Verwaltungsgericht Hannover und das Bundesarbeitsgericht

Der BigBrotherAward in der Kategorie Arbeitswelt 2025 geht an
das Verwaltungsgericht Hannover und das Bundesarbeitsgericht
für zwei krasse Fehlurteile in Verfahren gegen Amazon.
Diese Preisverleihung ist ein Novum: Zum ersten Mal in der 25-jährigen Geschichte der BigBrotherAwards werden Gerichte ausgezeichnet. Erstmals trifft es keine Datenkrake direkt, sondern diejenigen, die Datenkraken gewähren lassen, die sich ohne Not zum Gehilfen des US-Konzerns Amazon machen.
Ganz ehrlich: Wir würden hier lieber ein Loblied auf die Gerichte anstimmen. Gerichte sind aktuell – siehe USA – oft die letzte Bastion des demokratischen Widerstands gegen staatliche Willkür und autokratische Machenschaften.
Auch der Datenschutz hat Gerichten viel zu verdanken. In den 1980ern wurde er vom Bundesverfassungsgericht zum Grundrecht erklärt, viele Instanzen, auch der Europäische Gerichtshof, verteidigen ihn bis heute beharrlich.
Umso alarmierender ist es, wenn Gerichte sich plötzlich zum Sprachrohr eines US-Konzerns wie Amazon machen. Wenn sie beginnen, den Datenschutz und das Mitbestimmungsrecht wegzuargumentieren – in Urteilen, die sich lesen, als hätte Amazons PR-Abteilung sie verfasst.
Worum geht’s?
Das erste Verfahren führt uns nach Niedersachsen, nach Winsen an der Luhe. Amazon betreibt dort eines seiner 23 berüchtigten Logistikzentren, zuständig für die Abwicklung der Onlinebestellungen.
Diese „Fulfillment Center“ machen regelmäßig Negativ-Schlagzeilen. Überwachungsdruck gehört dort zum Betriebsalltag.1 Jeder Handgriff wird per Kamera oder Handscanner dokumentiert und protokolliert. Amazon misst, wie lange die Arbeiter.innen für eine Bestellung brauchen, wie viele Waren sie innerhalb einer Stunde tragen oder wie ihre Geschwindigkeit und Leistung im Vergleich zu anderen Personen ausfällt. Mitarbeiter*innen berichteten von einem „Klima der Angst und des Misstrauens.“2 Der Betriebsrat beschwerte sich 2017 über diese Praxis bei der zuständigen Landesdatenschutzbehörde.
Nach jahrelangem Hin und Her fällte die niedersächsische Datenschutzbeauftragte 2020 einen Beschluss gegen Amazon. Sie befand: mit dieser „ununterbrochenen Erhebung und Verwendung von Beschäftigtendaten“ greife Amazon auf „schwerwiegende Art und Weise in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ der Beschäftigten ein. Die Dauerkontrolle sei nicht erforderlich und unverhältnismäßig. Dies gelte besonders für die längerfristige Speicherung der Leistungsdaten sogenannter „Picker“ – also derjenigen Menschen, die die Waren aus den Hochregalen holen.
Amazon nutzt diese Leistungsdaten regelmäßig für personelle Maßnahmen. Für befristet Beschäftigte gilt: Wer nicht schnell genug arbeitet, bekommt keine Vertragsverlängerung. Das nennt sich intern „Release day“ – „Tag der Freisetzung“.3 Die übrigen Betroffenen müssen sich in eng getakten Feedbackgesprächen rechtfertigen.
Der US-Konzern zog gegen den Bescheid der Aufsichtsbehörde vor das Verwaltungsgericht Hannover, dessen 10. Kammer nahm sich des Falles an.
