nicht auch andere? Bleibt nur zu hoffen, dass diese Zeilen niemanden auf dumme Ideen bringen...

Das Vorgehen von Unternehmen wie der Daimler AG hat inzwischen den Gesetzgeber auf den Plan gerufen. Der Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Beschäftigtendatenschutzes vom 15.12.2010 wurde am 25. Februar 2011 in erster Lesung im Bundestag debattiert und an den zuständigen Ausschuss verwiesen. Mit diesem Gesetz sollen Beschäftigte künftig vor der unrechtmäßigen Erhebung und Verwendung ihrer personenbezogenen Daten geschützt werden.

Der Gesetzesentwurf widmet dem Thema „Gesundheitstests“ einen eigenen Paragraphen 32a. Wer nun aber gehofft hat, dass den Betriebsärzten die Kanüle wenigstens für flächendeckende Bluttests aus der Hand geschlagen wird, wird enttäuscht: Ärztliche Untersuchungen und damit auch Bluttests werden legitimiert, wenn bestimmte gesundheitliche Voraussetzungen eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung zum Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme“ darstellen“. Oder anders gesagt: Wenn Arbeitgeber weiter Bluttests durchführen wollen, müssen sie lediglich plausibel darlegen, dass bestimmte Krankheitsbilder im Betrieb aus objektiven bzw. sachlich zu vertretenden Gründen nicht gewollt sind. Entsprechendes gilt für Drogentests.

Die Daimler AG hat vielleicht einfach nur Pech gehabt. Wäre das neue Gesetz vor 1 ½ Jahren schon in Kraft gewesen, hätte sie die flächendeckende Blutentnahme problemlos fortführen können. Aber was ja nicht ist, kann ja noch werden.

Hungrige Vampire sollten übrigens schon einmal Bewerbungen an Firmen wie die Daimler AG schreiben. Irgendwo muss das viele Blut ja hin, das in Betrieben abgenommen wird.

Herzlichen Glückwunsch, Daimler AG.

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Laudator.in

Prof. Dr. Peter Wedde am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Prof. Dr. Peter Wedde, Frankfurt University of Applied Science

Über die BigBrotherAwards

Spannend, unterhaltsam und gut verständlich wird dieser Datenschutz-Negativpreis an Firmen, Organisationen und Politiker.innen verliehen. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und wurden deshalb von Le Monde „Oscars für Datenkraken“ genannt.

Ausgerichtet von (unter anderem):

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BigBrotherAwards International

Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden fragwürdige Praktiken mit diesen Preisen ausgezeichnet.