Politik (2002)

Volker Bouffier

Ausgezeichnet wird der hessische Innenminister Volker Bouffier wegen der Wiederbelebung der gerichtlich gerügten Rasterfahndung.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Fredrik Roggan.
Dr. Fredrik Roggan, Humanistische Union (HU)

Der BigBrotherAward der Kategorie "Politik" geht an den Hessischen Innenminister Herrn Volker Bouffier.

Das Innenministerium des Landes Hessen hat unter der Leitung von Herrn Bouffier eine Polizeirechtsnovelle zu verantworten, mit der die Voraussetzungen zur Rasterfahndung erheblich herabgesetzt wurden. Auf diese Weise wurde gleichsam eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt/Main konterkariert.

Herr Bouffier erhält den diesjährigen Preis stellvertretend für die Innenminister anderer Bundesländer, die nach dem 11. September 2001 ihre Polizeigesetze ad hoc ergänzten und dabei die Schwellen für eine Rasterfahndung - im Vergleich zu anderen Bundesländern - wesentlich herabsetzten.

Gründe

Die Rasterfahndung ist eine Befugnis aus dem Ausnahmezustand. Es handelt sich bei ihr um eine Fahndungsmethode, bei der notwendig die Daten von in jeder Hinsicht unverdächtigen BürgerInnen herangezogen werden.

Das kann im Rechtsstaat nur unter restriktivsten Voraussetzungen erlaubt sein; der Unverdächtige ist prinzipiell von staatlichen Organen in Ruhe zu lassen. Die Rasterfahndung ist deshalb unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nur dann nicht zu beanstanden, wenn sie sowohl in ihren gesetzlichen Voraussetzungen als auch in ihrer Anwendung diesem Ausnahme-Charakter entspricht. Nur konkrete und existentielle Gefahren dürfen mit ihrer Hilfe abgewehrt werden.

Der alte § 26 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung entsprach diesen Anforderungen.

Die Rasterfahndungen nach dem 11. September aber zeichneten sich nicht nur durch ein extrem unscharfes Täterprofil aus: In den Anordnungen wurden die "Verdächtigen" definiert mit Merkmalen wie: "Vermutlich islamische Glaubenszugehörigkeit ohne nach außen tretende fundamentalistische Grundhaltung, vermutlich legaler Aufenthalt, Studientätigkeit, keine Auffälligkeiten im allgemeinkriminellen Bereich, finanzielle Unabhängigkeit usw.". Es war schon zweifelhaft und wurde auch von so manchem Polizisten offen bekannt, dass solche Merkmale kaum geeignet sein konnten, Terroristen vom Schlage eines Mohammed Atta aufzuspüren.

Außerdem betont Bundesinnenminister Schily (Preisträger des vergangenen Jahres) bis heute, dass es überhaupt keine konkreten Anzeichen für Anschläge in der Bundesrepublik gibt. Tatsächlich verneint er damit explizit das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Rasterfahndung.

Auch das Hessische Polizeigesetz verlangte bis zu seiner von Herrn Bouffier initiierten Novellierung eine gegenwärtige Gefahr für ein höchst-rangiges Rechtsgut (wie etwa den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes). Ohne gegenwärtige Gefahr also keine Rasterfahndung.

Das Oberlandesgericht Frankfurt hatte den Bundesinnenminister beim Wort genommen und die Rasterfahndung in Hessen für rechtswidrig erklärt. Und damit offenbar einen für den hessischen Innenminister unhaltbaren Zustand herbeigeführt, denn die Rasterfahndung war damit unverzüglich einzustellen. Durch das Urteil war damit das Schicksal einer Vorschrift besiegelt, die sich an den genannten engen Voraussetzungen für eine Polizeibefugnis, die Unverdächtige in Anspruch nimmt, orientierte.

Hervorzuheben - und deshalb preis-begründend - an der von Herrn Bouffier zu verantwortenden Gesetzesverschärfung ist zweierlei:

Das Erfordernis der "gegenwärtigen Gefahr" wurde ersatzlos gestrichen. Damit kann künftig gerastert werden, wenn das der vorbeugenden Bekämpfung von bestimmten Straftaten dient. Nachprüfbarer Tatsachen, aus denen sich die Bedrohung ergibt, bedarf es nicht mehr. Der Richtervorbehalt wurde zugunsten der Anordnung durch die polizeiliche Behördenleitung und die Zustimmung des Landespolizeipräsidiums ersetzt. Damit wurde die polizeiexterne Kontrolle durch einen anordnungsberechtigten Richter abgeschafft.

Herr Bouffier hat damit jene Hindernisse, die der Rasterfahndung nach der wohlbegründeten Entscheidung der Frankfurter Richter entgegenstanden, schlicht beseitigt, um damit auch in Hessen in Zukunft wieder rastern zu dürfen. Dazu wurde insbesondere die offenkundig lästige Mitwirkung einer polizeiexternen Institution kalt gestellt. Die Botschaft ist klar: Wenn die Gerichte nicht spuren, werden sie beim nächsten Mal erst gar nicht mehr gefragt. Und was wäre eine "moderne Terrorbekämpfung", wenn die Polizei auch noch Tatsachen, die auf das Vorliegen einer Bedrohung hinweisen, darlegen müßte? Solcherlei rechtsstaatliche Restriktionen erscheinen - auch Herrn Bouffier - nicht mehr zeitgemäß. Deshalb, und darin liegt ein rechtsstaatliches Drama, mußte die Rasterfahndung einen wesentlichen Charakterzug einer Ausnahmebefugnis verlieren.

Die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Frau Prof. Dr. Jutta Limbach, warnte auf dem diesjährigen Anwaltstag, dass es allemal Grauzonen und schleichende Übergänge zum Polizeistaat gebe, die zu steter Wachsamkeit herausforderten. Die Verleihung des diesjährigen BigBrotherAward an Herrn Bouffier sollte als Ausdruck solcher Wachsamkeit verstanden werden.

Herzlichen Glückwunsch, Herr Bouffier!

Laudator.in

Portraitaufnahme von Fredrik Roggan.
Dr. Fredrik Roggan, Humanistische Union (HU)
Jahr
Kategorie
Verbraucherschutz (2002)

Deutsche Post

Die Preisvergabe erfolgt wegen des datenschutzwidrigen Umgangs mit Nachsendeanträgen an die Deutsche Post AG.
Laudator.in:
padeluun am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
padeluun, Digitalcourage

Der BigBrotherAward der Kategorie "Verbraucherschutz" geht an die Deutsche Post AG wegen ihres datenschutzwidrigen Umgangs mit Adressangaben aus den Post-Nachsende-Anträgen.

Gründe

Die Deutsche Post AG bietet ihren Kunden im Fall eines Wohnungswechsels an, mit alter Anschrift adressierte Sendungen an die neue Anschrift weiterzusenden. Dies ist sehr sinnvoll. Im Rahmen dieses Nachsendeauftrages wird vom Kunden formularmäßig dessen Einverständnis eingeholt, dass "diese dauerhafte Anschriftenänderung denjenigen, die die alte Anschrift bereits kennen, zur Adressaktualisierung zur Verfügung (gestellt wird), damit möglichst viele zukünftige Postsendungen sofort die neue Anschrift erhalten". Zum Beispiel sendet der FoeBuD Einladungen zu den BigBrotherAwards an Adressen von Menschgen, die diese Einladungen haben wollen. Ist jemand umgezogen, schickt die Post dem FoeBuD e.V. die neue Anschrift, damit wir die Adressdaten in unserer Adress-Kartei korrigieren können. Hat jemand der Weitergabe der neuen Anschrift widersprochen, bekommen wir die neue Anschrift - natürlich - nicht.

Statt den Postkunden aber eine richtige Wahlmöglichkeit z.B. per Ankreuzen zu eröffnen, müssen sie, wenn sie ihre neue Anschrift gegenüber Anderen geheimhalten wollen, diese - sprachlich leicht missglückte - vorformulierte Erklärung streichen. Dies führt dazu, dass nur 8% auf ihrem Nachsendeantrag einer Datenweitergabe widersprechen. Würde dagegen eine aktive und bewusste Einwilligungserklärung eingeholt, so hätte die Post für die Datenweitergabe eine erheblich niedrigere Akzeptanz und entsprechend weniger Möglichkeiten zur lukrativen Vermarktung der Umzugsdaten. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz berichtet von vielen Beschwerden, die darauf zurückzuführen sind, dass die Betroffenen von ihrer Einwilligung zur Datenweitergabe keine Ahnung hatten.

