Verbraucherschutz (2007)

Hotelketten

Der BigBrotherAward 2007 in der Kategorie „Verbraucherschutz“ geht an die internationalen Hotelketten in Deutschland – Marriott, Hyatt und Intercontinental (stellvertretend für viele weitere) – für die Erfassung und zentrale Speicherung äußerst persönlicher Daten ihrer Gäste ohne deren Wissen. Dazu gehören Trink- und Essgewohnheiten, Pay-TV-Nutzung, Allergien, alle privaten und beruflichen Kontaktadressen, Kreditkartendaten, Sonderwünsche und Beschwerden – alles wird festgehalten.
Laudator.in:
Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage

Der BigBrotherAward 2007 in der Kategorie „Verbraucherschutz“ geht an die internationalen Hotelketten Marriott, Hyatt und Intercontinental (stellvertretend für viele weitere) in Deutschland für das Sammeln und zentrale Speichern höchstpersönlicher Informationen über ihre Gäste ohne deren Wissen.

„Zweites Kissen genehm? Essen auf dem Zimmer gewünscht? Champagner geordert? Zweites Frühstück bestellt?“

Sie glauben, das Hotelpersonal liest Ihnen die Wünsche von den Augen ab? Falsch: Das Personal kennt all Ihre Details, Eigenheiten und Sonderwünsche zumeist nicht aus Intuition, sondern weil sie im Computersystem des Hotels gespeichert sind. Richtig staunen würden Sie, wenn Sie sähen, was da alles registriert wird.

Gespeichert werden unter anderem private und berufliche Kontaktadressen, Telefonnummern, Kreditkartendaten, Geburtsdatum, Nationalität, Passnummer, komplette Rechnungen, Pay-TV-Benutzung und Telefonate. Das Hotelpersonal wird dazu angehalten, weitere Details über seine Gäste im System zu notieren wie Familienkonstellation, Trink- und Essgewohnheiten, Allergien, Hobbys, Sonderwünsche, Beschwerden, Vorlieben und so weiter. Einmal erfasst, bleiben all diese Informationen auch nach der Abreise des Gastes gespeichert – und zwar auf unbestimmte Zeit. Dieses Vorgehen bewegt sich am Rande und zum Teil auch schon jenseits der Legalität1.

„Nichtraucher? Erdnussallergie? Zimmer nur im Erdgeschoss?“

Diese Informationen werden doch zum Besten der Gäste gesammelt, um ihnen den bestmöglichen Service bieten zu können!

Nicht so ganz. Jeden Gast wertzuschätzen und ihm oder ihr den bestmöglichen Service zu bieten, das ist die große alte Tradition der Gastlichkeit. Doch diese Tradition ist – zumindest bei den großen Hotelketten – passé. Hier gibt es statt des Gastlichkeitsversprechens nun „customer relationship management“2, kurz CRM – das effiziente Kundenbeziehungsmanagement. Wichtigster Punkt dabei: „Ranking and Discrimination“3. Es geht eben nicht darum, den besten Service für alle Gäste zu bieten. Denn einige Gäste sind mehr wert für das Business als andere, und in die muss investiert werden. Und um die lukrativen Gäste von den anderen unterscheiden und ihnen bessere Angebote machen zu können, müssen möglichst viele Daten gesammelt werden4.

Nahezu jede Hotelkette hat mittlerweile ein eigenes „Kundenbindungsprogramm“, in dem all diese Daten zentralisiert gespeichert werden – eine echte Goldgrube für Data-Miner.

Und wo all diese Informationen schon einmal vorhanden sind, könnten sich schnell weitere Interessenten dafür finden.

Wer auf dem Zimmer Pay-TV schaut, findet später natürlich nicht den „Angriff der Killertomaten“, „Blasmusik im Lederdirndl“ oder ähnlich Peinliches auf seiner Rechnung, sondern die Pay-TV-Nutzung wird diskret als „Hoteldienstleistungen“ oder etwas ähnlich Unverfängliches deklariert. Das Hotelsystem aber registriert den Kanal durchaus und weiß genau, ob die romantische Komödie, der Thriller oder ein Porno konsumiert wurde.

Viele Hotels sind direkt an externe Online-Buchungssysteme wie Amadeus oder Sabre5 angeschlossen. Auch dort werden Daten der Kunden gespeichert. Das Buchungssystem Amadeus wirbt mit einem extra zu zahlenden Service für Reisebüros, der es ermöglicht, die komplette Buchungshistorie samt Kundendetails und Hobbys mit einem Klick zu übernehmen. „Bereits existierende Kundeninformationen aus Amadeus Customer Profiles (Air / Car / Hotel) stehen jederzeit aktuell zur Verfügung. (...) Außerdem sind die Kundendaten lange Zeit aktiv – egal wie alt die letzte Buchung ist.“6

In Deutschland gibt es Meldezettel, die von jedem Gast ausgefüllt werden, aber beim Hotel verbleiben und nur im Bedarfsfall von den Behörden überprüft werden. In einigen europäischen Ländern, beispielsweise Frankreich, werden Daten aber schon aus den Hotels direkt an die Polizei übertragen. In der Hotelverwaltungssoftware Opera des Marktführers Micros Fidelio gibt es dafür ein automatisiertes „Police Interface“.

Möglicherweise interessiert sich aber nicht nur die lokale Polizei für diese Informationen über die Gäste, sondern auch ausländische Geheimdienste.

Die Daten der Gäste werden nämlich keineswegs nur – wie die Gäste annehmen – bei dem besuchten Hotel in Deutschland, sondern konzernweit auf zentralen Servern gespeichert. Und die wiederum befinden sich bei den größten Hotelketten – in den USA. Um den Datenschutz war es dort sowieso schon nicht gut bestellt. Nun gibt es in den USA seit 2001 auch noch den „USA PATRIOT Act“7. Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung erlaubt dieses Gesetz den Geheimdiensten Zugriff auf Daten der Wirtschaft, auch ohne richterlichen Beschluss.

„Kein Schweinefleisch? Internetanschluss? Auslandstelefonate nach Saudi Arabien vom Zimmer aus?“

Was glauben Sie, welche Schlüsse man daraus ziehen könnte?

Viele unangenehme Folgen für die Gäste sind denkbar. So wird Identitätsdiebstahl zum leichten Spiel, wenn detaillierte persönliche Informationen über Kunden gesammelt vorliegen. Und wenn diese Details erst in die Klatschpresse oder in die Hände der Konkurrenz gelangen oder gar für Erpressungen genutzt werden ...

Ende 2005 gingen bei der Hotelkette Marriott eine große Menge sensibler Daten aus einem Rechenzentrum in Orlando (Florida) verloren. Es handelte sich um Backup-Bänder mit Daten (inkl. Adressen und Kreditkartendaten) von über 200.000 Personen, die Mitglieder des Marriott Vacation Club waren8. Die Bänder tauchten nicht wieder auf, Marriott musste schließlich den Verlust melden und seine Kundinnen und Kunden benachrichtigen.

Doch skandalös ist nicht der spezielle Fall, sondern schon der Normalbetrieb der Datensammelei in Hotels: Denn die Gäste wissen nichts von all diesem Treiben.

Wir waren neugierig und haben einen Mitarbeiter des Hyatt gefragt, was passiert, wenn Gäste dem Hotel mitteilen, dass sie nicht wollen, dass all diese Informationen über sie gespeichert werden. Der Mitarbeiter musste überlegen und sagte dann, dass das nicht vorkäme. Denn die Gäste hätten ja keine Ahnung, was alles über sie gespeichert werde. Aber wenn doch? „Dann wird im Bemerkungsfeld eingetragen, dass der Gast gesagt hat, dass er das nicht will ...“

Da möchten wir mit Friedrich Schiller sagen:

Hier wendet sich der Gast mit Grausen. „So kann ich hier nicht ferner hausen.“9

Herzlichen Glückwunsch zum BigBrotherAward, liebe Hotelmanager von Marriott, Hyatt, Intercontinental und anderen!

Laudator.in

Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage
Quellen (nur eintragen sofern nicht via [fn] im Text vorhanden, s.u.)

1 Vgl. BDSG § 4 Abs. 3 und BDSG § 4b und c.

2 „Consider the Value of the Customer. Successful CRM is not about providing the best service on the block; rather, the key to effective relations with your customers is in providing appropriate service. We all know that customers are not equal.“ Zitat aus „Effective Customer Relationship Management (CRM) Implementations“. (Web-Archive-Link)

3 „Ranking and Discrimination: Some customers are worth more to your business than others and you need to invest more of your scarce resources in the most valuable customers, and less in the others. This strategy is perhaps the most difficult element of CRM for hoteliers to accept, but it is absolutely essential. While the grand tradition of hospitality is to value every guest and deliver outstanding service to all of them, in practice it simply isn’t possible.“ Zitat aus „The ABCs of CRM“ (Part 1 und Part 2) (Web-Archive-Links Part 1 und Part 2)

4 „In addition to being a frequency program driven by personalized communications, guest recognition and service (rather than points, points and more points), ByRequest captures a detailed set of reported preferences, augmented by analysis of observed behaviors.“ Zitat aus „The ABCs of CRM“

5 Sabre (Akronym für Semi-Automatic Business Research Environment) ist eines von vier bedeutenden Computerreservierungssystemen (CRS). Über ein Terminal angeschlossen, lassen sich die weltweite Verfügbarkeit von Flügen, Hotelbetten, Zugfahrkarten und anderer Dienstleistungen prüfen und Buchungen durchführen.

