Diese Laudatio ist in der Kategorie „Was mich wirklich wütend macht“.
Bürokratie. Bürokratie nervt!
Bürokratie – was für eine Zumutung für uns intelligente, freiheitsliebende, unternehmungsfreudige und bis dahin sanftmütige Menschen!
Kaum wollen wir etwas unternehmen, stellt sich uns die Bürokratie in den Weg. Und packt ihr ganzes Arsenal an Hindernissen aus: Formulare, nie zuvor gehörte Paragraphen, unverständliche Formulierungen, Kleingedrucktes, Fristen.
Alle sind gegen Bürokratie. Jede und jeder kann dazu Geschichten erzählen. Mit kaum etwas ist es einfacher, Beifall zu bekommen, als mit dem Abhassen auf Bürokratie.
Aber wir sind ja nicht hier, um es uns einfach zu machen. Nein, dieser BigBrotherAward geht nicht an die Bürokratie. Der BigBrotherAward 2025 in der Kategorie „Was mich wirklich wütend macht“ geht an den
„Bürokratieabbau“
als Vorwand für etwas ganz anderes.
Ja, „Bürokratieabbau“ finden alle gut. Deshalb steht das Ziel „Bürokratieabbau“ im Programm quasi jeder Partei. Besonders engagiert beim Kampf gegen die Bürokratie sind Wirtschaftsunternehmen. Und ihre Vorfeldorganisationen wie die Lobbyisten von der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“1. Die kriegen sich gar nicht wieder ein vor Eifer. Zumindest solange, wie es um staatliche Bürokratie geht.
Aber ist Bürokratie ist wirklich per se eine staatliche Angelegenheit? Dann versuchen Sie mal, bei einem großen Konzern jemanden ans Telefon zu bekommen.
Sobald es um ein Problem geht, wenn Sie Service brauchen, eine Frage haben, eine Beschwerde loswerden, ein Abo kündigen, eine Reparatur oder eine Rückerstattung haben wollen, wird jeder sinnvolle Kontakt planvoll erschwert und Sie werden durch kunstvoll orchestrierte Ermüdungsparcours geschickt.
Um Amazon Prime oder Facebook zu kündigen, muss man sich durch komplizierte Navigationsmenüs durchklicken. Wo es Callcenter gibt, ist ihren Agenten oft explizit verboten, uns mit dem richtigen Sachbearbeiter zu verbinden2. Google hat vorsichtshalber für viele Dienste erst gar keine Kontaktmöglichkeit.
Was mich wirklich wütend macht: Diese Heuchelei! Denn was bitte ist das anderes als Bürokratie?
Wenn Wirtschaftsvertreter aber „Bürokratieabbau“ fordern, meinen sie in der Regel nicht, dass Bürger es einfacher haben sollen, sondern ihr Unternehmen. Sie selber wollen ungehemmt von Vorschriften und Gesetzen agieren. „Bürokratieabbau“ ist oft ein Vorwand – meist geht es um „Deregulierung“, den Abbau von Regeln.
„Deregulierung“ heißt im Klartext: Weg mit Verbraucherrechten, Datenschutz, Umweltschutz, Arbeitnehmerrechten, Pressefreiheit, Gesetzen für fairen Wettbewerb und anderem lästigen Kram. Big Tech will Freiheit nur für sich selbst. Und da geht ihnen die EU mächtig auf die Nerven, denn wenn man in Europa Business machen will, gibt es Regeln, die für alle gelten. Als da wären: Die europäische Datenschutzgrundverordnung, Digital Services Act, Digital Markets Act, AI Act und Data Act.
Das Narrativ mit dem Bürokratieabbau ist nicht neu. Aber neu ist die globale politische Situation, in der die Deregulierung jetzt durchgedrückt werden soll. Insbesondere können wir gerade live miterleben, wie in den USA ein Staatsstreich im Gange ist: Das Recht wird mit Füßen getreten, der Congress entmachtet, kompetente Menschen in Behörden werden durch gewissenlose Opportunisten ersetzt. Günstlingswirtschaft, offene Korruption, völlig unverhohlen – der Aufbau eines autoritären Mafia-Staates. Es ist atemberaubend, wie schnell die Silicon Valley Bosse sich mit vorauseilendem Gehorsam an den US-Präsidenten rangeschmissen haben und ihm huldigen. So wird für alle Welt sichtbar: Big Tech baut ab jetzt auf die Macht ihres Paten im Weißen Haus.