Wer nun meint, mit dem Streichen seiner Einwilligungserklärung eindeutig seinen Willen zum Ausdruck gebracht zu haben, der wird dadurch überrascht, dass er (wie uns jüngst mitgeteilt worden ist) von der Deutschen Post AG mit dem Hinweis angeschrieben wird, dass bei Bezug einer Zeitschrift über die Deutsche Post diese nicht mehr an die neue Adresse gesendet werden könne. Um zu verhindern, dass ein Zeitschriftenverlag die neue Adresse erhält, müsse der Postkunde eine Karte zurücksenden "entsprechend ausgefüllt und unterschrieben innerhalb von 10 Werktagen nach Erhalt dieses Schreibens". Anderenfalls werde - obwohl die Einwilligung zur Datenweitergabe schon ausdrücklich verweigert wurde - die Adresse an den Verlag weitergegeben. Diese Aufforderung ergeht auch dann, wenn ein Postkunde überhaupt keine Zeitschrift abonniert hat, oder wenn er den Verlag schon selbst über den Adresswechsel informiert hatte.

Aber damit nicht genug der Missachtung des Willens ihrer Kunden: Es wird nigendwo auf dem Formular erwähnt und auch in der vorgegebenen "Einwilligungserklärung" ist es nicht vorgesehen, dass Lizenznehmer im deutschen Postmarkt die geänderten Daten unter Verweis auf § 29 Abs. 2 PostG von der Post gegen Entgelt zur Verfügung gestellt bekommen müssen. Und das auch, wenn der Kunde explizite der Weitergabe widersprochen hat.

Außerdem: Wer meint, letztendlich blieben die Daten bei der Deutschen Post AG insgesamt in guten Händen, der sieht sich abermals getäuscht: Tatsächlich bedient sich die Post AG für die Durchführung des Nachsendeverfahrens der Deutschen Post Adress GmbH, einer gemeinsamen Tochter mit der Bertelsmann AG Gütersloh. Die Deutsche Post Adress bietet unter Zuhilfenahme eines Dienstleisters mit dem Namen Pan Adress im Internet den Adressabgleich mit Lieferung der neuen Adresse im Dialogbetrieb an, für Euro 2,40 bei erfolgreicher und für Euro 0,14 für die erfolglose Suchanfrage. Ab 1 Million Adressen ist auch eine "Inhouse-Lösung" beim Nutzenden selbst möglich: Werbeslogan: "ganz gleich, ob sie über 1 Millionen Adressen auf den neuesten Stand bringen wollen oder um 5 Uhr morgens eine einzige abfragen, bei unserer Umzugsdatenbank sind sie an der richtigen Adresse." 14-tägliche Updates mit etwa 6,5 Mio. Adressen oder quartalsweise Updates mit ca. 13 Mio. Adressen werden auch gegen gutes Geld zum Zweck der CD-ROM-Recherche Anfragenden nach Hause geschickt.

Firmen, die solche Dienstleistungen nutzen dürfen sich, wenn sie die Daten nicht im eigenen Haus bearbeiten wollen - z.B. bei Großaufträgen - eines Auftragsdatenverarbeiters bedienen, so dass nochmals eine weitere Firma Zugang zu den zweckgebundenen Daten erhält.

Liest man die Liste der Vertriebspartner - Werbeslogan: "gute Adressen, gute Vertriebspartner" - der Umzugsdatenbank, so scheint diese identisch zu sein mit dem "who is who" des Adressenhandels: SAZ Garbsen, AZ Bertelsmann Gütersloh, Merkur Einbeck, Deutsche Post Direkt Bonn, Schober Ditzingen, Prodata Karlsruhe, pan-adress Planegg und viele andere mehr. Noch besser ist es, mit der Adresssuche die Fa. Adress Research zu beauftragen, denn diese hat ihren Sitz an der gleichen Adresse wie die Post Adress (Schalückstr. 38, 3332 Gütersloh). Die Deutsche Post AG beauftragt eine Post Adress GmbH, ein Nutzer beauftragt eine Firma Adress Research. Und die beiden Firmen, die da im Auftrag Verträge über Daten anderer Menschen miteinander schließen, sind de facto die gleiche Firma. Für die Betroffenen die zu all dem angeblich ihre Einwilligung erteilt haben, bleibt dies alles im Dunkeln.

Der Glaube, dass diese Daten nur im Fall einer bestehenden Kundenbeziehung zur Verfügung gestellt würden, wird schon durch die Lektüre der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Post Adress zerstört: Dort soll für die Datennutzung schon ein "berechtigtes Interesse" genügen. Als Beispiel für solch ein "berechtigtes Interesse" wird jemand genannt, der "zivilrechtliche Ansprüche gegenüber dieser Person verfolgt", egal ob zu Recht oder zu Unrecht. Der Nutzer muss sein "berechtigtes Interesse" nur behaupten, eine Prüfung erfolgt nicht. Eine allzu strenge Prüfung wäre für die Post auch geschäftsschädigend, verdient sie doch mit den Umzugsdaten um so mehr Geld, je mehr diese von Dritten abgefragt werden. So ist es auch kein Wunder, dass die Post anbietet, ohne weitere Prüfung den Internet-Zugangscode zu den Daten nach Anerkennung der Zahlungsbedingungen zuzusenden, und zwar "postwendend". Das "berechtigte Interesse" muss nicht einmal das eigene sein. Rechtsanwälte, Ärzte oder Steuerberater dürfen selbst für ihre Kunden bzw. Mandanten die Umzugsdatenbank anzapfen, wobei dann der Rechtsanwalt "dafür einsteht", dass mit diesen Daten kein Unfug geschieht. So kann es auf vielerlei Wegen auch heute noch passieren, dass die Umzugsdaten zur Pflege von Direktmarketing-Beständen genutzt werden oder in die Hände persönlicher Feinde geraten.

Schon im Jahr 2001 war die Deutsche Post AG wegen ihres Umzugsservices für den Big Brother Award nominiert worden, als sie noch nicht ihre aktuelle Widerspruchskarten-Aktion gestartet hatte. Um eine Stellungnahme gebeten, verwies die Deutsche Post AG auf die Einwilligung zur Datenweitergabe und darauf, dass das Nachsende- und das Adressaktualisierungs-Verfahren mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz abgestimmt seien.

Liest man dagegen die Tätigkeitsberichte des Bundesbeauftragten, so gibt es wenig Grund zu Euphorie. Im Gegenteil: Man findet, dass die Post Adress GmbH dort durchaus negativ aufgefallen ist. Der Bundesdatenschutzbeauftragte kreierte in Anlehnung an das Wort "Geldwäsche" für diese Direktwerber-Gemengelage das Wort "Adressenwäsche".

In seinem 16. Tätigkeitsbericht stellte der dar, dass die Deutsche Post Adress GmbH die aktualisierten Daten nicht nur zur Korrektur von Kundenanschriften verwendete, sondern auch zur Aktualisierung von Adressmaterial von Adressenhändlern. Entgegen der eindeutigen Zweckbindung hatte die Deutsche Post Adress GmbH nach Ablauf des Nachsendezeitraums die Adressdaten für die Zusendung von Direktwerbung für andere Firmen im Rahmen des sog. Listbroking selbst verwendet. In einem Fall nutzte die Post-Bertelsmann-Tochter die Umzugsdaten gar für eine Werbeaktion einer Lottogesellschaft mit der Folge, dass selbst Minderjährige hierüber zum für sie unzulässigen Glücksspiel aufgefordert wurden.

Selbst wenn die Post wirklich die Vorschrift "Neue Adresse nur gegen die alte Adresse" ernst nimmt, gäbe es einen Schutz gegen die Werbeflut gäbe es nur, wenn die Firma, die die neue Anschrift bekommt, diese niemals für Werbezwecke weiter geben würde.