6 Vgl. Datenschutz Nachrichten 1/2007

7 „Uniting and Strengthening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism Act of 2001“

8 Siehe heise.de vom 29.12.2005: „Hotelkette Marriott vermisst Backup-Bänder mit umfangreichen Kundendaten“ (Web-Archive-Link), USA Today vom 28.12.2005: „Marriott timeshare unit says customer data is missing” (Web-Archive-Link) und Computerwoche vom 4.4.2006: „Secret Service gibt Suche nach verlorenen Daten auf“ (Web-Archive-Link)

9 Friedrich Schiller, Der Ring des Polykrates

Jahr
Kategorie
Verbraucherschutz (2006)

GDV

Den Preis in dieser Kategorie hat der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV) verdient – für die Warn- und Hinweisdateien der Versicherungswirtschaft, mit denen Versicherungen umfangreiche Daten von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern austauschen – nach geheimgehaltenen Kriterien, ohne ausreichende rechtliche Grundlage und ohne Wissen der Betroffenen.
Laudator.in:
Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage
Collage aus einen Wörterbucheintrag zum Wort "insurance" (linke Bildhälfte) und einer Familie betehend aus zwei Elternteilen und einem Baby (rechte Bildhälfte).

Der Big Brother Award 2006 in der Kategorie "Verbraucherschutz" geht an den Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV), vertreten durch seinen Präsidenten Dr. Bernhard Schareck, für die Warn- und Hinweisdateien der Versicherungswirtschaft, mit denen Versicherungen umfangreiche Daten von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern austauschen - nach geheimgehaltenen Kriterien, ohne ausreichende rechtliche Grundlage und ohne Wissen der Betroffenen.

Die im GDV organisierte Versicherungswirtschaft1 unterhält eine gemeinsame Warn- und Hinweisdatei namens "Uniwagnis", in der Versicherungsnehmer/innen, aber auch andere Personen ohne ihr Wissen gespeichert werden. Die Datei dient nach Aussage der GDV zur Aufdeckung von Versicherungsbetrug, tatsächlich ist sie eine schwarze Liste, in der alle Personen landen, die irgendeine angeschlossene Versicherung für ein "schlechtes Risiko" - also nicht so lukrative Kunden - hält.

"Nein, nicht jeder (landet in diesem Codepool). Voraussetzung dafür ist, dass man an einem Schaden beteiligt ist und der Versicherte im Verdacht steht, betrogen zu haben. Es muss aber nicht nachgewiesen werden, dass er ein Betrüger ist."

(Zitat der GDV im verbandseigenen Magazin "Positionen")

Etwa 10 Millionen Einträge hat die Uniwagnis-Datei. Wie kann das sein? Wie landet jemand in dieser Liste?

Nun, das geht schneller, als Sie denken: Nehmen wir mal an, Sie haben einen Auto-Unfall nachts auf einer Landstraße. Zum Glück hat den Unfall jemand beobachtet und bezeugt den Hergang auch gegenüber der Polizei. Nehmen wir weiterhin an, Sie sind Studentin und der Wagen ist nicht auf Sie selbst, sondern auf ihre Mutter oder auf die Freundin aus der Wohngemeinschaft angemeldet. Sie finden das alles vielleicht nicht verwerflich, aber jedes dieser Details erscheint Versicherungen verdächtig und bringt Ihnen Negativpunkte auf einer geheimen Skala des versicherungseigenen Scoring-Systems. Sobald Sie 60 Punkte überschritten haben - egal aus welchen Gründen - gelten Sie bei Ihrer Kfz-Haftpflicht plötzlich als "verdächtige Kundin" und landen in der Warndatei der GDV. Und weil Sie als verdächtig eingestuft werden, gilt das Gleiche auch für alle an Ihrem Unfall Beteiligten: die Halterin des Fahrzeugs, der freundliche Zeuge und der Sachverständige, der Ihren Schaden begutachtet hat.

Aber die Warndatei tritt nicht nur im Schadensfall in Aktion, sondern auch jedes Mal, wenn jemand eine neue Versicherung abschließen will - z.B. Rechtsschutz-, Lebens- oder Berufsunfähigkeitsversicherung. Sobald bei einem der angeschlossenen Unternehmen ein neuer Versicherungsantrag eingegeben wird, läuft "Uniwagnis" über eine Schnittstelle im Hintergrund mit. Die Eingaben ins System werden automatisch an den GDV weitergemeldet. Und das auch, wenn die Kunden sich erst einmal nur nach den Konditionen erkundigen wollen und der Datenweitergabe sogar explizit widersprochen haben2.

Wenn Uniwagnis einen Treffer findet, wenn also die neu eingegebenen Personalien mit einem bereits vorhandenen Datensatz übereinstimmen, wird dieser Datensatz angezeigt. In der Theorie soll dann die Sachbearbeiterin der abfragenden Versicherung telefonisch bei der Versicherung, die die Daten eingetragen hat, wegen der Details anfragen. Tatsächlich reicht in der Praxis die Existenz des passenden Datensatzes, um dem Betroffenen eine gesonderte Behandlung zu bescheren. Eine Stigmatisierung mit Folgen: Ein Eintrag in der Warndatei kann zum Beispiel dazu führen, dass der Betroffene erhöhte Prämien zahlen muss oder keine Versicherung mehr erhält.

Ein Beispiel: Bei Rechtsschutzversicherungen sind oft zwei Schadensfälle innerhalb eines Jahres Grund zur Kündigung. Für die Kündigung einer Rechtschutzversicherung reicht es aber auch schon, drei Mal in drei Jahren angefragt zu haben, ob die Versicherung einspringen würde - unabhängig davon, ob die Versicherung tatsächlich in Anspruch genommen wurde oder gar zahlen musste. Wer also von streitfreudigen Nachbarn oder Vermietern in Rechtstreitigkeiten verwickelt wird und bei entsprechenden Schreiben drei Mal in 36 Monaten vorsichtshalber die Rechtschutzversicherung anfragt (ohne sie in Anspruch zu nehmen!), kann gekündigt und in Uniwagnis gemeldet werden. Die Folge: Alle Rechtsschutzversicherungen wissen davon und werden diese Person künftig gar nicht oder nur gegen eine entsprechend hohe Prämie versichern. Wer also von einer Versicherung nur ansatzweise das verlangt, für das sie abgeschlossen wird, nämlich im Schadensfall evtl. in Anspruch genommen zu werden, findet sich - ohne es zu wissen - in einer Datei zur "Betrugsbekämpfung" wieder.

Alle zwei bis drei Wochen erhält jede Versicherung über den GDV den Gesamtbestand aller eingemeldeten Daten zu mehreren Millionen Personen. Diese Datenübermittlung passiert völlig unabhängig davon, ob die Versicherung tatsächlich ein berechtigtes Interesse hat. Hier findet also eine so genannte Vorratsübermittlung statt - und die ist nach BDSG schlicht illegal.

Der GDV meint, es ginge alles mit rechten Dingen zu: Die Kunden hätten der Datenweitergabe doch zugestimmt, das unterschreiben sie nämlich bei ihrem Versicherungsantrag. Aber wissen die Kunden eigentlich, was sie da unterschreiben? Denn die Erläuterung der Datenweitergabe steht nicht im Vertrag, sondern in einem gesonderten Merkblatt. Das "Merkblatt zur Datenverarbeitung" umfasst 4 Seiten Kleingedrucktes. Und oft bekommen die Kunden das Merkblatt nicht mal vor ihrer Unterschrift zu sehen - geschweige denn kompetent erläutert, was welcher Punkt für sie bedeutet -, sondern erhalten es erst später zusammen mit dem Versicherungsschein. Dieselben Versicherungen, die bei Kritik an ihren Geschäftspraktiken immer antworten, die Versicherten hätten eben die Vertragsbedingungen nicht aufmerksam gelesen, enthalten den vorsorgewilligen Verbrauchern harte Fakten geradezu vor. Den Kunden wird bewusst der Eindruck vermittelt, es handele sich bei der Zustimmung zur Datenweitergabe nur um eine Formalität. Und die Kunden glauben das gern, denn im Moment des Versicherungsabschlusses stehen andere Dinge im Mittelpunkt ihrer Überlegungen.

Jede und jeder, der oder die in die Warndatei gemeldet wird, müsste eigentlich zuvor von der Versicherung benachrichtigt werden und Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Und das gilt nicht nur für die Versicherungskunden selbst, sondern erst recht für alle weiteren Personen wie z.B. Fahrzeughalterinnen, Zeugen und Gutachter, die ja niemals einen Vertrag mit der Versicherung unterschrieben haben. Doch die Versicherungen benachrichtigen niemanden über die Datenweitergabe, denn das würde ein schlechtes Image und viele Beschwerden produzieren. Und Beschwerdemanagement ist teuer. So wird fleißig gespeichert, ohne jede Transparenz.

"Wer wissen möchte, ob sein Name in einer der 'Warndateien' der Versicherungsbranche steht, nimmt sich am besten ein paar Tage frei..." schreibt Finanztest3.Den Kunden bleibt nämlich nichts anderes übrig, als die einzelnen Versicherer zu fragen, ob die sie beim GDV gemeldet haben - die jeweiligen Unternehmen sind auskunftspflichtig. Beim GDV erhalten die Bürger/innen keine Auskunft - der hält sich für nicht zuständig. Zum einen sieht der GDV sich nur als Auftragnehmer der Versicherungen (nach § 11 BDSG), zum anderen verweist er darauf, dass die Daten codiert würden und behauptet, dass sie damit nicht mehr personenbezogen oder -beziehbar seien.

Codierung nach Art des GDV bedeutet: Wer "Petra Meier" + "Hamburg" eingibt, erhält alle gleich lautenden Namen (Petra Mayer, Petra Meyer, Petra Meier etc.) in Hamburg mit Anschriften, ggf. Geburtsdatum, ggf. Meldegrund und Kontakt-Telefonnummer der meldenden Versicherung. Über die Anschrift oder das Geburtsdatum kann dann ohne zusätzliche Informationen der Personenbezug hergestellt werden. Falls noch erforderlich, können mit einem Anruf bei der Versicherung weitere Daten ohne Wissen der Betroffenen erhoben werden. Die Daten sind also weder - wie vom GDV behauptet - anonym noch pseudonym. Sie sind für alle Beteiligten personenbeziehbar und damit personenbezogen. Nicht einmal Abfragen aus reiner Neugier oder Anfragen für Werbe- und Marketingmaßnahmen sind wirksam ausgeschlossen.

