Der BigBrotherAward 2008 in der Kategorie „Verbraucher“ geht an den Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute e.V. (ADM), vertreten durch seinen Vorsitzenden Herrn Hartmut Scheffler, stellvertretend auch für die Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftliche Institute e.V., den Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher e.V. und die Deutschen Gesellschaft für Online-Forschung e.V., für die Empfehlung in einer Telefon-Richtlinie, Telefoninterviews bei Bedarf ohne Kenntnis der Gesprächspartner heimlich mitzuhören und diese rechtswidrige Praxis auch nach Beanstandung durch die Datenschutz-Aufsichtsbehörde weiterhin zu propagieren.
Vielleicht erinnern Sie sich noch an Ihren Mathematikunterricht. Wenn man einen Beweis führen sollte und so gar nicht weiter wusste, pflegte mein Mathematiklehrer zu sagen: Schreiben Sie doch mal auf, was am Ende rauskommen soll – und dann schauen Sie, ob Sie rückwärts zur Grundannahme zurückfinden. So ergaben sich bisweilen auf umgekehrtem Wege logische Schlupflöcher für die Beweisführung.
Daran fühlte ich mich – in bizarrer Weise – erinnert, als ich die Empfehlungen des ADM an seine Mitglieder zur Durchführung von Telefon-Interviews in Händen hielt, die „Richtlinie für telefonische Befragungen“.
Der ADM ist die Standesorganisation der größten und umsatzstärksten Markt- und Sozialforschungsinstitute. Zu den erklärten Zielen des ADM gehört es, die Anonymität der Befragten zu schützen, Standards in der Zusammenarbeit mit den Auftraggebern von Marktforschung zu setzen und zur Entwicklung von Datenschutznormen in der Markt- und Sozialforschung beizutragen.
Die erwähnte ADM-Richtlinie für telefonische Befragungen beschreibt das korrekte Vorgehen bei telefonischen Interviews. Darin wird beispielsweise erläutert, wie die Privatsphäre der Angerufenen durch angemessene Verhaltensweisen zu schützen sei, so etwa durch die Wahl angemessener Tageszeiten oder die sofortige Beendigung des Telefonats, sollte der Angerufene das Interview ablehnen. Hier findet sich aber auch, wie Qualitätssicherung durchzuführen sei, und zwar mit mehr als eigenwilligen Mitteln: Dass das Mithören durch einen die Fachaufsicht führenden Kollegen möglich sein soll, kennt man allgemein aus dem Umfeld von CallCentern. Dass, wie vom ADM empfohlen, dem externen Auftraggeber einer Befragung das Mithören ermöglicht werden soll, macht einen schon stutzig. Dass dies alles dann möglich sein soll, ohne Interviewer oder Befragten darüber zu informieren, geschweige denn deren Einverständnis einzuholen, macht einen schlichtweg sprachlos.
Der ADM begründet das so: Das Interviewziel könne nur erreicht werden, wenn der Interviewer sich „normal“ verhalte. Deshalb sei es zulässig, ihm das zeitweise Mithören nicht anzuzeigen, zumal er über diese Praxis bereits bei Abschluss des Arbeitsvertrags informiert worden sei. Die Belange des Befragten würden ebenfalls nicht verletzt: er stimme schließlich als Teilnehmer einer wissenschaftlichen Auswertung durch das befragende Institut zu und könne daher ohnehin nicht von einem vertraulichen Gespräch ausgehen.
Man darf wohl annehmen, dass der ADM, da er sich nach eigenen Aussagen gar aktiv an der Entwicklung neuer Gesetze beteiligen will, zumindest die bestehenden Rechtnormen kennt. Ihm sollten also datenschutzrechtliche, strafrechtliche und arbeitsrechtliche Vorschriften vertraut sein, die Dritten das Mithören von Telefonaten nur dann erlauben, wenn beide Gesprächspartner dies wissen und darin eingewilligt haben. Sollten beim ADM noch Zweifel bezüglich der Gesetzesauslegung bestanden haben, so hat der Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit diese in klaren Worten beseitigt. Wie er in einer Presseerklärung erläutert, müssen in seinem Zuständigkeitsbereich Institute, die Telefonate heimlich mithören, mit Buß- und Zwangsgeldbescheiden rechnen. Spätestens danach konnte der ADM die Rechtslage eigentlich nicht mehr ignorieren und hätte seine Richtlinie ändern müssen.
Doch offensichtlich gehört der ADM nicht zu denen, die sich durch solche Kleinigkeiten bremsen lassen. Notfalls wird eben so lange umdefiniert, bis das eigene Tun zulässig erscheint. Bei diesem Vorgehen handelt es sich dann allerdings nicht mehr um das eingangs erwähnte konstruktive Prinzip des Rückwärts-Denkens, sondern nur um ein plattes Zurechtbiegen der Gesetzeslage.
Welche Beiträge zur Entwicklung von Rechtsnormen kann man von einem Verband erwarten, der bestehende Gesetze wissentlich falsch auslegt? Denn eine allgemein gehaltene Information im Arbeitsvertrag stellt keine datenschutzrechtlich wirksame Einwilligung des Interviewers zum Mithören dar, und die Bereitschaft des Angerufenen zum Telefoninterview begründet nicht den Verzicht auf die Vertraulichkeit des gesprochenen Wortes. Wenn dem so wäre, könnte man mit gleicher Argumentation annehmen, dass die Live-Übertragung des Interviews in eine Radiosendung zulässig wäre, solange keine unmittelbar identifizierenden Merkmale wie Name oder Adresse genannt werden. Diese Interpretation ist juristisch unhaltbar – und da sie mit Sicherheit nicht den Erwartungen der Beteiligten entspricht, ist sie zudem höchst unlauter. Weder kann ein Interviewer abschätzen, wann genau und wie lange er kontrolliert wird, noch rechnet der Befragte, dem Anonymität zugesichert wurde, mit weiteren heimlichen Mithörern, eventuell gar dem Auftraggeber selbst. Beide Gesprächspartner verlieren bei diesem Vorgehen die Kontrolle und den Überblick darüber, wem ihre Äußerungen letztlich bekannt werden.
Es sei an dieser Stelle auch an den Preisträger „Arbeitswelt“ des letzten Jahres erinnert. Novartis hatte bei einem Markt- und Sozialforschungsinstitut Befragungen der Mitarbeiter in Auftrag gegeben. Diese waren, durch die zugesagte Anonymität beruhigt, zu Äußerungen veranlasst worden, die sie später bereuten – als nämlich die angeblich anonymen Ergebnisse mit Namen versehen in der Personalabteilung auftauchten.
Selbst wenn der ADM es nicht wahrhaben will, so gelten doch auch für Markt- und Sozialforschung die zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte bestehenden gesetzlichen Vorschriften. Die Empfehlungen zum heimlichen Mithören müssen daher umgehend zurückgenommen und die Mitgliedsinstitute auf deren Rechtswidrigkeit hingewiesen werden. Verstöße sind, wie in Berlin bereits angekündigt, durch die Datenschutzaufsichtsbehörden zu sanktionieren.
Für die phantasievolle, aber dennoch datenschutzfeindliche Anwendung eines Prinzips mathematischer Beweisführung, Herr Scheffler – Herzlichen Glückwunsch zum BigBrotherAward!