Tatsächlich benutzen die Unternehmen ihre aktualisierten Kundendaten dafür, um sie für teures Geld Drittfirmen für Werbezwecke zur Verfügung zu stellen.

  • Spätestens seit dem In-Kraft-Treten der Europäischen Datenschutzrichtlinie von 1995 muss gewährleistet sein, dass die betroffene Person ihre Einwilligung "ohne jeden Zweifel gegeben hat".
  • Schon seit Jahren verlangt das Bundesdatenschutzgesetz, dass Einwilligungserklärungen im Erscheinungsbild "hervorzuheben" sind.

Und dennoch beschafft sich die Deutsche Post AG unter Missachtung dieser Grundsätze bis heute täglich Tausende von neuen Daten, nicht nur, um Post korrekt zuzustellen, sondern auch, um mit diesen Daten zu handeln. Das Ganze erfolgt mit einem Text, der nicht ansatzweise eine Zweckbegrenzung enthält und dessen Beachtung nicht gewährleistet ist. Dass selbst der erklärte ablehnende Wille der Kunden keine Geltung haben soll, ist die Krönung des egoistischen Paternalismus der Deutschen Post AG.

Ihr ist dabei wohl nicht klar, was sie bei einzelnen Betroffenen anrichtet: Bezüglich. der Erreichbarkeit sind Menschen auf die Post und im Fall des Umzugs auf den Nachsendeservice angewiesen. Auch die Adresse kann ein sensibles Datum sein. "Unter den Bedingungen der automatisierten Datenverarbeitung gibt es kein belangloses Datum mehr" (BVerfG NJW 1984, 422). Immer wieder wollen sich Menschen durch einen Umzug Belästigungen oder gar Bedrohungen entziehen, die zum Beipiel von einem gewalttätigen Ex-Partner ausgehen. Es ist nicht nur datenschutzrechtlich, sondern auch moralisch ein Unding, wie der Wunsch "in Ruhe gelassen zu werden" von der Post AG mit ihrer Umzugsdatenbank sabotiert wird. Dafür erhält sie den Big Brother Award 2002 im Bereich "Verbraucherschutz".

Herzlichen Glückwunsch Deutsche Post AG.

Laudator.in

padeluun am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
padeluun, Digitalcourage
Jahr
Kategorie
Regional (2002)

Fritz Behrens

Der Versuch, mit zweifelhaften Methoden eine Novelle des Polizeigesetzes NRW zu lancieren, zeichnet Innenminister Behrens nicht aus. Dafür jedoch die Jury.
Laudator.in:
Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage
padeluun am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
padeluun, Digitalcourage

Der BigBrotherAward der Kategorie "Regional" geht an Fritz Behrens Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen für seinen Versuch, auf undurchsichtige Weise eine Novelle des Polizeigesetzes des Landes NRW zu lancieren, mit der video- bzw. kameragestützte Überwachung öffentlicher Plätze im Bundesland möglich werden sollen.

Gründe

Es ist ja nur der Regionalpreis - deswegen wollen wir's kurz machen. Auf der anderen Seite passiert, das was hier in Nordrhein-Westfalen passiert, so oder so ähnlich in fast allen anderen Bundesländern in Deutschlands, also wollen wir auch darauf hinweisen, dass dieser Preis - obgleich es nur der Regionalpreis ist - eine weit reichende Bedeutung hat.

Lobbyvereine - allen voran wohl der Zentralverband der Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) e.V. - drücken das Thema Videoüberwachung in die politischen Gremien hinein. Aber dem Thema Videoüberwachung wollen wir gar keinen Preis verehren, denn hier ist längst klar, dass es nicht um mehr Sicherheit, sondern nur darum geht, Bürgerinnen und Bürgern zu suggerieren, dass man schon "was tut". Videoüberwachung auch gar nicht mehr so genannt, sondern euphemistisch mit dem Wort "Videoschutz" bemäntelt.

Dass dieses "so tun, als ob man etwas tut" (also das, was man auch "symbolische Politik" nennt) so ganz nebenbei die Grundrechte aushebelt, ist genauso bekannt, wie die Tatsache, dass Videoüberwachung nichts bringt - einer der Gründe vielleicht, warum es in Deutschland bei allen Pilotprojekten zur Videoüberwachung keine seriöse und haltbare wissenschaftliche Evaluation gibt.

Wo es keine seriösen Zahlen gibt, müssen nach den Spielregeln des lauteren Donaldismus anscheinend welche herbeigedichtet werden.

Warum? Ja, - wir staunen - mit Datum 17.7.2002 veröffentlicht das Innenministerium NRW eine Presseerklärung, dass in NRW zukünftig in "Kriminalitätsbrennpunkten mit gezielter polizeilicher Videoüberwachung auch gegen Diebstahl, Körperverletzung und Sachbeschädigung" vorgegangen werden soll.

Das ganze mit Verweis auf ein vorgeblich erfolgreiches Pilotprojekt in Bielefeld. Hier wurde von Ende Februar 2001 bis Ende März 2002 ein öffentlicher Park überwacht. Übrigens genau jene hübsche Parkanlage, in dem das Gebäude steht, in dem die Verleihung der BigBrotherAwards vorgenommen wurde.

Das Innenministerium verweist auf die "erfolgreichen Zahlen" des Bielefelder Modellprojekts. Die sollen jetzt dafür herhalten, dass das Polizeigesetz des Landes NRW geändert werden soll, so dass Videoüberwachung zukünftig an allen öffentlichen Plätzen erlaubt ist.

Tatsächlich gibt es solche "erfolgreichen Zahlen" nicht: Die Zahl der Straftaten im Ravensberger Park ging bereits im Jahr 2000 entscheidend zurück. Ups, - kleiner Schönheitsfehler - das war 1 Jahr vor der Installation der Überwachungsanlagen im Ravensberger Park. Die exakt gleichen Zahlen der Polizei zu Grunde legend, können wir heute völlig zu Recht und objektiv erklären, dass die Zahl der Straftaten im Park seit Installation der Kameras nicht gesunken, sondern im Gegenteil um 50% gestiegen ist - von 6 Straftaten im Jahr 2000 auf 9 Straftaten im Jahr 2001 (wahrlich ein Kriminalitätsschwerpunkt hier!).

Der Rückgang von Straftaten vor Installation der Kameras von 1999 auf 2000 hatte andere Gründe: Das Gelände wurde wegen der Expo hübsch gemacht, aufgeräumt, Sträucher zurück geschnitten, eine Ruine entfernt resp. renoviert, neue Beleuchtung installiert. Die Angebote für Alkohol- und andere Suchtkranke wurden deutlich verbessert, so dass für diese weniger Notwendigkeit bestand, sich im Park aufzuhalten.

Richtig ist: Eine Evaluation des sogenannten Modellprojektes Videoüberwachung kann es wegen fehlender Zahlen nicht geben. Der beauftragte Gutachter, Prof. Dr. Klaus Boers vom Institut für Kriminologie der Universität Münster lehnte die wissenschaftliche Begleitung deswegen ab.

Ich will es nicht so spannend machen, wer denn nun den Preis, den beim Oberthema "Video-Disziplinierung" eigentlich so viele verdient haben, zuerkannt bekommt: Es ist der Innenminister des Landes NRW, Fritz Behrens Er weilt bis Sonntag noch im Urlaub und kann deswegen - natürlich nur deswegen - diesen Preis nicht annehmen.

Er bekommt diesen Preis nicht - ich erwähnte es eingangs schon - wegen des Modellprojektes Videoüberwachung an sich. Sondern für das - hm, ich sag mal - "Herbeilügen" von Erfolgen. Vom seriösen Forscher in Münster hatte es einen Korb gegeben. Am 25. Juli 2002 schickte IM Behrens dem Präsidenten des Landtages NRW in 180-facher Ausfertigung einen Abschlussbericht der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Bielefeld, wo die Polizeibeamten für den gehobenen Dienst ausgebildet werden - und einer der verantwortlichen Polizisten des Videoüberwachungsprojekts war auch gleich einer der Leiter der Projektstudie.

Im Anschreiben des Ministers zum selbst bestellten Bericht lesen wir, dass es sich bei dem Bericht um eine erste Evaluation handele, zwangsläufig noch auf einer recht schmalen Datenbasis. Diese solle fortgesetzt werden, durch ein Forschungsprojekt, dass im Herbst 2002 konkret durchgeführt werden solle. Und er beabsichtige, dieses weiterführende Projekt mitfördernd zu gestalten.