An Juristen, die gerne für den GDV - z.T. hanebüchene - Rechtfertigungen für die Praktiken der Versicherer verfassen, scheint kein Mangel zu sein. So argumentiert ein von der GDV beauftragter Juraprofessor in einem Rechtsgutachten4, dass ein "berechtigtes Interesse" an der Datenweitergabe für den jeweiligen Einzelfall gar nicht nachgewiesen werden müsse, da die Versicherungen an der Existenz der Warndatei an sich Interesse hätten. Und er vertritt allen Ernstes die Auffassung, dass es zur Information der Kundinnen ausreiche, wenn das "Merkblatt zur Datenverarbeitung" beim Versicherungsagenten vorliegen würde und der Kunde dort "Einsicht nehmen könnte".

Ein Rechtsgutachten5 im Auftrag der Verbraucherschützer vom vzbv6 stellt dagegen klar, dass die derzeit übliche Einwilligungserklärung zur Datenweitergabe wegen schwerer rechtlicher Mängel7 unwirksam ist. Denn die Zustimmung der Verbraucher/innen zur Datenweitergabe ist weder "bewusst" noch "informiert", wie es vom Gesetz gefordert wird. Die Kunden sind weder über den Inhalt noch die möglichen Folgen der Meldung informiert, noch haben sie eine Alternative, sich anders zu entscheiden. Denn wer nicht zustimmt, erhält "unter Umständen" keine Versicherung.

Die Warn- und Hinweisdateien dienen nicht - wie immer behauptet - nur zum Dingfest-Machen von Versicherungsbetrügern, sondern ermöglichen ein Preiskartell der Versicherungen. Es geht den Versicherern erkennbar darum, sogenannte "schlechte Risiken" herauszufiltern und entweder gar nicht oder nur gegen einen Beitragsaufschlag zu versichern. Die Versicherer verwenden so die Warn- und Hinweisdateien als Marktinformationsverfahren und beschränken damit illegal den Wettbewerb8. - zum Nachteil der Verbraucher/innen: Das ist nicht nur ein Fall für den Datenschutz, sondern auch für das Bundeskartellamt.

Warum schaffen es die Versicherungen immer wieder, ihre Positionen so erfolgreich in Politik und Gesetzgebung durchzudrücken? "Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) und der Verband der Privaten Krankenversicherungen (PKV) agieren weniger in der Öffentlichkeit, aber um so aktiver hinter den Kulissen. Da Versicherungsriesen wie etwa die Allianz AG zu den wirtschaftlichen Schwergewichten im Land zählen, findet die Branche in jeder Partei Gehör." schreibt die Tageszeitung "Die Welt". Der Einfluss der Versicherungslobby ist groß. Da stammen schon mal Bundestagsreden oder sogar Gesetzesvorlagen (!) direkt aus der Feder der Versicherungswirtschaft9.

Auch der Draht in die Fernsehredaktionen ist hier und da kürzer als erlaubt: So kaufte sich der GDV zwischen 2000 und 2005 unter der Hand redaktionelle Inhalte bei zwei Magazinen des Kommerzsenders Sat 1 und platzierte Schleichwerbung in der ARD-Soap "Marienhof"10. Gekaufte Dialoge und Magazinbeiträge sind vermutlich wesentlich wirksamer als Werbespots - allerdings auch völlig verboten.

Transparenz bei ihrer eigenen Tätigkeit scheint so ziemlich das Letzte zu sein, was sich die organisierte Versicherungswirtschaft wünscht - ihre Kundinnen und Kunden dagegen können ihr nicht gläsern genug sein.

Der Rechtswissenschaftler Daniel J. Solove stellt fest: Datenbanken verändern grundlegend die Art, wie in Verwaltungen Entscheidungsprozesse laufen und Urteile gefällt werden, die unser Leben beeinflussen. Datenbanken sind nicht die Ursache, aber sie verstärken ein bestehendes Machtungleichgewicht und haben die Tendenz, Menschen ohnmächtig zu machen.11 Die Warn- und Hinweisdateien der Versicherungswirtschaft sind ein Paradebeispiel dafür.

Wir wünschen den Politikerinnen und Politikern mehr Rückgrat gegenüber den mächtigen Lobbyverbänden. Wir wünschen den Verbraucherorganisationen und den Datenschützern der Aufsichtsbehörden mehr Durchsetzungsvermögen gegenüber der Versicherungswirtschaft. Der Versicherungswirtschaft selbst raten wir, ihre Datenschutz- und Geschäftspraktiken grundlegend zu ändern - bevor das Wort "Versicherungsbetrug" im Volksmund eine andere Bedeutung erhält.

Herzlichen Glückwunsch, lieber GDV, sehr geehrter Herr Schareck - Sie wurden bereits benachrichtigt -- nun stehen Sie in der öffentlichen Warn- und Hinweisdatei der BigBrotherAwards.

Laudator.in

Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage
Quellen (nur eintragen sofern nicht via [fn] im Text vorhanden, s.u.)

1 Bei den privaten Krankenversicherungen gibt es weitere Dateien, in denen nochmal mehrere Millionen Bürger gespeichert sind.

2 Inzwischen gibt es unabhängige Versicherungsmakler, die als Service für ihre Kunden deren Versicherungsanträge anonym einreichen und die Datenweitergabe erst dann erlauben, wenn der Vertrag tatsächlich abgeschlossen wurde. Empfehlenswert.

3 Finanztest 7/99, Seite 84

4 Prof. Thomas Hoeren, Münster: "Risikoprüfung in der Versicherungswirtschaft - Datenschutz und wettbewerbsrechtliche Fragen beim Aufbau zentraler Hinweissysteme" VersR 2005, Heft 22

5 Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski: Rechtliche Grenzen der Datenweitergabeklausel in Versicherungsverträgen. In: Verbraucher & Recht 7/2004, Seite  242 ff.

6 vzbv: Verbraucherzentrale Bundesverband e. V.

7 Die Klausel zu den Hinweis- und Warnsystemen ist nicht nur zu unbestimmt, sondern sie verstößt auch gegen grundsätzliche Wertungen des BDSG und ist daher als Bestandteil der AGB gem. § 307 BGB unwirksam.

8 Kartellverbot (Web-Archive-Link)

9 Dank Lilo Blunck, damals SPD MdB, wurde einer dieser Fälle aufgedeckt. (Die Zeit, 28/1999: Kontakthof der Macht). Lilo Blunck ist heute Geschäftsführerin des Bundes der Versicherten, einer engagierten Verbraucherorganisation.

10 Siehe epd Medien, Lobbycontrol und den Bericht der Landeszentrale für Medien und Kommunikation Rheinland-Pfalz [Inhalte nicht mehr verfügbar]

11 Daniel J. Solove: Privacy and Power. Computer Databases and Metaphors for Information Prvacy. Stanford Law Review Vol 53, 2001.

Jahr
Kategorie
Politik (2006)

Bundesinnenministerkonferenz

In diesem Jahr wurden in der Kategorie Politik zwei Preise verliehen. Die Bundesinnenministerkonferenz erhält ihn für ihren Beschluss, eine zentrale Anti-Terror-Datei zu errichten, die auf elektronischem Wege zu einer „sicherheitspolitischen Wiedervereinigung“ von Polizei und Geheimdiensten führt. Fast 40 Sicherheitsbehörden von BND, MAD und Verfassungsschutz über Bundespolizei und Landeskriminalämter bis hin zum Zollkriminalamt sollen personenbezogene Daten von „Terrorverdächtigen“ und deren Kontaktpersonen einspeichern und darauf Zugriff erhalten. Mit dieser gemeinsamen Verdachtsdatei wird eine wichtige demokratische Lehre aus der deutschen Geschichte weitgehend entsorgt: die strikte Trennung von Polizei und Geheimdiensten, mit der eine unkontrollierbare Machtkonzentration der Sicherheitsapparate verhindert werden sollte.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)

Der Big Brother Award 2006 in der Kategorie "Politik" geht an die ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (Innenministerkonferenz), vertreten durch deren Vorsitzenden Günther Beckstein (CSU), Innenminister des Freistaates Bayern.

Die Innenministerkonferenz (IMK) erhält den Preis für ihren Beschluss vom 4. September 2006, eine gemeinsame Anti-Terror-Datei einzurichten, die von allen bundesdeutschen Polizeien und allen 19 Geheimdiensten des Bundes und der Länder bestückt und genutzt werden soll. Diese Vernetzung führt zu einer verstärkten Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten - unter Missachtung des Verfassungsgebots einer strikten Trennung dieser beiden Arten von Staatsschutzbehörden.

Die IMK hat damit den Weg freigemacht für eine fatale sicherheitspolitische Wiedervereinigung. Sie formulierte die Eckpunkte der Vernetzung, die inzwischen von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) in seinem Entwurf eines "Gemeinsame-Dateien-Gesetzes" weitgehend übernommen worden sind.1 Nachdem dieser Gesetzentwurf von der Bundesregierung am 20. September 2006 abgesegnet wurde, könnte jetzt nur noch der Bundestag das Projekt stoppen.
Die IMK begründete die Notwendigkeit einer zentralen Anti-Terror-Datei - ursprünglich als "Islamistendatei" geplant - nicht zuletzt mit den Anschlagsversuchen in Koblenz und Dortmund - wohl wissend, dass die beiden mutmaßlichen Täter vorher in keiner Weise auffällig geworden waren, weder geheimdienstlich noch polizeilich. Deshalb wären sie in einer solchen Datei überhaupt nicht erfasst worden.