Verhandelt wurde allerdings nicht im Gerichtsgebäude –– wo man es erwarten dürfte –– sondern in den Geschäftsräumen von Amazon. Am Ort der Tat. Dass Beschäftigte hier als Zeugen kaum unbefangen aussagen können, spielte für das Gericht offenbar keine Rolle. Stellen Sie sich vor, der Prozess gegen ihren Peiniger würde in dessen Wohnzimmer verhandelt …
Am 2. Februar 2023 gab das Gericht der Klage Amazons statt. Auf 20 eng bedruckten Seiten folgte es jedem – wirklich jedem! – Argument des US-Konzerns: Alle detaillierten Daten der Picker würden von Amazon, Zitat: „vernünftigerweise benötigt, z.B. um Leistungsdefizite einzelner Beschäftigter sowie verstärkten Warenanfall in Echtzeit ausgleichen“ zu können. Die Speicherung der Daten sei ferner „für die permanente Qualifizierung der Mitarbeiter:innen erforderlich“ und daher „im Eigeninteresse“ der Beschäftigten. Das Gericht stellt fest: Der Anpassungs- und Leistungsdruck durch die dauernde Datenerfassung sei gar nicht „permanent“. Außerdem gebe es angesichts der vielen offenen Stellen im Logistikbereich ja genügend Alternativen zum Arbeitgeber Amazon.4
Die Datenschutzbeauftragte hat gegen dieses krasse Fehlurteil Berufung eingereicht.
Der zweite Fall ist nicht weniger gravierend: Er betrifft ein Verfahren gegen die Amazon Logistik GmbH in Bad Hersfeld. Übrigens: Ein BigBrotherAward-Preisträger von 2015.
In diesem aktuellen Fall weigerte sich der Betriebsrat, der Einführung einer Personalsoftware – mit dem sprechenden Namen „People Engine / New HCM [Human Capital Management]“ – zuzustimmen. Die Amazon-Konzernzentrale schreibt diese Software weltweit vor. Die Verarbeitung der Daten erfolgt wesentlich beim Konzern in den USA. Dagegen protestierte der Betriebsrat – mit dem berechtigten Argument, dass weder er noch andere deutsche Instanzen irgendeine Kontrolle über diese Datenverarbeitung in den USA haben. Deshalb sei sie unzulässig.
Was folgte, war ein kafkaesker Weg durch die Instanzen.
Zunächst wurde eine Einigungsstelle eingerichtet. Diese wies alle Bedenken des Betriebsrats zurück – mit den Stimmen des Vorsitzenden und der Arbeitgebervertreter. Der Betriebsrat zog daraufhin vor das Arbeitsgericht Fulda – und scheiterte erneut. Die Fuldaer Richter behaupteten, Betriebsvereinbarungen dienten nicht allgemein der Einhaltung des Datenschutzes.5 Entsprechend könnte die Einführung von „People Engine“ auch nicht mit Datenschutzargumenten untersagt werden.
In der Revision bestätigte das Landesarbeitsgericht Hessen die Ansichten der Fuldaer Richter.6 Es stellte auch gleich noch fest, dass der Gang vor das Bundesarbeitsgericht in dieser Sache unzulässig sei. Wogegen sich der Betriebsrat juristisch erfolgreich zur Wehr setzte. So landete der Fall doch noch vor dem 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts.
Jetzt hätte die Geschichte ein Happy End nehmen können: Der 1. Senat hätte sich nämlich an einem Urteil des Europäischen Gerichtshof vom Dezember 2024 orientierten können. Hier heißt es: „Bei einer mitbestimmungspflichtigen Personaldatenverarbeitung müssen die Regelungen der DSGVO umfassend beachtet werden.“7 Nichts anderes wollte der Betriebsrat.
Und eigentlich sind die Vorgaben des EuGH verbindlich für deutsche Gerichte. Das Bundesarbeitsgericht sah das anders, es teilte dem Betriebsrat im vergangenen August per Beschluss mit: Die Rechtsbeschwerde sei unzulässig, sie genüge nicht den Anforderungen. Zitat: „Von einer weiteren Begründung (…) wird abgesehen“.