Das mutet wie richtige Forschung an. Und die Presseagenturen meldeten in ganz Deutschland, wie wunderbar toll auch dieses Modellprojekt erfolgreich gewesen sei. Und in der Zwischenzeit wird schon mal das Polizeigesetz, § 15, Absatz 2 des Polizeigesetzes NRW geändert. Aufgrund eines tendenziösen, unwissenschaftlichen Berichts, der, wie Minister Behrens in seinem Schreiben zugibt, wissentlich auf ungenügendem Zahlenmaterial beruht.

Die BigBrotherAwards werden in Bielefeld vergeben. In Baden-Württemberg hätten wir über einen Fall von beobachteter illegaler Taubenfütterung geschmunzelt, im bayerischen Regensburg hat die Videoüberwachung auch keine Ergebnisse gebracht. Aber alle diese Projekte waren angeblich erfolgreich. Wie solch ein nicht vorhandener Erfolg konstruiert wird, haben wir hier vor Ort hautnah mit erleben dürfen. Aufgrund eines solchen wissentlich auf ungenügendem Zahlenmaterial beruhenden, tendenziösen, unwissenschaftlichen Berichtes eine schwerwiegende Gesetzesänderung, die in demokratische Grundrechte eingreift, veranlassen zu wollen ist unverantwortlich - und preiswürdig.
Dafür gibt's den BigBrotherAward.

Herzlichen Glückwunsch, Herr Minster!

Laudator.in

Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage
padeluun am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
padeluun, Digitalcourage
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Weitere Informationen:

Jahr
Kategorie
Arbeitswelt (2002)

Bayer

Für die demütigende Praxis, Auszubildende vor der Einstellung einem "Drogentest" zu unterziehen, wird die Bayer AG ausgezeichnet.
Laudator.in:
Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage

Der BigBrotherAward der Kategorie "Arbeitswelt" geht an die Bayer AG, Leverkusen da sie Bewerberinnen und Bewerber, die im Unternehmen eine Ausbildung machen wollen, zu einem Drogentest. Dafür müssen die Betroffenen eine Urin-Probe abgeben. Formal haben sie die Wahl und können den Drogentest auch ablehnen - faktisch kann hier von "freiwilliger Zustimmung" keine Rede sein. Denn allen ist klar: wer den Drogentest verweigert, hat schlechte Karten bei der Vergabe der Ausbildungsplätze.

Gründe

Die Schweigepflicht der - wohlgemerkt - "Werks- oder Betriebsärzte" ist zwar offiziell gewährleistet, denn die Details der Test-Ergebnisse dürfen der Firmenleitung nicht mitgeteilt werden. Stattdessen gibt es den Vermerk "Bewerber/in geeignet" oder "nicht geeignet". Ein Etikett mit weitreichenden Folgen auf wackeliger Grundlage.

Als Begründung für die Drogentests wird die Arbeits-Sicherheit angeführt - auch wenn es bislang noch keine Studien über die Folgen von illegalem Drogenkonsum am Arbeitsplatz gibt. Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e.V. geht jeder dritte bis vierte Arbeitsunfall auf die legale Droge "Alkohol" zurück - Alkohol wird aber bei diesen Tests gar nicht geprüft.

Fest steht: Die Urintests dienen der Selektion im Vorfeld. Damit zeugen die Tests von einem grundsätzlichen Mißtrauen einer Unternehmensleitung gegenüber den potentiellen Mitarbeitern. Generalverdacht für alle, statt Unschuldsvermutung, wie sie in unserem Rechtsstaat eigentlich üblich ist. Und: Kontrolle statt Beratung.

Urintests sind entwürdigend. In Gegenwart eines möglichen zukünftigen Kollegen eine Pinkelprobe abgeben zu müssen, ist eine Demütigung. Mit einem solchen Drogentest muß man auch sein Privatleben und seine Freizeitgewohnheiten dem Konzern gegenüber offenlegen - und das im immer häufiger schon im Vorfeld, noch bevor man bei einem Unternehmen in Lohn und Brot steht.

So haben Urintests den Nebeneffekt, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzuschüchtern und ihnen die Macht des Unternehmens zu demonstrieren, indem sie sprichwörtlich am eigenen Leibe erfahren, dass Menschenwürde und Privatsphäre hinter den Fabriktüren nur noch eingeschränkt Gültigkeit haben. Barbara Ehrenreich schreibt in ihrem Buch "Arbeit poor", für das sie im Selbstversuch Erfahrungen mit Einstellungstests bei us-amerikanischen Billig-Jobs gesammelt hat: "Ich bin mir sicher, dass der eigentliche Sinn dieser Tests darin besteht, nicht etwa dem Arbeitgeber, sondern dem potentiellen Angestellten bestimmte Informationen zu übermitteln. Und die wichtigste Information lautet stets: Du wirst keine Geheimnisse vor uns haben."

Bei all diesen "Nebenwirkungen" sind die Urintests zudem fachlich auch noch ausgesprochen unzuverlässig. Die Fehlerquellen sind vielfältig: Genuß von Mohnkuchen z.B. kann tatsächlich zu einem positivem Opiatergebnis führen. Passivraucher oder Müsli-Esser können sich plötzlich und unerwartet mit einem positiven Cannabis-Wert konfrontiert sehen. Grenzwerte, wieviel einer Substanz im Urin gefunden werden darf, sind unklar.

Und die Nachweiszeiten der verschiedenen Substanzen sind äußerst unterschiedlich: Gefährliche Drogen wie Heroin, Kokain, Extasy und Speed sind nur 1 - 4 Tage nachweisbar, während Marihuana, das vergleichsweise harmlos und mittlerweile gesellschaftlich weithin akzeptiert ist, mehrere Wochen lang im Urin zu finden ist. Das bedeutet: Im Urin sind die Stoffe auch dann noch nachweisbar, wenn der Rausch längst verflogen und die betreffende Person voll arbeitsfähig ist.

Die Bayer AG ist hier exemplarisch nominiert - Drogentests werden in den letzten Jahren bei immer mehr Unternehmen in Deutschland zur gängigen Praxis bei der Bewerberauswahl, insbesondere bei der chemischen Industrie, z.B. BASF und Höchst, aber auch bei DaimlerChrysler in Sindelfingen und Untertürkheim, bei der Deutschen Bahn, bei Bosch, Heidelberger Druckmaschinen, den Kieler Stadtwerken oder der Volkswagen AG Wolfsburg. Damit setzen sie unversehens neue Standards, denn es wird suggeriert, dass Unternehmen, die nicht testen, nun die ganzen Drogenkonsumenten als Bewerber bekämen.

In den USA führen inzwischen über 80 % der umsatzstärksten Unternehmen "drogenscreenings" durch. Entsprechend blüht in den USA der Markt mit Medikamenten zum Ausschwemmen der nachweisbaren Substanzen. Sogar Proben von garantiert drogenfreiem Fremdurin (à 69 Dollar) kann man dort erwerben. So wird der amerikanische Drogentest eher zum Kostenfaktor und Intelligenztest: Wie manage ich es, eine einwandfreie Probe zu bekommen? Die Arbeitsicherheit ist durch diese Tests übrigens nicht nachweisbar verbessert worden. Sie dienen mehr der Gängelung der Arbeitnehmerinnen. Bezeichnenderweise werden Drogenscreenings vor allem bei den unteren Lohnklassen durchgeführt - Ingenieuren, Programmiererinnen und Managern wird diese Prozedur nicht zugemutet.

Ganz nebenbei sind dem Mißbrauch im Unternehmen Tür und Tor geöffnet: Nicht zuletzt kann der für einen Drogentest abgegebene Urin einer Bewerberin auch auf eine etwa bestehende Schwangerschaft geprüft werden. Das ist illegal. Aber wer überprüft, ob das Verbot auch eingehalten wird? Und wer weiß, wie lange das Verbot noch gilt?

Gewerkschaftsvertreter befürchten, dass auch genetische Tests für Bewerber bald hoffähig werden, wenn Urintests stillschweigend akzeptiert werden.