Die IMK spricht von einer notwendigen "Verbesserung der Zusammenarbeit von Polizeien und Nachrichtendiensten gerade im Hinblick auf den Austausch von Daten über Terroristen". Diese Formulierung vertuscht, dass es sich nicht etwa um eine Datei rechtkräftig verurteilter Straftäter handeln soll, sondern im Kern um eine Präventivdatei mit Daten von Verdächtigen. "Tatsächliche Anhaltspunkte", was immer darunter zu verstehen sein mag, sollen für einen solchen Verdacht ausreichen. Aber auch die personenbezogenen Daten mutmaßlicher "Kontaktpersonen" von Verdächtigen sollen in der neuen Datei gespeichert werden. Gerade dies birgt die Gefahr, dass auch das soziale Umfeld der bloß Verdächtigen, also Familie, Kinder, Arbeitskollegen, Geschäftspartner, Anwälte, Vermieter, Sportsfreunde etc., systematisch in der Datei erfasst wird und dass auch Menschen in einen gravierenden Terrorverdacht geraten, die sich bislang nichts haben zu schulden kommen lassen. Die Erfassung in einer Terror-Datei wegen eines bloßen Verdachts ist extrem stigmatisierend.

Die Anti-Terror-Datei wird beim Bundeskriminalamt geführt. Eingabe- und zugriffsberechtigt sollen außerdem fast vierzig Sicherheitsbehörden sein: Bundespolizei (Ex-BGS), Zollkriminalamt, Bundesnachrichtendienst, Bundesamt für Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst, die Verfassungsschutzbehörden der Länder, die Landeskriminalämter; in begründeten Fällen auch andere Polizeidienststellen. Alle angeschlossenen Sicherheitsbehörden haben eine Einspeicherungspflicht - nur im Einzelfall kann diese aus Geheimhaltungs- oder Quellenschutzgründen ganz oder teilweise entfallen oder mithilfe verdeckter Speicherungen vor Zugriffen geschützt werden.

Die Anti-Terror-Datei soll als erweiterte Indexdatei ausgestaltet werden, genauer: als eine Kombination aus Index- und Volltextdatei. Das heißt: Die beteiligten Behörden können online unmittelbar erkennen, ob zu einer verdächtigen Person, Gruppe, Firma oder Stiftung bei einer anderen Behörde etwas vorliegt. Sie sehen dabei zunächst nur die Grunddaten, also Personalien des Verdächtigen und dessen Identifizierungsmerkmale (u.a. auch: "besondere körperliche Merkmale, Sprachen, Dialekte, Lichtbilder...") sowie die Fundstellen der Erkenntnisse und Vorgänge (= Index). In einem zweiten Schritt fordert die abfragende Stelle bei der entsprechenden Behörde die Freigabe eines erweiterten Datensatzes an, der in einem verdeckten Bereich der Datei gespeichert ist und der auch sensible personenbezogene Daten über Verdächtige und gewisse Kontaktpersonen enthält - wie etwa Telekommunikationskontakte und Bankverbindungen, Schul- und Berufsausbildung, Arbeitsstellen, Fahr- und Flugerlaubnisse, "terrorismusrelevante" Fähigkeiten, Aufenthaltsorte und Reisebewegungen, selbst Angaben über Volks- und Religionszugehörigkeit und womöglich bald auch sexuelle Auffälligkeiten, wie schon von SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz gefordert. Dieser Datenkatalog soll, so heißt es im IMK-Beschluss, "eine zuverlässige Gefährdungseinschätzung durch die Sicherheitsbehörden ermöglichen". Darüber hinaus sollen auch "besondere Bemerkungen, ergänzende Hinweise und Bewertungen" der beteiligten Behörden aufgenommen werden. Damit ist der Weg in Richtung einer Volltextdatei beschritten, die durch diese Öffnungsklausel jederzeit erweitert werden kann. Neben der ständigen Einrichtung der Anti-Terror-Datei sollen auch gemeinsame personenbezogene "Projektdateien" legalisiert werden, die von Polizeien oder Geheimdiensten anlassbezogen und bis zu vier Jahre lang angelegt und gemeinsam genutzt werden dürfen. Ob in all diese Dateien dann auch die giftigen "Früchte der Folter" Eingang finden? Hält es doch Bundesinnenminister Schäuble mit menschenrechtlichen Grundsätzen für vereinbar, dass deutsche Sicherheitsbehörden von unmenschlichen Haftbedingungen und Verhörsituationen in anderen Ländern profitieren, ja möglicherweise unter Folter zustande gekommene Geständnisse und Erkenntnisse für die Gefahrenabwehr verwenden.

Einsicht in den zunächst verdeckten Datenbereich der Anti-Terror-Datei sollen die anfragenden Behörden recht problemlos im Onlineverfahren bekommen, "soweit dies zur Erfüllung der jeweiligen Aufgaben zur Aufklärung oder Bekämpfung des internationalen Terrorismus erforderlich ist": Im Falle eines Treffers wird die Freigabe auf Nachfrage, so heißt es im IMK-Beschluss wörtlich, "umgehend erteilt" - das soll wohl heißen: vollautomatisch und ohne inhaltlich-rechtliche Prüfung des Einzelfalls. Im geplanten Gesetz ist die Rede von einer Entscheidung nach den geltenden Über­mittlungsregelungen. Das bedeutet, dass jede speichernde Stelle ein Ersuchen nach den für sie geltenden gesetzlichen Vorgaben zu beantworten hat. Der gewährte Zugriff erfolgt dann im Online-Verfahren. In Eilfällen, etwa zur Verhinderung eines unmittelbar drohenden terroristischen Anschlags, erfolgt der Zugriff dagegen ohne vorherige Freigabe - das Bundesinnenministerium spricht insoweit von einer sekundenschnellen Datenübertragung "auf Knopfdruck".

Mit der Anti-Terror-Datei können also alle Polizeien des Bundes und der Länder im vereinfachten Verfahren nicht gesicherte geheimdienstliche Vorfeldinformationen online nutzen und umgekehrt bekommen alle Geheimdienste hochsensible polizeiliche Verdachtsdaten.
Was ist nun so problematisch an einem gemeinsamen Datenpool? Eine solche Vernetzung bedeutet letzten Endes die Aufhebung des verfassungsmäßigen Gebots der Trennung von Polizei und Geheimdiensten - immerhin einer historisch bedeutsamen Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo der Nazizeit, die sowohl geheimdienstlich als auch exekutiv-vollziehend tätig war. Mit dem Trennungsgebot, das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes ableitet, sollte in Westdeutschland eine unkontrollierbare und damit undemokratische Machtkonzentration der Sicherheitsapparate und eine neue politische Geheimpolizei verhindert werden. Die negativen Erfahrungen mit der Stasi der ehemaligen DDR, die Geheimdienst und -polizei in einem war, untermauern diese ursprüngliche Intention.
Die nicht allein organisatorisch-funktional zu verstehende Trennung ist zwar in der Bundesrepublik im Laufe der Jahrzehnte längst durchlöchert worden, wird aber mit einem Online-Informationsaustausch zwischen Polizei und Geheimdiensten, wie ihn die IMK beschlossen hat, auf elektronischem Wege praktisch ausgehebelt. Die Gefahr besteht, dass Geheimdienste tendenziell zum verlängerten nachrichtendienstlichen Arm der Polizei mutieren und diese zum verlängerten Exekutiv-Arm der Geheimdienste. Eine behördeninterne Einzelfallprüfung bei der Datenübermittlung, wie sie bislang unter Berücksichtigung des Trennungsgebots und der informationellen Selbstbestimmung weitgehend üblich war, findet jedenfalls nur noch eingeschränkt statt. Eine effektive Kontrolle der Datenströme wird damit schier aussichtslos - auch wenn jeder Zugriff auf die Datei protokolliert werden soll und die Datenschutzbeauftragten datenschutzrechtliche Kontrollen durchführen können.
Wir haben es hier mit einer fatalen Strukturveränderung zu tun - oder anders ausgedrückt: mit dem Element einer neuen Sicherheitsarchitektur, mit der das Ziel verfolgt wird, staatliche Macht mehr und mehr zu entgrenzen. Dieser Umbau des liberal-demokratischen Rechtsstaats ist schon seit Längerem im Gange. Dabei geht es im Kern um zwei Tabubrüche, die auf dem Hintergrund deutscher Geschichte von besonderer Bedeutung sind. Zum einen: die schon erwähnte verstärkte Vernetzung und Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten. Für diese Entwicklung steht neben dem Projekt einer gemeinsamen Anti-Terror-Datei unter anderem auch das "Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum" in Berlin, in dem Polizei und Geheimdienste seit 2005 unmittelbar zusammenarbeiten. Zweiter Tabubruch: die Militarisierung der "Inneren Sicherheit", in deren Mittelpunkt der Einsatz der Bundeswehr als reguläre Sicherheitsreserve im Inland steht - obwohl Polizei und Militär hierzulande aus historischen Gründen sowie nach der Verfassung strikt zu trennen sind.

Die Anti-Terror-Datei ist darüber hinaus auf dem Hintergrund der seit dem 11.9. 2001 erlassenen Antiterror-Gesetze ("Otto-Kataloge", für die Ex-Bundesinnenmini­ster Otto Schily mit dem BigBrotherAward ausgezeichnet worden ist) zu sehen, mit denen Aufgaben und Befugnisse von Geheimdiensten und Polizei drastisch ausgeweitet wurden und die die Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft beträchtlich erhöht haben. Sie ist auch im Zusammenhang zu sehen mit dem geplanten "Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz", das die Große Koalition jüngst in den Bundestag eingebracht hat und mit dem die befristeten Antiterror-Befugnisse von 2002 nicht nur um weitere fünf Jahre verlängert, sondern auch noch ausgeweitet werden sollen - ohne zuvor eine unabhängige, kritische Bilanzierung der bisherigen Antiterrorgesetze und ihrer Wirkungen vorzulegen. Jetzt sollen alle Geheimdienste noch mehr Befugnisse bekommen und zwar nicht allein zur Terrorabwehr, sondern auch schon zur Aufklärung verfassungsfeindlicher Bestrebungen, die Gewalt fördern könnten. Aus geheimdienstlichen Antiterror-Instrumenten mit Ausnahmecharakter werden so Regelbefugnisse des Alltags.