An dieser Stelle könnten wir von einer weiteren Begründung für die Verleihung des BigBrotherAwards absehen. Doch es lohnt sich, die Konsequenzen des Urteils genauer zu betrachten. Es bedeutet:
- Arbeitgeber können sich bei Datenschutzverstößen auch in mitbestimmungspflichtigen Verfahren einfach stur stellen.
- Arbeitsgerichte können beim Datenschutz alle Augen zudrücken.
- Gerichte können Mitbestimmungsrechte kappen.
Weshalb die genannten Gerichte so urteilten, darüber lässt sich nur spekulieren.
Dass Beschäftigte bei diesem Thema überhaupt der Willkür von Richter.innen ausgeliefert sind, liegt auch an der Untätigkeit der Politik: Seit Jahren weigert sich der Gesetzgeber, verbindliche Vorgaben zum Beschäftigtendatenschutz zu erlassen. Aktuell auch die schwarz-rote Regierung. Die geltenden Regelungen zur Mitbestimmung stammen aus dem Jahr 1972, als es das Grundrecht auf Datenschutz in Deutschland noch nicht gab.
Das alles kann keine Entschuldigung dafür sein, dass sich das Verwaltungsgericht Hannover zum Gehilfen von Amazon macht, damit künftig nur noch Arbeiter.innen unbefristete Arbeitsverträge bekommen, die sich dem täglichen Hamsterrad ergeben.
Betriebsräte sind eine wichtige demokratische Instanz in unserer freiheitlichen Wirtschaftsordnung. Sie dienen dem Ausgleich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen. Wer, wie das Bundesarbeitsgericht im Amazon-Verfahren, die Axt an dieses Mitbestimmungsrecht setzt, der stellt eine Grundsäule unserer sozialen Wirtschaftsordnung in Frage.
Das darf nicht sein!
Herzlichen Glückwunsch dem 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts und der 10. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover – Ihnen gebührt der BigBrotherAward 2025 in der Kategorie Arbeitswelt.
Laudator.in

„CORRECTIV.Lokal“ und das „Hamburger Abendblatt“ haben mit Beschäftigten des Logistikzentrums in Winsen an der Luhe über genau diese Vorwürfe gesprochen. Eine Mitarbeiterin, die anonynm bleiben möchte, fühlt sich „wie in einem Gefängnis“ und kritisiert ein „Arbeitsklima der Angst und des Misstrauens“.
taz: „Arbeitsbedingungen bei Amazon – Fatale Überwachung“
https://taz.de/Arbeitsbedingungen-bei-Amazon/!5722884/
Amazon hat ein spezielles Vorgehen dafür, befristet angestellte Mitarbeiter*innen, die nicht so schnell arbeiten wie andere oder irgendwie negativ auffallen, loszuwerden. Es gibt feste Tage für solche indirekten Entlassungen, sie heißen „Release Days“ (auf deutsch: „Tag der Freilassung“).
https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-wie-amazon-seine-beschaftigten-kontrolliert-41311.htm
SWR Landesschau Baden-Württemberg: „Hinter den Kulissen von Amazon: Wie ist die Arbeit im Logistikzentrum?“ https://www.youtube.com/watch?v=JhMg-qBHGjk
1 https://taz.de/Arbeitsbedingungen-bei-Amazon/!5722884/
2 https://hamburg.t-online.de/region/hamburg/id_100121898/arbeitsbedingungen-bei-amazon-mitarbeiter-kritisieren-arbeitsklima-der-angst-.html
3 https://taz.de/Arbeitsbedingungen-bei-Amazon/!5722884/
4 VG Hannover v. 09.02.2023 – 10 A 6199/20.
5 ArbG Fulda B. v. 08.12.2023 - 1 BV 2/23.
6 LAG Hessen B. v. 05.12.2024 - 5 TaBV 4/24
7 EuGH U. v. 19.12.2024 – C-65/23.