Bayer macht es vor beim Drogenscreening für Auszubildende: Mit Mehrheitsbeschluss des Betriebsrates zur sogenannten Regelabsprache und natürlich völlig freiwillig und mit Zustimmung der Betroffenen ist alles möglich.

Herzlichen Glückwunsch, Bayer AG

Laudator.in

Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage
Jahr
Kategorie
Lebenswerk (2002)

Microsoft

Vor allem für die Einführung des sog. "Digital Rights Managements" (DRM) geht der Hauptpreis an die Software-Firma Microsoft.
Laudator.in:
Patrick Goltzsch am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2000.
Patrick Goltzsch, Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG)

Der Lifetime-Award (und diesjährige Hauptpreis) geht an Kurt Sibold, Geschäftsführer von Microsoft Deutschland.

Die Firma erhält den Preis vor allem für seine Verdienste bei der flächendeckenden Einführung von Kontrolltechnologie für Urheberrechte: Digital Rights Management.

Gründe

Microsoft ist bereits in den vergangenen Jahren aus unterschiedlichen Gründen für den Big Brother Award nominiert worden. Anlass dazu hat die Firma mit unschöner Regelmäßigkeit immer wieder gegeben.

So wird vielen noch in Erinnerung sein, dass Windows 98 bei der automatischen Online-Registrierung die Festplatte und die Hardware-Konfiguration seiner Nutzer durchleuchtete und die Ergebnisse zusammen mit einer Kennung an Microsoft meldete. Diese weltweit einzigartige Identifkationsnummer eines Rechners konnte über das Internet abgefragt werden und tauchte auch versteckt in Office-Dokumenten und E-Mails wieder auf1. Bei Microsofts aktuellem Betriebssystem Windows XP wird der Nutzer nicht mehr automatisch und klammheimlich registriert. Aber die Option, sich nicht zu registrieren, hat er keineswegs. Dann nämlich schaltet sich die Software 30 Tage nach ihrer Installation einfach ab.

Obwohl Microsoft sich schon so oft preiswürdig präsentiert hat, erhält das Unternehmen in diesem Jahr nicht nur den Lifetime-Award sondern auch den Hauptpreis.

Den Anlass lieferte Microsoft mit dem Update für den hauseigenen Media Player. In der damit einhergehenden Veränderung der Lizenz räumte sich Microsoft großzügig das Recht ein, Updates, die das Betriebssystem um Funktionen zum Digital Rights Management (DRM) erweitern, automatisch einzuspielen2.

Digital Rights Management soll ein Problem lösen. Früher waren Inhalte durch die Bindung an ihre materiellen Träger quasi kopiergeschützt. Bei digitalisierten Inhalten verschwindet der Unterschied zwischen Original und Kopie: Auch die 100ste Kopie einer Musik-CD klingt genauso wie das Original. Da die bisherigen Mechanismen zum Kopierschutz immer wieder ausgehebelt wurden, soll nun DRM das Urheberrecht wahren. DRM setzt am Inhalt selbst an: So wird z.B. ein Musikstück mit bestimmten Regeln gekoppelt. Diese Regeln bestimmen dann darüber, wie oft die Musik gehört werden darf, ob sie sich kopieren lässt oder auf welchem Gerät sie abgespielt werden kann. Der Versuch, die Regeln vom Inhalt zu trennen, führt dazu, dass die Musik sich nicht mehr abspielen lässt.

Microsofts Version von DRM trägt den Codenamen Palladium3. Damit bezeichnet der Konzern Grundzüge für ein Betriebssystem, das ein Restriktionsmanagement bereits auf der untersten Ebene verankert. Mit diesem Vorhaben wird der herkömmliche PC grundlegend verändert: Aus einem Allzweckwerkzeug, über das die Anwender bestimmen, wird ein Copyright-Polizist, der in erster Linie die Nutzer kontrolliert.

Das „R“ in DRM muss hier als Restriktion verstanden werden, weil es Software-Herstellern, Filmstudios und Plattenfirmen erlaubt, den Verbrauchern auch nach dem Kauf vorschreiben zu können, wie die Produkte zu verwenden sind. Stellen sie sich vor, dass sie mit ihrem Auto nur noch Benzin einer bestimmten Marke tanken können. Denn an den Tankstellen der Konkurrenz fehlt der per Funk übertragene elektronische Schlüssel, mit dem die Tankklappe freigeschaltet wird. So etwas geschieht natürlich nur im Interesse des Verbrauchers: Der Hersteller hat den Kraftstoff einer bestimmten Marke zertifiziert und kann so für optimale Motorleistung und Lebensdauer garantieren.

Vielversprechend liest sich denn auch Microsofts Begründung des Restriktionsmanagements: Die Verbraucher werden in Zukunft immer sicher sein können, dass der Inhalt, den sie über ihre Rechner sehen oder hören, authentisch und rechtlich einwandfrei ist. Außerdem erhalten sie die Möglichkeit darüber zu bestimmen, was ein Empfänger mit ihrer E-Mail anfangen darf: Darf er sie ausdrucken? Darf er sie weiterleiten? Darf er sie beliebig lange speichern? Zusätzlich werden ein paar Nebelkerzen gezündet, die ein Ende der Virenplage und der unerwünschten E-Mail-Werbung verheißen.

Ungesagt bleibt dabei, dass in dieser schönen, neuen Welt auch die Programme ein Wörtchen mitzureden haben. Denn sie „unterstützen“ – wie es so schön heißt – die Anwender bei der schweren Entscheidung, ob eine Datei aus dubiosen Quellen stammt oder vertrauenswürdig ist. Auf diese Weise zementiert die Computerindustrie, was sie – und auch hier wieder insbesondere Microsoft – durch die sorgfältige Missachtung von Standards bislang nur unvollkommen zustande gebracht hat: Den Verbraucher an ihr – und nur ihr – Produkt zu binden. Denn was hindert ein Programm aus dem Hause Microsoft daran, alles als nicht vertrauenswürdig einzustufen, was nicht mit Microsoft-Produkten erstellt wurde?

Die Informationen, die das Programm benötigt, um die Anwender einschränken zu können, erhält es von seinem Hersteller oder dem Lieferanten des Inhalts. So kontrolliert Microsofts Leseprogramm für elektronische Bücher, auf wievielen Geräten es installiert ist. Mehr als vier Geräte sind nicht erlaubt. Dem Verleger bleiben die Festlegungen überlassen, wie lange der Inhalt zur Verfügung steht, wie häufig er gelesen werden kann, ob das Buch kopierbar ist, usw.

Informationen über die Anzahl der eingesetzten Geräte erhält das eBook-Programm über Microsofts Passport-System4. Für die Aktivierung des Readers wird ein Konto bei Passport benötigt, und dort wird die weltweit eindeutige Programmkennung zusammen mit anderen Informationen über den Nutzer hinterlegt. Damit zeigt sich eine weitere Konsequenz digitaler Restriktionssysteme: Sie eröffnen die Möglichkeit detaillierter Datensammlungen – wenn Sie nicht mehr wissen, welche Musik Sie in der letzten Woche gehört haben, die DRM-Datenbank könnte ihnen garantiert weiterhelfen.

Microsoft hat uns labile Betriebssysteme beschert, einem Überfluss an Viren den Boden bereitet und für einen Mangel an Standards gesorgt. Und nun sollen die Anwender mit der Einführung von DRM endgültig ans Gängelband genommen werden. Das ist preiswürdig.

Herzlichen Glückwunsch, Microsoft, zum BigBrotherAward!

Laudator.in

Patrick Goltzsch am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2000.
Patrick Goltzsch, Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG)
Quellen (nur eintragen sofern nicht via [fn] im Text vorhanden, s.u.)