Fazit: Mit einer Anti-Terror-Datei als Kernstück eines neuen Antiterror-Netzwerks wächst zumindest partiell zusammen, was nicht zusammen gehört, wird eine wichtige demokratische Lehre aus der deutschen Geschichte weitgehend entsorgt, werden rechtsstaatliche Begrenzungen letztlich einer grenzenlosen Prävention geopfert. Möglicherweise landet auch die Anti-Terror-Datei deswegen vor dem Bundesverfassungsgericht, das in den letzten Jahren schon mehrfach Gesetze und Maßnahmen für verfassungswidrig erklären musste - erinnert sei nur an den Großen Lauschangriff mit elektronischen Wanzen in und aus Wohnungen, an die präventive Telekommunikationsüberwachung, die Lizenz zum Abschuss eines gekaperten Passagierflugzeugs im Luftsicherheitsgesetz sowie an die exzessiven Rasterfahndungen nach sogenannten "Schläfern". Das Verfassungsbewusstsein in der politischen Klasse scheint im Zuge der Terrorismusbekämpfung jedenfalls immer mehr zu schwinden - strenggenommen ein Fall für den "Verfassungsschutz", wenn nicht sogar für eine Aufnahme in die Anti-Terror-Datei.
Der BigBrotherAward 2006 an die Innenminister des Bundes und der Länder wird von der Jury bewusst präventiv vergeben, also schon bevor ihr Beschluss in die Tat umgesetzt wird. Nun hat der Bundestag das letzte Wort, nur er könnte dieses Projekt noch stoppen. Wir betrachten diese Preisverleihung als Maßnahme der Gefahrenabwehr und der Arbeitsentlastung für das Bundesverfassungsgericht.

Herzlichen Glückwunsch, Herr Vorsitzender Beckstein, herzlichen Glückwunsch an die verantwortlichen Mitglieder der Innenministerkonferenz.

Laudator.in

Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)
Quellen (nur eintragen sofern nicht via [fn] im Text vorhanden, s.u.)

1 Demnach soll die Einrichtung der Datei über 15 Millionen Euro kosten und jährlich über 6 Millionen Euro laufende Kosten verursachen. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums ist ein erster Probebetrieb bereits für Ende des Jahres geplant; die Betriebsaufnahme soll im März 2007 erfolgen.

Jahr
Kategorie
Arbeitswelt (2007)

Novartis

Die Novartis Pharma GmbH erhält den BigBrotherAward 2007 in der Kategorie „Arbeitswelt“ für eine besonders umfassende Überwachung ihrer Mitarbeiter.innen. Da werden Außendienstmitarbeiter.innen von Detektiven verfolgt, Kolleg.innen zur Denunziation ermutigt oder die unternehmenseigene Poststelle öffnet die Betriebsratspost.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Karin Schuler.
Karin Schuler, Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD)

Der BigBrotherAward 2007 in der Kategorie „Arbeitswelt“ geht an die Novartis Pharma GmbH, Herrn Dr. Peter Maag (CEO), für die Bespitzelung ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die damit verbundene Verletzung grundlegender Persönlichkeitsrechte.

Was erwartet man von einem Unternehmen, das sich selbst in unterschiedlichen Verpflichtungen faires Handeln auferlegt hat? So zum Beispiel im Kodex der Mitglieder des Vereins „Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie“. Das sich einer FairCompany Initiative angeschlossen hat, um zu demonstrieren, dass es ein fairer Arbeitgeber sei? Das öffentlich bekennt, dass es die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern will und sich damit brüstet, in mehr oder weniger unabhängigen Arbeitgeber-Bewertungen vordere Plätze zu belegen? Das in seinen Corporate Citizenship-Richtlinien die Achtung der Menschenrechte und faire Arbeitsbedingungen verspricht?

Man erwartet jedenfalls nicht, dass es zum Standard gehört, Mitarbeitern im Außendienst in großem Stil Detektive hinterherzuschicken, um minutiös deren Arzt- und Apothekenbesuche zu protokollieren. Man erwartet auch nicht, dass die Ergebnisse von Erhebungen am Arbeitsplatz, für die ausdrücklich Anonymität zugesichert wurde, dem einzelnen Mitarbeiter von der Personalabteilung bewertet zurückgegeben werden. Genauso wenig erwartet man, dass die mit der Durchführung beauftragte Agentur entsprechende Beschwerden mit dem Satz kommentiert „So naiv kann man doch nicht sein!“ (nämlich zu denken, dass der Auftraggeber die Ergebnisse nicht erhielte).

Wer jedenfalls erwartet hat, dass Selbstverpflichtungen wirklich wirken, wird enttäuscht.

Ganz offensichtlich fällt es diesem Unternehmen schwer, die selbst gesetzten Ansprüche umzusetzen, wenn Mitarbeiter nicht reibungslos funktionieren.

Insbesondere im Außendienst scheint sich die Wirklichkeit eher an dem schon vor einigen Jahren beschworenen Kriegszustand zu orientieren: als nämlich der für den Bereich Pharmazeutika zuständige Geschäftsführer der Konzernmutter Novartis AG den Außendienst mit der Parole „Kill To Win – No Prisoners“ zu Höchstleistungen anspornen wollte. Spätestens damals wurde deutlich, dass das Unternehmen die heile Welt der eigenen Hochglanzbroschüren und den dort propagierten respektvollen Umgang miteinander nicht wirklich für alltagstauglich hält. Auch wenn die Wortwahl nach allzu lauten Protesten abgeschwächt werden musste: Wie in Tagungssunterlagen der deutschen Novartis Pharma GmbH nachzulesen, dominieren martialische Begriffe weiterhin die interne Kommunikation: „Das beste Produkt, die besten Waffen“, „Streetfighting“, „den Mitbewerber kompromisslos ausgrenzen und angreifen“. Wie schafft man es, respektvoll „kernig reinzugrätschen“?

Nicht jeder Außendienstmitarbeiter kommt anscheinend mit diesem Spagat klar. Und nicht jeder erreicht auf legale Weise die unrealistisch hohen Vorgaben für den täglichen Besuchsschnitt von Ärzten und Apotheken. Dass dieser Druck zu kleinen Schwindeleien führt, wenn man keine deutlichen Gehalteinbußen riskieren will, scheint unvermeidbar.

Ein hoher Überwachungsbedarf lässt sich durch diese selbstverschuldete Situation allzu leicht begründen und so führt das Unternehmen seinen Kampf nicht mehr gegen die Konkurrenz, sondern gegen die eigenen Mitarbeiter. Bei der Wahl der Mittel ist man dabei nicht zimperlich. Neben der inoffiziellen Ermutigung von Kollegen zur Denunziation schickt man dem Mitarbeiter einfach ganztägig Detektive hinterher, die jeden Besuch und jede Tätigkeit minutiös aufschreiben. Frei nach dem Motto: Wer suchet, der findet – Und jeder Fund ermöglicht die schnelle Trennung vom Betroffenen. Eine derart lückenlose, die Persönlichkeitsrechte verletzende Überwachung scheint zu den Standardmaßnahmen zu gehören – fühlt sich doch sogar der Betriebsrat genötigt, in einer Veröffentlichung darauf hinzuweisen. Wobei man sich fragt, ob der Betriebsrat die Mitarbeiter nicht lieber vor solchen Maßnahmen schützen sollte, anstatt sie nur darüber zu informieren.

Der sorglose Umgang mit den Persönlichkeitsrechten der Mitarbeiter hat, den Vorgaben der Selbstverpflichtungen zum Trotz, scheinbar Methode. Nur so ist zu erklären, dass die Mitarbeiter die Ergebnisse einer „Selbsteinschätzung“ genannten Online-Befragung trotz ausdrücklich zugesicherter Vertraulichkeit nach kurzer Zeit personalisiert und mit Bewertung und Verbesserungsvorschlägen versehen aus der Personalabteilung zurück geschickt bekamen.

Da wundert es dann auch nicht mehr, wenn man von Behinderungen beim Besuch der Betriebsversammlungen, von datenschutzwidriger Veröffentlichung von so genannten „Rennlisten“ und Krankentagelisten und von der standardmäßigen Öffnung der Betriebsratspost durch die Poststelle erfährt.

An der Datenschutzfront hat die Novartis Pharma GmbH noch so einiges zu erkämpfen, Herr Dr. Maag – Herzlichen Glückwunsch zum BigBrotherAward!

Laudator.in

Portraitaufnahme von Karin Schuler.
Karin Schuler, Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD)
Jahr
Kategorie
Politik (2006)

Landtag Mecklenburg-Vorpommern

In diesem Jahr wurden in der Kategorie Politik zwei Preise verliehen: Die Mitglieder des 4. Landtags von Mecklenburg-Vorpommern erhalten den Preis für die gesetzliche Erlaubnis zur verdachtsunabhängigen Tonaufzeichnung in öffentlichen Gebäuden und auf öffentlichen Plätzen in ihrer Umgebung sowie in öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Ordnungsbehörden können diese Überwachungsmaßnahmen anordnen, sobald „Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass Straftaten begangen werden sollen“ – es gibt also quasi keine Hürde und keine Definition für eine solche Anordnung. Genau wie die allgegenwärtige Videoüberwachung (BBA 2004 und 2005) wird das Risiko, belauscht werden zu können, Menschen in der Ausübung ihrer demokratischen Grundrechte Meinungsfreiheit und Entfaltung ihrer Persönlichkeit behindern.
Laudator.in:
Alvar Freude am Redner.innenpult während der BigBrotherAwards 2008.
Alvar Freude, Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG)

Der Big Brother Award in der Kategorie Politik geht an die Mitglieder des 4. Landtags von Mecklenburg-Vorpommern, vertreten durch die Landtagspräsidentin Sylvia Bretschneider, für die gesetzliche Erlaubnis zum Abhören und zur Tonaufzeichnung an öffentlichen Plätzen, in öffentlichen Gebäuden und in öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Big Brother Award gebührt dem gesamten Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Die dort vertretenen Abgeordneten aller Parteien - SPD, PDS und CDU - haben der ausufernden Überwachung zugestimmt.