Diese Allianz aus Big Tech und einem mafiösen US-Präsidenten ist auch für uns brandgefährlich! Sie baut ein Imperium3 mit Zugriff auf Software, Plattformen und Informationsströme weltweit – kombiniert mit Chaos, Willkür und Erpressung. Das bedroht unseren Lebensnerv.
Zur Erinnerung: Die meisten Firmen und Behörden in Deutschland nutzen immer noch Microsoft, Google, Amazon und x andere digitale Dienste aus den USA. Damit setzen sie sich zum einen der Überwachung der US-Geheimdienste aus – denn jedes US-Unternehmen muss Daten von Nicht-US-Bürgern jederzeit an die Gehiemdienste weitergeben – FISA Act, Cloud Act und Patriot Act verpflichten sie dazu. Und zum zweiten riskieren sie, dass ihre technische Abhängigkeit in Sachen IT knallhart als politisches Druckmittel ausgenutzt wird. („Wäre doch schade, wenn Ihr Microsoft-Server ausfallen oder Ihren Daten in der Amazon-Cloud etwas zustoßen würde, oder?“). Dänemark traut sich derzeit nicht mehr, gegen Übergriffe wie US-Agenten in Grönland oder die willkürliche Schließung des Windkraftprojektes einer dänischen Firma in den USA zu protestieren. Denn Dänemarks Verwaltung ist voll durchdigitalisiert mit US-Software – und in Kopenhagen kann man sich mittlerweile alles vorstellen.4
Klar: Wer wie Big Tech sein Geschäftsmodell auf Werbung, Manipulation und Überwachung aufgebaut hat, findet Datenschutz natürlich lästig. Wer mit seinen Social Media Plattformen an der Verbreitung von Hass, Lügen und Falschinformationen verdient, weil die besonders viel Aufmerksamkeit und damit Werbekohle bringen, ist natürlich gegen den Digital Services Act, weil der eine Offenlegung der Algorithmen ermöglicht. Wer ein Monopol behalten und ausbeuten will, hasst den Digital Markets Act, denn dieses Gesetz fördert Wettbewerb und freie Märkte5. Diese Gesetze sind alles andere als perfekt, aber sie schaffen eine Rechtsgrundlage und schützen Verbraucher.innen und die europäische Wirtschaft vor Willkür und dem Recht des Stärkeren. Big Tech findet, dass genau das das Problem ist.
Ich übersetze das mal: US-Konzerne so: „Her mit allen persönlichen Daten! Ihr sollt keine Plattformen neben uns haben. All eure Daten, Lebensäußerungen und kreativen Werke, die wir irgendwo finden, sind herrenloses Strandgut und gehören jetzt uns. Unsere KI ist hungrig. Was wir damit machen, geht euch nix an. Widerstand ist zwecklos. Datenschutz ist Diebstahl am Konzerneigentum.“
Das ist Räuberei!6
Und wenn dabei Gerichte oder die EU Einhalt gebieten wollen, wie gerade bei dem Bußgeld für Google, dann tritt sofort der Pate aus dem Weißen Haus in Aktion, und droht wieder mit Strafzöllen. Das ist (versuchte) Erpressung.
Was tun bei Erpressung?
Der Ratschlag von Experten bei Polizei, Handelskammern und Detekteien an Betroffene von Erpressung ist sehr klar:
1. Nein sagen. Niemals zahlen. Wer sich auf Erpressung einlässt und zahlt, wird immer weiter erpresst werden.
2. Den Gegenstand der Erpressung unschädlich machen. Nehmen Sie dem Erpresser seinen Hebel.
Was heißt das für die EU?
1. Die Digital-Gesetze durchsetzen! Keine Ausnahmen für US-Konzerne machen.
2. Raus aus der Abhängigkeit, digitale Souveränität in Europa verwirklichen, die Zusammenarbeit mit Google, Amazon, Microsoft & Co. schnellstmöglich beenden.
„Digitale Souveränität“ wird seit Jahren immer wieder angekündigt. Aber nichts passiert! Das kotzt mich an!