1 Heise-News-Meldung: Microsoft hat Kunden heimlich numeriert (Web-Archive-Link)

2 Telepolis: Auf leisen Sohlen vom Betriebs- zum DRM-System [Inhalt nicht mehr verfügbar]

3 Microsoft „Palladium“: A Business Overview [Inhalt nicht mehr verfügbar]

4 Passport [Inhalt nicht mehr verfügbar]

Weiterführend:

TCPA-FAQ (Web-Archive-Link)

Das Ende des Allzweck-Computers steht bevor (FifF Kommunikation) [Inhalt nicht mehr verfügbar]

Jahr
Kategorie
Kommunikation (2003)

T-Online

Die T-Online International AG erhält einen BigBrotherAward in der Kategorie Komunikation für das Speichern von IP-Nummern ihrer Flatrate-Kundinnen und -Kunden ...
Laudator.in:
digitalcourageLutz Donnerhacke, Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG)

Der BigBrotherAward 2003 in der Kategorie "Kommunikation" geht an die T-Online Aktiengesellschaft für ihre datenschutzwidrige Langzeitspeicherung von Telekommunikations-Verbindungsdaten.

Nach dem Teledienstedatenschutzgesetz dürfen Verbindungsdaten nur gespeichert werden, wenn und solange sie für Abrechnungszwecke benötigt werden. Zweck dieses Verbots einer Vorratsdatenspeicherung ist es zu verhindern, dass auch noch nach Monaten an Hand der elektronischen Spuren nachvollzogen werden kann, was ein Nutzer im Internet gemacht hat. Bei nutzungsunabhängiger Bezahlung des Internet-Anschlusses, den sog. Flatrates, gibt es nicht ansatzweise den Grund einer Speicherung der sog. IP-Adressen, über die bei den Internet-Diensteanbietern, den so genannten ISPs (Internet-Service-Provider) wie z.B. T-Online, eine Zuordnung zu konkreten Personen bzw. Anschlussinhabern vorgenommen werden kann. Aber auch bei der gebrauchsabhängigen Abrechnung kommt es nicht auf die IP-Adressen an, sondern in der Regelausschließlich auf die Nutzungszeit eines Dienstes.

Die Prinzipien der Datenvermeidung und Datensparsamkeit verbieten es, ohne konkreten Grund personenbeziehbare Daten zu speichern. In der Vergangenheit haben viele ISPs aus reiner Bequemlichkeit diese Daten noch längere Zeit aufbewahrt. Durch den Druck ihrer Datenschutzaufsichtsbehörden wie ihrer Kunden gehen dagegen immer mehr ISPs dazu über, umgehend nach Verbindungsabschluss die IP-Adressen zu löschen. Anders T-Online, die sich dieser Löschung verweigerte mit dem Argument, die IP-Adresse sei nötig zum Nachweis und zur Aufrechterhaltung einer störungsfreien Dienstleistung. T-Online sieht in der 80tägigen IP-Nummernspeicherung eine erforderliche Maßnahme zur Recherche in Missbrauchsfällen, z.B. Hacking oder Virenversand, auch wenn kein Missbrauch oder Virenbefall festgestellt wurde. Obwohl der Rechnungsnachweis ohne IP-Adressen erbracht werden kann und auch bei der Konkurrenz nicht mehr Störungen auftreten, ließ T-Online als der größte ISP in Deutschland uns wissen, dass auch seine Datenschutzaufsichtsbehörde, das Regierungspräsidium Darmstadt, bestätigt, dass für T-Online Datensparsamkeit nicht gelten soll. Die unzulässige Datenspeicherung findet so ihren behördlichen Segen.

Was T-Online mit seiner IP-Adressenspeicherung bewirkt, ist offensichtlich ein massiver Eingriff in die Privatsphäre seiner Kundinnen und Kunden. Die anonyme Internet-Nutzung, vom Gesetz ausdrücklich zugesichert, wird dadurch untergraben. Und nicht nur T-Online selbst hat Zugriff auf diese Daten, sondern auch die Polizei und andere sog. Bedarfsträger, z.B. die Geheimdienste. Diese Stellen machen sich in zunehmendem Maße diese von Gesetzes wegen eigentlich gar nicht vorhandenen Daten zunutze, um selbst aus nichtigsten Anlässen das Fernmeldegeheimnisses zu durchbrechen. Ein nternetnutzer aus Münster wurde anhand dieser Daten vor den Kadi gezerrt, weil er sich satirisch im Internet mit dem 11. September 2001 auseinandersetzte. Teilnehmer von Musik-Tauschbörsen können so identifiziert und traktiert werden. Mit der langfristigen IP-Speicherung wird aus dem Internet, das ein Instrument der Meinungsfreiheit und der freien Informationsbeschaffung sein sollte, ein Kontroll- und Überwachungsinstrument. Die Kollegen von der Telefongesellschaft Telekom beschwerten sich jüngst bitterlich darüber, wie die Polizeibehörden in rüdem Ton mit ihnen als Dienstbetreiber umspringen und auch schon mal mit dem Vorwurf der Strafvereitelung drohen, um über Formblattanforderungen und ohne Einzelfallprüfung an Kundendaten heranzukommen. Dem gegenüber liefert T-Online nicht nur bereitwillig die Daten ihrer Kundinnen und Kunden, sondern sammelt diese extra für diesen Zweck.

Statt sich nun offen zu seinen Gesetzesverstößen zu bekennen, tut T-Online in seinen sog. Datenschutzhinweisen so, als handele es sich bei den IP-Adressen um Abrechnungsdaten, die 80 Tage lang gespeichert werden dürften. Sicherlich ist T-Online nicht der einzige ISP, der langfristig Verbindungsdaten speichert. Als prominenter Vertreter darf sie aber nicht mit schlechtem Beispiel vorangehen und schon gar nicht mit Hilfe ihrer Aufsichtsbehörde zur Beugung des Rechts beitragen. Die Jury der BigBrotherAwards fordert T-Online auf, die Nutzungsdaten umgehend nach Ende der Verbindungen zu löschen. Da T-Online trotz bundesweiter nachhaltiger Kritik dieser Forderung ihrer Kunden nicht nachkommt, hat sie den BigBrotherAward redlich verdient. Lässt sich das Unternehmen endlich vom Besseren überzeugen, so werden es ihm sicher die Kundschaft und die BBA-Jury danken. Doch darüber kann noch nicht berichtet werden. Daher:

Herzlich Glückwunsch T-Online.


Nachtrag

Im Sommer 2005 entscheidet das Amtsgericht Darmstadt gegen eine solche Speicherung. (Web-Archive-Link)

Laudator.in

digitalcourageLutz Donnerhacke, Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG)
Jahr
Kategorie
Behörden & Verwaltung (2003)

USA

Diesen Preis erhält die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika für die Nötigung insbesondere auch deutscher Fluglinien, US-Behörden den Zugriff auf die umfangreichen Buchungsdaten aller Passagiere zu gewähren.
Laudator.in:
Werner Hülsmann am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2004.
Werner Hülsmann, Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF)

Der Big Brother Award 2003 in der Kategorie Behörden/Staatliche Stellen geht an die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika für die Nötigung europäischer und insbesondere auch deutscher Fluglinien, diversen US-Behörden den Zugriff auf die umfangreichen Buchungsdaten aller Passagiere zu gewähren, die in die USA einreisen oder durch die USA durchreisen wollen.

Viele werden sich jetzt fragen, warum beim deutschen BigBrotherAward eine ausländische Regierung mit einem Preis bedacht wird, wo es doch auch in den USA einen BigBrotherAward gibt. Da von der gewürdigten Maßnahme ja nicht in erster Linie US-BürgerInnen oder EinwohnerInnen sondern gerade EuropäerInnen und damit auch deutsche EinwohnerInnen betroffen sind, hat sich die Jury entschlossen, dieses Mal den Preis an eine nichtdeutsche staatliche Stelle zu verleihen. Dies heißt allerdings nicht, dass nicht auch Deutsche Behörden und Stellen mit preiswürdigem Verhalten aufgefallen wären, sondern nur, dass die US-Regierung ihnen - was die Missachtung des Datenschutzes angeht - den Rang abgelaufen hat. Die Unsitte, die Terrorbekämpfung als Grund für den Abbau von Persönlichkeitsrechten zu mißbrauchen, ist in vielen Staaten und auch in Deutschland weit verbreitet. Nebenbei bemerkt: 2001, im Jahr der Anschläge auf das New Yorker World Trade Center, erhielt Innenminister Otto Schily bereits den Big Brother Award für seine Überwachungsgesetze im Namen der Terrorbekämpfung (Otto-Kataloge).