Die Bürger der ehemaligen DDR hofften, mit der Wende 1989 und der Wiedervereinigung 1990 die Überwachung durch den Staatssicherheitsdienst überwunden zu haben. Auch der Deutsche Bundestag warb 2002 mit der Behauptung "Flirten, Lästern, Tratschen. Und niemand hört mit." für die Freiheitsrechte in der Bundesrepublik.

16 Jahre nach der Vereinigung hat Mecklenburg-Vorpommern ein überarbeitetes Polizeigesetz, dass sich "Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern" oder kurz: "Sicherheits- und Ordnungsgesetz (SOG M-V)" nennt. Seit Juli 2006 erteilt das Gesetz in § 32 Absatz 3 den Ordnungsbehörden und der Polizei die Befugnis, öffentliche Orte in der Nähe von so genannten "gefährdeten Objekten" nicht nur mit Videokameras überwachen zu dürfen, sondern auch Tonaufzeichnungen anzufertigen und für eine Woche aufzubewahren:

"Bild- und Tonaufzeichnungen dürfen offen [... in einer Verkehrs- oder Versorgungsanlage einer -Einrichtung, einem öffentlichen Verkehrsmittel, Amtsgebäude, oder einem von der Polizeibehörde bezeichnetem gefährdetem Objekt oder in deren unmittelbarer Nähe ...] angefertigt werden, soweit Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass an oder in Objekten dieser Art Straftaten begangen werden sollen, durch die Personen, diese Objekte oder andere darin befindliche Sachen gefährdet sind. Die Maßnahmen [...] dürfen auch durchgeführt werden, wenn Dritte unvermeidbar betroffen sind."

§ 32 Abs. 3 (Ausschnitt)
Sicherheits- und Ordnungsgesetz Mecklenburg-Vorpommern

Immerhin: Die Überwachungen im öffentlichen Raum müssen von den Behörden angeordnet werden. Die Hürden für eine solche Überwachungsanordnung sind ähnlich niedrig wie zu DDR-Zeiten: wiederholt erfolgter Taschendiebstahl oder vollgemalte Straßenbahnsitze rechtfertigen die Annahme, dass dies auch in Zukunft passieren kann und dass deswegen eine Überwachung durchgeführt werden müsse.

Den Ordnungsbehörden ist es damit erlaubt, beispielsweise auf Parkbänken, in Behördenfluren, auf öffentlichen Wegen und Plätzen in der Umgebung "gefährdeter Objekte" sowie in Bussen und Bahnen neben der Videoüberwachung auch eine Tonaufzeichnung durchzuführen.

Diese Tonaufzeichnung ist ausdrücklich nicht auf Verursacher von Gefahren beschränkt, sondern bei allen Personen erlaubt. Also auch bei völlig Unverdächtigen und Unbeteiligten, die sich am jeweiligen Ort aufhalten. Interessant ist die Gesetzesbegründung für die Tonaufzeichnung: Es gibt keine.

Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel, Spaziergänger in der Nähe von Ministerien, Rentner auf Parkbänken oder dort kuschelnde Pärchen müssen also Tag und Nacht damit rechnen, dass sie beim Flirten, Lästern, Tratschen von jemandem, den sie selbst nicht sehen können, belauscht werden.

Bei der Leistungsfähigkeit heutiger Mikrofone bleibt - selbst bei Billiggeräten - im Bus, auf der Parkbank oder in Behördenfluren kein Wort ungehört. Zwar gibt es keine offizielle Gesetzesbegründung für die Tonaufzeichnung, aber vielleicht dachten sich die Parlamentarier: Terroristen besprechen Anschläge bei einem Spaziergang am Schweriner See. Schließlich findet dort im Frühsommer 2007 der G8-Gipfel statt.

Schon 1983 hat das Bundesverfassungsgericht bei seinem Volkszählungsurteil klargestellt, dass Einschränkungen persönlicher Freiheit zu Lasten des Bürgers nicht weiter gehen dürfen, "als es zum Schutze öffentlicher Interessen unerlässlich ist".

Es darf stark bezweifelt werden, dass eine verdachtsunabhängige Bild- und Tonaufzeichnung auf öffentlichen Plätzen, in öffentlichen Gebäuden oder in Bussen und Bahnen zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich ist - wir bezweifeln sogar, dass es dem Schutz öffentlicher Interessen überhaupt dient. Noch immer hat sich nirgendwo eine Kamera zwischen Opfer und Angreifer geworfen. Und kein Mikrofon der Welt "schützt" vor Straftaten - sie werden dann einfach nur woanders verabredet.

Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass der Gesetzgeber nicht im Übermaß in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingreifen darf. Es sind immer die Mittel zu wählen, die einen möglichst geringen Eingriff in die Rechte Unbeteiligter darstellen. Der alleinige Zweck von Sicherheit ist, die Freiheit zu schützen.

Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Großen Lauschangriff ergibt sich, dass eine private Kommunikation zum unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung gehört. Die unverhältnismäßige Überwachung ist daher unzulässig.

Schon vor diesem Hintergrund stellt sich die Befugnis als klar verfassungswidrig dar. Die Gesetzesänderung in Mecklenburg-Vorpommern wäre quasi gleichzusetzen mit einer freiwilligen Willenserklärung der Bürgerinnen und Bürger zu einem Grundrechtsverzicht: Wer sich an überwachten Orten aufhält, willigt also ein, überwacht zu werden. Schließlich gibt es ja Hinweisschilder. Ein freiwilliger Grundrechtsverzicht? Ein Grundrecht kann man nicht abtreten. Auch nicht mit dem Argument: "Ich habe doch nichts zu verbergen."

In seinem Volkszählungsurteil von 1983 stellt das Bundesverfassungsgericht klar, dass schon allein das Bewusstsein, beobachtet zu werden, zu Veränderungen im Verhalten führen kann. Insbesondere könne der "psychische Druck öffentlicher Anteilnahme" die Entfaltung der Persönlichkeit und der Entscheidungsfreiheit hemmen, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. Zwar ist die Beobachtung durch andere und das Aufschnappen fremder öffentlicher Gespräche normaler Bestandteil des gesellschaftlichen Miteinanders. Die Kontrolle des Einzelnen darf aber das für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige Maß nicht überschreiten und ihn nicht wesentlicher Teile seiner Handlungsfreiheit berauben.

Genau das geschieht aber bei der verdachtsunabhängigen Bild- und Tonaufzeichnung im öffentlichen Raum, die auch noch explizit Unverdächtige überwacht. Keiner weiß: Werde ich gerade beobachtet, werde ich gerade belauscht? Hört jemand mit? Kann ich gefahrlos lästern, tratschen oder gar flirten? Im Zweifel wird man sich also eher unauffällig und angepasst verhalten - und sich langfristig ständig beobachtet fühlen. Für den einen oder anderen Politiker im Mecklenburg-Vorpommerischen Landtag mag das zwar eine verlockende Aussicht sein, unser Grundgesetz setzt aber andere Prioritäten:

"Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."

Artikel 2, Absatz 1 Grundgesetz

Flirten, Lästern, Tratschen. Und die Polizei hört mit. Mecklenburg-Vorpommern knüpft hier an eine alte Tradition an. Gerade vom Landtag eines der ehemals "neuen Bundesländer" hätte man 17 Jahre nach der Auflösung der DDR auch historisch eine andere Sensibilität erwarten können. Bleibt zu hoffen, dass die Ordnungsbehörden an möglichst wenig Orten von ihren Befugnissen Gebrauch machen. Und dass das Bundesverfassungsgericht das "Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern" in den beanstandeten Punkten kippt.

Herzlichen Glückwunsch, Frau Bretschneider, herzlichen Glückwunsch an die Mitglieder des 4. Landtags von Mecklenburg-Vorpommern.

Laudator.in

Alvar Freude am Redner.innenpult während der BigBrotherAwards 2008.
Alvar Freude, Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG)
Jahr
Kategorie

Mautdaten für die Fahndung, Anti-Terror-Dateien, Konsumprofile durch
Kundenkarten, Adresshandel, geheimdienstliche Ausforschung von
Journalisten, Scoring, Videoüberwachung, RFID-Schnüffelchips... das
Thema "Datenschutz" hat mittlerweile eine breite Öffentlichkeit
erreicht - nicht zuletzt wegen der BigBrotherAwards. Den Bürgerinnen
und Bürgern ist keineswegs egal, was mit ihren Daten passiert.

Deshalb gibt es nun das "Schwarzbuch Datenschutz". Es dokumentiert die
übelsten Datensammler aus sechs Jahren BigBrotherAwards und bietet zu
allen Preisträgern aktuelle Ergänzungen. Dazu ein Index, Buch- und
Filmtipps sowie ein Beitrag mit dem programmatischen Titel "Tausche
Bürgerrechte gegen Linsengericht".
Das Buch versammelt Beiträge von Alvar Freude, Frank Rosengart, Fredrik
Roggan, Karin Schuler, padeluun, Rena Tangens, Rolf Gössner, Thilo
Weichert und anderen. Der Autor und Bachmann-Preisträger Peter Glaser
schrieb das Vorwort „Orwellness“.