Wir brauchen eine „Digitale Zeitenwende“7, schreibt IT-Sicherheitsexperte Manuel Atug, Gründer der AG Kritis (AG Kritische Infrastruktur). Zitat: „Von autoritären USA müssen wir annehmen, dass sie uns aktiv schaden wollen. (…) Die Erfahrungen der vergangenen Wochen lehren: Wir sollten vom Schlimmsten ausgehen. (…) Die technologische und informationelle Abhängigkeit von den USA war vorher nur ein theoretisches Sicherheitsrisiko. Nun ist sie real geworden.“
Und hat sich diese Erkenntnis jetzt auch bei der Bundesregierung durchgesetzt? Ich habe Zweifel. Der Digitalgipfel der Bundesregierung fällt dieses Jahr offenbar aus. Bei der gerade stattgefundenen Konferenz „Smart Country Convention“, ausgerichtet vom deutschen IT-Branchenverband Bitkom8, gab es einen Talk mit dem Titel „Deutschlands digitale Zeitenwende“. Das klingt doch vielversprechend. Aber jetzt raten Sie mal, wer diesen Talk gehalten hat? Eine Mitarbeiterin von Microsoft! Leute, so funktioniert das nicht mit der Unabhängigkeit!
Mafiapaten fordern Unterwerfung. Deshalb müssen seine Günstlinge ständig die lächerlichen Lügen des US-Präsidenten öffentlich wiederholen. Alle wissen, dass es Lügen sind. Wer diese öffentlich wiederholt, weiß, dass er sich mitschuldig macht. Wer seine Seele verkauft, verliert auch sein Rückgrat.
Was mich wirklich wütend macht: Die EU-Kommission, Ursula von der Leyen, Kanzler Merz und Co. machen sich mitschuldig, wenn sie sich an die Mafia im Weißen Haus anbiedern. Bei einem vertraulichen Treffen in Paris forderte US-Vizepräsident Vance offenbar die EU-Kommission auf, die europäischen Digitalgesetze für US-Konzerne auf Eis zu legen. Unklar, ob sie es tut, trotz aller Beteuerungen des Gegenteils. Wir verstehen ja, dass EU-Kommission und Bundesregierung in einer schwierigen Situation sind. Wir unterstellen ihnen keine Bösartigkeit. Aber wir sehen die Gefahr, dass sie gar nicht überblicken, was sie da tun und welchen Schaden sie anrichten. Möglicherweise glauben sie, sie könnten sich mit Deregulierung, also dem Außerkraftsetzen der Digitalgesetze von höheren Strafzöllen freikaufen. Können sie nicht. Denn das Einzige, auf was wir uns von Seiten USA verlassen können, ist die Willkür – jede Vereinbarung kann jederzeit wieder gebrochen werden.
Andere, die sonst nicht unbedingt unsere Crowd sind, haben es verstanden – quer durch die politischen Lager: Der NRW-Medienminister Liminski lehnt entschieden ab, dass die europäischen Digitalgesetze zur Verhandlungsmasse werden. Er sagt: „Wir dürfen uns in Deutschland nicht um Sandförmchen streiten, während die Big-Tech-Plattformen mit dem Bagger den ganzen Sandkasten abtragen.“ Der Deutsche Startup-Verband warnt vor den Folgen für innovative Firmen in Europa, wenn der Digital Markets Act nicht durchgesetzt wird. Die Wirtschaftswoche schreibt: „Für Europa lohnt es sich, standhaft zu bleiben: Big Tech braucht Europa. Mehrfach drohten US-Digitalkonzerne Features nicht nach Europa zu bringen – und ruderten zurück, weil der Markt zu wichtig ist. Das sollte die EU im Streit mit Trump nutzen.“
Tatsächlich könnte Europa viel selbstbewusster auftreten, denn Europa hat etwas Gewichtiges im Angebot: 450 Millionen Einwohner.innen und rund 23 Millionen Unternehmen – ein riesiger Markt, den sich weder die Tech-Konzerne noch die USA insgesamt entgehen lassen wollen.