Seit dem 05. März 2003 gewähren europäische Luftfahrtgesellschaften den US-Zollbehörden Zugriff auf die Passagierdaten. Zu den vierzig Datensätzen, auf die der Zugriff gewährt werden muss, gehören neben den reinen Flugdaten (wie Flugnummer, Reisestrecke, Reisedatum) und den persönlichen Angaben wie Name, Geburtsdatum, Anschrift und Telefonnummer sowie Namen der Mitreisenden auch Daten wie z.B. die Kreditkartennummer und deren Ablaufdatum sowie Essenswünsche, Hotel- und Mietwagenbuchungen..

Die Lufthansa z.B. lässt die US-Behörden direkt auf das Buchungssystem AMADEUS zugreifen. Damit sind potentiell alle Passagiere von der Übermittlung umfangreicher Daten betroffen, nicht nur die, die in die USA fliegen. Denn technisch ist derzeit eine Zugriffsbeschränkung nur auf die Flugdaten der USA-Passagiere noch nicht möglich. Immerhin haben die US-Behörden zugesagt, nur auf die Flüge in die USA zuzugreifen. Dies soll durch eine Aktivierung entsprechender Protokollierungsfunktionen kontrolliert werden können, aber ob diese Protokolle tatsächlich ausgewertet werden und was passiert, wenn die US-Behörden doch auf andere Daten zugreifen, ist offen.

Wieder mal zeigt sich, dass die Behörden in der USA legitimiert zu sein meinen, Regelungen, die sie als ihr Recht verstehen, weltweit auch gegen den Widerstand von souveränen Staaten und gegen internationales Recht durchzusetzen. Als Rechtsgrundlage wird der "U.S. Aviation an Transportation Security Act" vom 19.11.2001 sowie aus die dazugehörende Umsetzungsvorschrift der amerikanischen Zollbehörde angegeben. Dass dies ein schwerwiegender Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und ein Verstoß gegen europäisches Datenschutzrecht und damit auch ein Eingriff in die Souveränität demokratischer Staaten ist, interessiert die US-Behörden dabei nicht. Wer den Zugriff nicht erlaubt, bekommt keine Landeerlaubnis, so einfach lautet das Argument der US-Behörden.

Betroffen von diesen Datenübermittlungen an die USA sind jährlich bis zu 11 Millionen Passagiere auf transatlantischen Flügen. Ausgewertet werden die Daten in einem Flugpassagier-Kontrollsystem (CAPPS - Computer Assisted Passenger Prescreening System), dass die Passagiere in drei Kategorien einteilen soll. GRÜN steht dabei für "minimales Risiko", GELB für "erhöhte Sicherheitsmassnahmen" und ROT für "Sicherheitskräfte alarmieren für etwaige Festnahmen". Der geplante Nachfolger CAPPS II soll dies innerhalb von fünf Sekunden leisten. Zu welchen Auswüchsen das führen kann, zeigen Erfahrungen aus den USA, wo z.B. im August 2002 zwei Friedenaktivisten auf eine "No Fly"-Liste gerieten und am Flughafen in San Francisco festgehalten wurden.

Das bei der Entwicklung dieser Systeme der Datenschutz nicht so wichtig genommen wird, zeigt die Tatsache, dass die für die Freigabe weiterer Steuergelder für die Entwicklung erforderliche Datenschutz-Verträglichkeitsprüfung ("Privacy Impact Assessment") bis dato nicht existiert, obwohl die entwickelnde Firma die Arbeit hieran bereits seit zwei Jahren ankündigt. Pikant ist dabei aber auch, dass die derzeitig geplanten Einschränkungen im Umfang und in der Dauer der Datenspeicherung nur US-BürgerInnen betreffen. Nicht US-Bürger werden hier wohl als vogelfrei betrachtet.

Zwar hat sich die US-Zollbehörde in einer Vereinbarung mit der EU-Kommision vom 18. Februar 2003 verpflichtet ,die Grundprinzipien des europäischen Datenschutzes zu respektieren und z.B. keine Einsicht in besonders sensible Passagierdaten zu nehmen und die Nutzung der Daten nur für die gesetzlichen Zwecke zu verwenden. Die Einigung darüber, welche Daten als sensibel zu betrachten sind steht noch aus. Und welche Zwecke in den USA gesetzlich sind, entscheidet ja nicht die europäische Kommission sondern der US-amerikanische Gesetzgeber.

So wollen die USA alle abgefragten Daten zum einen sieben Jahre speichern und zum anderen diese auch für andere Zwecke als die Terrorbekämpfung nutzen. Danach sollen die Daten weitere acht Jahre einer "Datei der gelöschten Datensätze" (deleted record file) aufbewahrt werden.

Entsprechende Einwände der Europäischen Institutionen, dass dieser Umfang und die Art der Datenübermittlung nicht im Einklang mit europäischen Datenschutzrecht vereinbar sei, sind von den US-Behörden als Paragraphenreiterei angesichts der Terrorgefahren abgetan worden. Das zeugt von einem doch sehr einseitigem Verständnis von Freiheit auf Seiten der Regierung der USA.

Herzlichen Glückwunsch an die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika zu dem Big Brother Award 2003 in der Kategorie Behörden/Verwaltung.

Laudator.in

Werner Hülsmann am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2004.
Werner Hülsmann, Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF)
Jahr
Regional (2003)

Dr. Ehrhart Körting

Der Regional-Preis geht an den Innensenator von Berlin, Herrn Dr. Ehrhart Körting für seine mehr als fragwürdige Rechtfertigung des Einsatzes der so genannten "stillen SMS" durch die Berliner Polizei.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Fredrik Roggan.
Dr. Fredrik Roggan, Humanistische Union (HU)

Der Regional-Preis des diesjährigen BigBrotherAwards geht an den Innensenator von Berlin Herrn Dr. Ehrhart Körting für seine mehr als fragwürdige Rechtfertigung des Einsatzes der so genannten "stillen SMS" durch die Berliner Polizei. Er hatte eingeräumt, dass die Bedenken der Datenschützer gegen eine solche Praxis erheblich seien. Man müsse sich aber entscheiden, "ob man die Täter oder die Opfer schützen" wolle (vgl. Drucksache 15/1834). Er setzt sich damit absichtsvoll über die geltende Rechtslage hinweg, die das Versenden solcher "stiller SMS" zur Ortung von Tatverdächtigen eben nicht vorsieht.

Der Regional-Preis des diesjährigen BBA geht an den Innensenator von Berlin, Herrn Dr. Ehrhart Körting. Er wird ausgezeichnet für seine Rechtfertigung des Einsatzes der so genannten "stillen SMS" durch die Berliner Polizei. Er hatte eingeräumt, dass die Bedenken der Datenschützer gegen eine solche Praxis erheblich seien. Man müsse sich aber - so ist es einer Drucksache des Abgeordnetenhauses von Berlin zu entnehmen - entscheiden, "ob man die Täter oder die Opfer schützen" wolle (vgl. Drucksache 15/1834). Er setzt sich damit absichtsvoll über die geltende Rechtslage hinweg, die das Versenden solcher "stiller SMS" zur Ortung von Tatverdächtigen eben nicht vorsieht.

Bei der Ortung von Verdächtigen macht die Polizei sich den Umstand zunutze, dass ein Mobilfunkgerät - technisch bedingt - bei jedem Kommunikationsvorgang jeweils (bis auf 50 Meter genau) den Standort des Handy-Nutzers verrät. Die Polizei sendet deshalb eine SMS ohne Textbotschaft an den Betroffenen. Gegenüber dem Funknetz verhält sich das Handy wie bei einer normalen SMS auch, jedoch zeigt es den Erhalt der Botschaft nicht an. Auch ertönt der sonst übliche Signalton nicht. Dennoch entstehen auf diese Weise aktuelle Verbindungsdaten, die die Polizei zur Ortung von Verdächtigen nutzen kann. Möglich ist dieses Verfahren - das sog. "Pingen" - durch eine bisher vom BGS genutzte Software. In Baden-Württemberg ist dieses Verfahren selbst bei Unfallflucht schon angewendet worden.

Zweifelhafterweise wurde das Verfahren in Berlin jeweils mit richterlicher Anordnung durchgeführt. Die Frage nach der Rechtsgrundlage ist damit freilich noch nicht beantwortet.