Rena Tangens & padeluun (Hg.)
Schwarzbuch Datenschutz
Ausgezeichnete Datenkraken der BigBrotherAwards
broschiert, 192 Seiten, 13,90 Euro
Edition Nautilus, ISBN: 3894014946

Die diesjährigen Deutschen BigBrotherAwards, die „Oscars für
Überwachung“ (Le Monde), werden am Freitag, dem 20. Oktober 2006 in
Bielefeld verliehen. Die Preisträger – Unternehmen, Organisationen und
Politiker – verletzen durch ausufernde Kontrolle, Manipulation und
Überwachung erheblich die Privatsphäre der Bundesbürger. Der Preis
jährt sich zum siebten Mal und wird in verschiedenen Kategorien,
darunter „Politik“, „Verbraucherschutz“, „Wirtschaft“ und „Technik“
vergeben.

Regional (2007)

Behörde für Bildung und Sport

Die Ausländerbehörde der Hansestadt Hamburg nutzt das Schülerzentralregister, um Familien ohne Papiere aufspüren und abschieben zu können. In der Konsequenz nehmen deshalb Eltern ihre Kinder sicherheitshalber von der Schule, trotz Schulpflicht. Für dieses Eigentor zu Lasten geflüchteter Kinder, die ebenso ein Recht auf Bildung haben wie alle anderen, erhält die Senatorin für Bildung und Sport, Alexandra Dinges-Dierig, den BigBrotherAward 2004 in der Kategorie „Regional“.
Laudator.in:
Alvar Freude am Redner.innenpult während der BigBrotherAwards 2008.
Alvar Freude, Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG)

Der BigBrotherAward 2007 in der Kategorie „Regional“ geht an die Behörde für Bildung und Sport der Freien und Hansestadt Hamburg, vertreten durch Alexandra Dinges-Dierig, Senatorin für Bildung und Sport, für die Einrichtung eines Schülerzentralregisters mit dem (Neben-) Zweck, ausländische Familien ohne Aufenthaltserlaubnis aufzuspüren.

Hamburg ist bundesweit für eine besonders rigide und menschenunwürdige Abschiebepraxis bekannt. Mal soll ein seit 21 Jahren in Deutschland lebender Palästinenser aus Nablus im Westjordanland abgeschoben werden, mal sollen minderjährige Schüler ohne ihre Eltern (die eine Aufenthaltsgenehmigung haben) in deren Heimat abgeschoben werden.

Da ist es nicht verwunderlich, dass alle Mittel genutzt werden, um Familien für die nächste Abschiebung aufzuspüren. So nutzt die Ausländerbehörde auch das Zentrale Schülerregister, um Kinder und ihre Eltern ohne Aufenthaltsgenehmigung zu entdecken.

In Deutschland gibt es bekanntermaßen eine Schulpflicht. Nicht nur das: Jeder hat das Recht auf Bildung1 und es gilt, dass „das Recht auf Bildung niemandem verwehrt werden darf“2, wie es beispielsweise in der Europäischen Menschenrechtskonvention, im UNO-Menschenrechtspakt I3 und der UNO-Kinderrechtskonvention4 festgeschrieben ist.

Das Recht auf Bildung besteht für jedes Kind, egal welcher Nationalität es angehört. Und egal, ob es sich rechtmäßig im betreffenden Land aufhält oder nicht.

2006 wurde mit der Novellierung des Hamburgischen Schulgesetzes und der Schul-Datenschutzverordnung5 in Hamburg das Zentrale Schülerregister eingeführt. Alle Schulen des Stadtstaates müssen dort die Daten aller Schüler eingeben, worauf ein automatischer Abgleich mit dem Melderegister erfolgt. So sollen Kinder aufgespürt werden, die vernachlässigt werden und nicht zur Schule gehen. Erklärtes Ziel der Datensammlung ist, unter anderem tragische Fälle wie den der siebenjährigen Jessica zu verhindern, die 2005 nach unbemerktem jahrelangem Martyrium in der elterlichen Wohnung qualvoll verhungert war.

Allerdings hätte das Schülerregister Jessica auch nicht geholfen: Das Kind war der Schulbehörde bekannt, sie hat sogar ein Bußgeldverfahren wegen Verletzung der Schulpflicht eingeleitet. Aber niemand prüfte, warum das Mädchen der Schule fern blieb. Mit dem Bußgeldverfahren war der Fall für die Schulbehörde offenbar erledigt, weder Jugend- noch Sozialamt oder Polizei wurden eingeschaltet. Wenn die Behörden so einen Fall nicht weiterverfolgen, nutzt die größte Datensammlung nichts.

Aber wofür ist das hamburgische Schüler-Zentralregister dann ein taugliches Mittel? Außer, vielleicht, zur Sicherung der Arbeitsplätze von Softwareentwicklern?

Auch ein anderes Mädchen hatte Probleme mit Hamburger Behörden, aber nicht, weil diese sich zu wenig um sie kümmerten:.Ein anonymer Denunziant hatte die 13-jährige Yesim und ihre Mutter bei der Ausländerbehörde gemeldet: Sie lebten seit 13 Jahren ohne gültige Papiere bei der Großmutter in Hamburg. Für die Ausländerbehörde ein typischer Fall von „illegalem Familiennachzug“, daher sollten Yesim und ihre Mutter in die Türkei abgeschoben werden. Wäre Yesim nicht eine vorbildlich integrierte und beliebte Musterschülerin, wären sie und ihre Mutter sicherlich schon lange abgeschoben.

Doch nun ist die Ausländerbehörde nicht mehr auf den petzenden Nachbarn angewiesen: Über das Schülerregister können nicht nur Kinder aufgespürt werden, die gemeldet sind, aber nicht zur Schule gehen. Nein, im Gegenteil: Es können auch Schüler aufgespürt werden, die zur Schule gehen, aber nicht gemeldet sind. Also Schüler, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in Hamburg aufhalten. Denn die Daten aus dem Schülerregister werden laufend und automatisch mit dem Melderegister abgeglichen.

Ist das Zentrale Schülerregister also eher ein Yesim-Register als ein Jessica-Register, wie Flüchtlingsorganisationen vermuten? Tatsächlich ist das Aufspüren von Kindern ohne Aufenthaltserlaubnis auch ein Ziel des Schülerregisters, wie speziell die CDU in Hamburg fordert, und konsequenterweise hat die Ausländerbehörde auch Zugriff darauf.

So besagt § 9 der Hamburger Schul-Datenschutzverordnung:

§ 9 Datenübermittlung an andere Behörden oder sonstige öffentliche Stellen

Die zuständige Behörde darf einer anderen Behörde oder sonstigen öffentlichen Stelle der Freien und Hansestadt Hamburg die in § 7 genannten personenbezogenen Daten aus dem Zentralen Schülerregister übermitteln, wenn dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben oder zur Erfüllung der Aufgaben des Empfängers erforderlich ist. Die übermittelten Daten dürfen von der anderen Behörde oder sonstigen öffentlichen Stelle nur zu den Zwecken verarbeitet werden, zu denen sie übermittelt wurden. […]

Aha: „Die übermittelten Daten dürfen von der anderen Behörde nur zu den Zwecken verarbeitet werden, zu denen sie übermittelt wurden.“ Frau Dinges-Dierig, heißt das: Wenn die Daten zum Abschieben von Familien ohne Aufenthaltserlaubnis übermittelt wurden, dann dürfen die Daten auch nur für Abschiebungen verwendet werden?

Nach Auskunft der Schulbehörde gab es bisher keine Abschiebungen aufgrund des Schülerregisters. Es wurden keine Kinder ohne gültige Aufenthaltserlaubnis aufgespürt. Kein Wunder: Betroffene Eltern haben die begründete Angst, dass der Schulbesuch ihrer Kinder nahezu zwangsläufig zur Abschiebung der ganzen Familie führt. Dass hier die Entscheidung gegen den Schulbesuch fällt, ist nachvollziehbar. Diese Angst hatten viele Familien schon früher, aber Hilfsorganisationen wie beispielsweise „Fluchtpunkt“6 konnten die Eltern meist davon überzeugen, dass ihnen durch den Schulbesuch ihrer Kinder keine Gefahr droht. Mit dem Schülerregister geht dies nicht mehr, betroffene Familien haben ihre Kinder von der Schule genommen. Kein Wunder, dass niemand mehr aufgespürt werden konnte. Ein Gesetz, dass dem Kindeswohl dienen soll, bewirkt das Gegenteil.

Ja, das Zentrale Schülerregister in Hamburg soll dem Kindeswohl dienen, obwohl es dazu gar nicht in der Lage ist. Jessica hätte es nicht vor ihren misshandelnden Eltern und den schlampigen Behörden bewahrt. Kindeswohl definiert wohl jeder anders – denn nach Lesart der CDU-Fraktion und Schulsenatorin Dinges-Dierig im Hamburger Senat gilt: Da das Leben ohne Aufenthaltserlaubnis per se nicht dem Kindeswohl diene, sei eine Beendigung der Illegalität das Beste für das Kind7. Ob es ihm aber in Afghanistan, im Gazastreifen oder im Irak besser geht, ist mehr als fraglich. Dennoch: Nach der bisherigen Praxis der Hamburger Ausländerbehörde ist eine Abschiebung auch in Krisengebiete keine unwahrscheinliche Option, wie mehrere Fälle gezeigt haben.

Diese krude Ansicht von Kindeswohl geht in der Realität nicht auf: Eltern nehmen ihre Kinder lieber von der Schule, als dass sie eine Entdeckung und Abschiebung riskieren. Damit konterkariert Hamburg bewusst das Recht auf Bildung, denn, zur Erinnerung: dieses gilt auch für Kinder ohne Aufenthaltsgenehmigung.