Und wer auf diesem Markt Geschäfte machen will, muss sich an unsere europäischen Regeln halten. Punkt. Und zwar alle gleichermaßen, egal, wo die Firma ihren Sitz hat.9
Wir müssen verdammt nochmal Ernst machen mit der digitalen Souveränität! Bundesbehörden und alle wichtigen Institutionen, Schulen, Universitäten, Stadtwerke, Verbände und Firmen müssen schnellstmöglich weg von Microsoft, Google, Amazon etc. Die Umstellung der gesamten Infrastruktur wird vielleicht erstmal etwas ruckeln, aber hey: Wir schaffen das! Es gibt längst brauchbare Alternativen auf Basis freier Software. Gebt den Entwickler.innen öffentliche Aufträge, damit die Software weiterentwickelt werden kann und dem Allgemeinwohl dienen kann! Es gibt bereits Firmen und Genossenschaften, die unabhängige Plattformen und Service anbieten. Gebt ihnen Aufträge, damit sich weitere Investitionen lohnen. Wir haben Forschung, wir haben kreative Talente und wir haben innovative kleine Firmen, die sich etwas trauen. Und wir bevorzugen den Rechtsstaat vor Willkür und dem Recht des Stärkeren.
Herzlichen Glückwunsch zum BigBrotherAward, lieber „Bürokratieabbau“: Als Vorwand für Deregulierung hast du ab heute ausgedient.
Laudator.in

1 Mehr Info zu INSM bei Lobbycontrol: Die INSM und der Deckmantel „Bürokratieabbau“ https://www.lobbycontrol.de/aus-der-lobbywelt/die-insm-und-der-deckmantel-buerokratieabbau-116311/
2 Vgl The Atlantic, June 29, 2025, Ideas – That Dropped Call With Customer Service? It Was on Purpose. Endless wait times and excessive procedural fuss — it’s all part of a tactic called “sludge.” By Chris Colin https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2025/06/customer-service-sludge/683340/
3 Herfried Münkler: «Raum» im 21. Jahrhundert – Über geopolitische Umbrüche und Verwerfungen. 2015
4 Vgl Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 31.8.2025: Trumps Agenten, von Julian Staib.
Zitat: „Vor härterer Kritik schreckt Kopenhagen zurück. Zu groß ist die Sorge, dass Trump den Streit weiter eskaliert. Vielleicht ist er ja schon dabei. Kürzlich ordnete seine Regierung einen sofortigen Baustopp des fast fertigen Offshore-Windprojektes der dänischen Firma Ørsted vor Rhode Island an. Auch drohte er, Zölle von bis zu 250 Prozent für Medikamentenhersteller einzusetzen. Damit wäre Dänemarks starke Pharmabranche tot. Am größten aber ist in Kopenhagen die Sorge davor, dass Trump Amerikas Tech-Riesen für seinen Annexionsziele einspannt. Die könnten den Kommunikationsverkehr im durchdigitalisierten Dänemark nahezu lahmlegen. In Kopenhagen kann man sich jetzt alles vorstellen.“
5 „Competition is for losers“, Zitat Peter Thiel 2014 im Wallstreet Journal.
6 Illustration: Haiopeis: „Überfallerlaubnis und Räubereischein bitte!“ und Postkarte von Digitalcourage https://shop.digitalcourage.de/digitalcourage-postkarten-und-kalender/text-postkarten-002.html
7 golem.de, 11. April 2025: Cybersicherheit im Tech-Autoritarismus: Wir brauchen eine digitale Zeitenwende. Trump wird alles tun, um digitale Technik für Überwachung und Unterdrückung zu nutzen. Die Gefahr der Erpressung ist real, aber Europa kann sich wehren. Von Matthias Schulze, Manuel Atug
https://www.golem.de/news/cybersicherheit-im-tech-autoritarismus-wir-brauchen-eine-digitale-zeitenwende-2504-195221.html
8 Eine kleine Randbemerkung: Leider ist Bitkom mitnichten eine gute Interessenvertretung der innovativen deutschen IT-Unternehmen, denn Bitkom ist von großen US-Unternehmen unterwandert. Und lobbyiert seitdem gegen Datenschutz. Dafür hat Bitkom 2017 einen BigBrotherAward erhalten. https://bigbrotherawards.de/2017/it-branchenverband-bitkom
9 Das heißt „Marktortprinzip“. Das ist gerade keine Diskriminierung, sondern Gleichbehandlung.