Zwar mussten Schulen auch früher bereits Kinder ohne gültige Papiere bei der Ausländerbehörde melden. Wer nun aber im Zentralen Schülerregister steht, ist auch zentral gespeichert, ein Datenabgleich mit den den Meldedaten findet automatisch statt. Die Schulen stehen unter erheblichem Druck, die Daten der Schüler zu erheben. Papierlose Kinder könnten zwar ganz verschwiegen werden. Diese sind dann aber auch nicht existent für Zeugnisse und Abschlüsse und wären bei Schulunfällen nicht versichert.

Was haben wir gelernt, Frau Dinges-Dierig?

  1. Ihre Datensammelwut verstärkt das humanitäre Problem von Flüchtlingen und Familien ohne gültige Aufenthaltsgenehmigungen, anstatt es zu reduzieren. Betreffenden Kindern wird de facto das Recht auf Bildung verweigert.
  2. Der angegebene Zweck, die Schulpflicht für alle Kinder durchzusetzen, wäre kostengünstiger auch mit anderen Methoden erreichbar – beispielsweise, wenn Ihre Behörde Schulpflichtverletzungen tatsächlich nachgehen würde.  
  3. Werden Daten gesammelt und zentral gespeichert, so können sie missbraucht, also für viele Zwecke genutzt werden.

Herzlichen Glückwunsch zum BigBrotherAward, Frau Dinges-Dierig.

Laudator.in

Alvar Freude am Redner.innenpult während der BigBrotherAwards 2008.
Alvar Freude, Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG)
Quellen (nur eintragen sofern nicht via [fn] im Text vorhanden, s.u.)

1 Artikel 26 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

2 Artikel 2 im 1. Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zur Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950, von Deutschland 1952 ratifiziert

3 Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, kurz: Sozialrechtspakt, 1966 von der UN-Generalversammlung einstimmig verabschiedet, von Deutschland 1968 unterzeichnet und 1973 vorbehaltlos ratifiziert

4 Übereinkommen über die Rechte des Kindes, 1989 von der UN-Generalversammlung angenommen; Deutschland hat neben Österreich als einziges europäisches Land die Kinderrechtskonvention nur unter dem Vorbehalt unterschrieben, dass das deutsche Ausländerrecht Vorrang habe.

5 Verordnung über die Verarbeitung personenbezogener Daten im Schulwesen (Schul-Datenschutzverordnung) vom 20. Juni 2006 (Web-Archive-Link)

6 https://fluchtpunkt-hamburg.de/ und https://www.kinderfluchtpunkt.de/ [Inhalte nicht mehr verfügbar]

7 siehe bspw. Taz-Artikel vom 12.10.2006: "Kindeswohl wird registriert" (Web-Archive-Link)

Jahr
Kategorie
Politik (2007)

Peer Steinbrück

Eine Nummer für jeden Menschen, mit der von der Wiege bis zur Bahre alle Verwaltungsvorgänge eindeutig einer Person zugeordnet werden können. Klingt vielleicht praktisch, ist aber 1969 vom Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages für verfassungswidrig erklärt worden. Kein Grund für den heutigen Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück, von der Idee abzulassen. Dafür gibt es den BBA 2007 in der Kategorie „Politik“.
Laudator.in:
Werner Hülsmann am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2004.
Werner Hülsmann, Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF)

Der BigBrotherAward 2007 in der Kategorie „Politik“ geht an den Bundesminister der Finanzen, Herrn Peer Steinbrück, für die Einführung einer lebenslangen Steuer-Identifikationsnummer (Steuer-ID) für alle Einwohnerinnen und Einwohner der Bundesrepublik Deutschland. Diese Steuer-ID gilt von der Geburt bis über den Tod hinaus. Um diese Steuer-ID erstellen und zuteilen zu können, übermitteln alle Meldebehörden in der Bundesrepublik Deutschland dem Bundeszentralamt für Steuern Daten aller in ihrem Zuständigkeitsbereich im Melderegister registrierten Einwohnerinnen und Einwohner.

Das Bundeszentralamt für Steuern teilt der zuständigen Meldebehörde anschließend die dem Steuerpflichtigen zugeteilte Identifikationsnummer zur Speicherung im Melderegister mit. Zukünftig müssen die Meldebehörden dann jede registrierte Geburt sowie Änderungen der bereits übermittelten Daten mitteilen.

Begründet wird die Einführung der Steuer-ID mit dem Erfordernis, “eine eindeutige Identifizierung des Steuerpflichtigen in Besteuerungsverfahren“ zu ermöglichen. Genau dies ist aber die Funktion eines verfassungswidrigen Personenkennzeichens (PKZ). Bereits 1969 erklärte das Bundesverfassungsgericht im Mikrozensusurteil: „Mit der Menschenwürde wäre es nicht zu vereinbaren, wenn der Staat das Recht für sich in Anspruch nehmen könnte, den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren“.

Schon einmal war geplant, mit dem Bundesmeldegesetz eine einheitliche Personenkennziffer für alle Einwohnerinnen und Einwohner der Bundesrepublik Deutschland einzuführen, um Verwaltungsvorgänge zu rationalisieren. Damals - vor 31 Jahren - hat der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages – mit Blick auf das Mikrozensus-Urteil – festgestellt, dass „die Entwicklung, Einführung und Verwendung von Nummerierungssystemen, die eine einheitliche Nummerierung der Bevölkerung im Geltungsbereich dieses Gesetzes ermöglicht, unzulässig ist", und das Vorhaben wurde verworfen.

2003 hatte der Rechtsausschuss des Bundestages leider keine Einwände mehr gegen eine Personenkennziffer, kurz PKZ, die nunmehr Steuer-Identifikationsnummer heißt. So heißt es nun im § 6 Absatz 1 der Abgabenordnung:

„Zum Zwecke der erstmaligen Zuteilung der Identifikationsnummer übermitteln die Meldebehörden dem Bundeszentralamt für Steuern für jeden in ihrem Zuständigkeitsbereich mit alleiniger Wohnung oder Hauptwohnung im Melderegister registrierten Einwohner folgende Daten:

  1. Familienname (mit Namensbestandteilen)
  2. frühere Namen
  3. Vornamen
  4. Doktorgrad
  5. Ordensnamen/Künstlernamen
  6. Tag und Ort der Geburt
  7. Geschlecht
  8. gegenwärtige Anschrift der alleinigen Wohnung oder der Hauptwohnung“

Das Bundeszentralamt für Steuern speichert diese Daten zu allen Einwohnerinnen und Einwohnern ergänzt um die Steuer-ID, das zuständige Finanzamt und den Todestag. In den „Genuss“ einer Steuer-ID kommen auch alle Neugeborenen. Dies begründet das Bundesfinanzministerium wie folgt:

„Nach dem Einkommensteuergesetz sind natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, bereits mit der Geburt einkommensteuerpflichtig. Zwar werden diese Steuerpflichtigen im Regelfall noch keine Einkommensteuer schulden, dennoch kommen derartige Konstellationen vor (z.B. bei Kapitalerträgen, die Kinder aus ererbten Vermögen erzielen). Ohne die IdNr. wären solche Fälle nur schwer feststellbar, da die Finanzämter auf Grund der fehlenden steuerlichen Erfassung keine Informationen über den Steuerschuldner hätten.“

Die Steuer-ID bleibt den Einwohnern und Einwohnerinnen ihr Leben lang erhalten, egal ob sie heiraten, ihren Namen ändern, umziehen, ihr Geschlecht umwandeln oder sterben: Deine Steuer-ID verlässt Dich nicht! Sie bleibt sogar noch 20 Jahre nach dem Tod erhalten.

Zwar ist in der Abgabenordnung (AO) festgelegt, dass die Steuer-ID nur für die in der AO festgelegten Zwecke genutzt werden darf: Zum Einen enthält die Aufzählung der Zwecke die Öffnungsklausel: „den Finanzbehörden die Erfüllung der ihnen durch Rechtsvorschrift zugewiesenen Aufgaben zu ermöglichen.“ Sobald also die Aufgaben erweitert werden, erhält auch die Steuer-ID neue Bedeutungen. Das darf nicht sein, hier müsste genauer definiert werden! Zum Anderen zeigt die Erfahrung, dass auf Dauer alleine die rechtliche Verhinderung von weiteren Nutzungsmöglichkeiten nicht ausreicht, da Gesetze den steigenden Bedürfnissen von Behörden oder der Wirtschaft angepasst werden können. Hinzu kommt, dass nur der „ordnungswidrig handelt, wer [die Steueridentifkationsnummer] als nicht öffentliche Stelle [Hervorhebung durch BBA-Jury] vorsätzlich oder leichtfertig (…) für andere als die zugelassenen Zwecke erhebt oder verwendet, oder (…) seine Dateien nach der Identifikationsnummer für andere als die zugelassenen Zwecke ordnet oder für den Zugriff erschließt.“ Die missbräuchliche Nutzung der Steuer-ID durch öffentliche Stellen wird also nicht geahndet!

Die Schlinge des Staates um den Bürger zieht sich immer weiter zu, wenn zusätzlich zur Identifikation per Biometrie und Kameras auch noch die finanziellen Transaktionen direkt mit einer Person verknüpft werden können. Diese technischen Verknüpfungsmöglichkeiten wecken sicherlich Begehrlichkeiten, die über kurz oder lang dazu führen werden, dass die Liste der zulässigen Zwecke, zu denen die Steuer-ID genutzt werden darf, lang und länger werden wird.

Herzlichen Glückwünsch zum BigBrotherAward, Herr Bundesfinanzminister Peer Steinbrück!

Laudator.in

Werner Hülsmann am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2004.
Werner Hülsmann, Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF)
Jahr
Kategorie

Über die BigBrotherAwards

Spannend, unterhaltsam und gut verständlich wird dieser Datenschutz-Negativpreis an Firmen, Organisationen und Politiker.innen verliehen. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und wurden deshalb von Le Monde „Oscars für Datenkraken“ genannt.

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Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden fragwürdige Praktiken mit diesen Preisen ausgezeichnet.