Der Ausspruch des Berliner Innensenators berührt einen rechtsstaatlich existenziell wichtigen Punkt, nämlich das Verhältnis von vollziehender und gesetzgebender Gewalt bei der Schaffung neuer Eingriffsbefugnisse. Dies ist der hier herauszustellende Punkt. Dass die "stillen SMS" im Übrigen weiter an dem ohnehin arg malträtierten Telekommunikationsgeheimnis (TK-Geheimnis) nagen, soll hier nicht vertieft werden. Immerhin so viel: Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Kühling bezeichnet das entsprechende Grundrecht aus Artikel 10 des Grundgesetzes im Grundrechte-Report 2003 bereits als "Totalverlust".

Was rechtfertigt aber nun die Verleihung an Dr. Körting? Es ist dies vor allem die Missachtung des Rechts und seiner ihm innewohnenden Restriktionen staatlicher Eingriffe in die Rechte der Bürger.

Das Versenden dieser "Stillen SMS" stellt einen Eingriff in das TK-Geheimnis aus Art. 10 I GG dar. Dieses schützt nicht nur die unmittelbare Kommunikation, sondern auch die Kommunikationsbereitschaft. Die Privatheit des Gedankenaustausches ist auch dann schon gefährdet, wenn die Menschen davon ausgehen müssen, dass ihr angeschaltetes aber nicht benutztes Handy zum Anknüpfungspunkt von unbemerkten Überwachungsmaßnahmen werden kann. Für Eingriffe in das TK-Geheimnis bedarf es demnach einer bereichsspezifischen, klaren Rechtsgrundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Ermächtigung für die Bürger erkennbar ergibt.

Ein solches Gesetz existiert offensichtlich nicht, was offenbar auch vom Preisträger anerkannt wird. Die Brücke vom nicht bestehenden Gesetz zur dennoch praktizierten Maßnahme der Berliner Polizei schlägt der Innensenator durch die hinlänglich berüchtigte Formel vom Datenschutz, der nicht zum Tatenschutz werden dürfe. Jedoch: Nur ein Datenschutz, der den Zugriff auf die Daten der Bürger eben nicht schrankenlos freigibt, verdient im Rechtsstaat seinen Namen. So gesehen handelt es sich zum Beispiel bei der Strafprozessordnung insgesamt um ein Regelungswerk, das die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden dadurch behindert, dass es eben nicht jegliche Ermittlungsmaßnahme, die Erfolg versprechend erscheint, gestattet. Die Maxime, wonach der Zweck die Mittel heiligt, ist dem Rechtsstaat fremd.

Nun könnte der Gesetzgeber sein möglicherweise gewecktes, schlechtes Gewissen zwar dadurch besänftigen, dass er die entsprechende Maßnahme nachträglich legalisiert. Aber würde dadurch nicht ein demokratischer Meinungsbildungsprozess durch die (polizeiliche) Macht des Faktischen ersetzt?

Dass diese und ähnliche Fragen im Raume stehen, dafür gebührt dem jetzigen Innensenator von Berlin der Regional-Preis des diesjährigen Big-Brother-Award.

Herzlichen Glückwunsch, Herr Dr. Körting.

Laudator.in

Portraitaufnahme von Fredrik Roggan.
Dr. Fredrik Roggan, Humanistische Union (HU)
Jahr
Kategorie
Lebenswerk (2003)

GEZ

Der Lifetime-Award 2003 geht an die Gebühreneinzugszentrale (GEZ) für deren unermüdlichen Einsatz bei der bedingungslosen Ermittlung von Schwarzseherinnen und Schwarzhörern.
Laudator.in:
Dr. Thilo Weichert am Redner.innepult der BigBrotherAwards 2021.
Dr. Thilo Weichert, DVD, Netzwerk Datenschutzexpertise

Ohne Rücksicht auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, beschafft sich die GEZ seit Jahren regelmäßig und systematisch Daten von Meldebehörden, von öffentlichen Stellen, von Adresshändlern und äußerst fragwürdigen weiteren Quellen, um Menschen zu finden, die keine Rundfunkgebühren bezahlen, selbst wenn diese an der Nutzung von Hörfunk und Fernsehen kein Interesse haben. Die GEZ und die Gebührenbeauftragten der Rundfunkanstalten sammeln dabei in einem Übermaß Daten, dringen unter Überrumpelung von Menschen in deren Wohnung ein und nötigen die Menschen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zur Offenbarung von eigenen Daten.

Die Gebühreneinzugszentrale zieht seit dem Jahr 1976 für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten die Gebühren für Rundfunk und Fernsehen ein. Hierbei wurde von Anfang an das Datenschutzrecht von Millionen von Menschen und deren Anspruch auf ein transparentes Verfahren ignoriert. So geriert sich die GEZ nur als verlängerter Arm der jeweiligen Rundfunkanstalten, für die sie Daten im Auftrag verarbeite. Tatsächlich findet die gesamte Datenverarbeitung über Gebührenzahler und vermeintliche Gebührenpflichtige bundesweit und faktisch eigenverantwortlich durch die GEZ statt. Rechtlich tut sie jedoch so, als handele sie ohne jede Verantwortung im Auftrag der Rundfunkanstalten. Dies hindert die GEZ abernicht, sämtliche Daten in einem großen Topf zu verwalten. Auf dem Zentralrechner der GEZ werden mehr als 37 Millionen Teilnehmerkonten geführt, die immer wieder Begehrlichkeiten auch rundfunkfremder Stellen zwecks zweckwidriger Nutzung wecken.

Einer umfassenden unabhängigen Datenschutzkontrolle entzieht sich die GEZ - außer in den Ländern Berlin, Brandenburg, Bremen und Hessen - durch einen Trick: Sie behauptet fälschlich, für sich das Medienprivileg, also das Grundrecht der Pressefreiheit, in Anspruch nehmen zu können. Doch hat das "freie Sammeln von Daten" über wirkliche und fiktive Gebührenschuldner nichts, aber auch gar nichts mit einer freien Berichterstattung zu tun. Für die Datenschutzkontrolle zuständig sind dennoch nicht die öffentlichen Datenschutzbeauftragten, sondern vorwiegend spezielle Rundfunk-Datenschutzbeauftragte, deren Tätigkeit sich der kritischen Öffentlichkeit entzieht und denen die Unabhängigkeit von ihren Anstalten abgeht - eine Unabhängigkeit, die von der Europäischen Datenschutzrichtlinie zwingend gefordert wird.

Praktisch die gesamte Datenerhebung der GEZ basiert auf der bürgerfeindlichen und zugleich falschen Unterstellung, alle Menschen in Deutschland, die keine Gebühren für Rundfunk und Fernsehen bezahlen, seien Schwarzhörer und -seherinnen. Mit der Änderung des Melderechtsrahmengesetzes ließ sich die GEZ den Zugriff auf die Ummeldedaten aller deutschen Meldeämter (außer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen) mit acht Kerndaten einräumen, egal ob die Umziehenden sich bei der GEZ korrekt gemeldet haben oder gar keine Rundfunkgeräte bereit halten. Diese Vorratsdatenspeicherung, die praktisch zur Errichtung eines zentralen Bundesmelderegister bei der GEZ führte, erfolgte von Anfang an gegen den Widerstand der Datenschutzbeauftragten, die darauf hinwiesen, dass ein solches Register gegen den verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt.

Beim Auffinden nicht gemeldeter Rundfunkgeräte erweist sich die GEZ als hochgradig kreativ. So kommt es vor, dass sie bei Kfz-Zulassungstellen nachfragt, welche Kfz-Händler Autos für Kfz-Käufer kurzfristig auf sich angemeldet haben. Ziel der Anfragen ist es, von den Kfz-Händlern Gebühren für die Autoradios zu erheben, wohl wissend, dass auch diese Form der Datenbeschaffung rechtswidrig ist. Oder es kommt vor, dass sich die Gebührenbeauftragten in touristischen Kommunen Listenauskünfte über die Zweitwohnungssteuer zu verschaffen versuchen, wieder vorsätzlich unter klarer Missachtung des Steuergeheimnisses.

Eine weitere Form der Datenbeschaffung durch die GEZ besteht darin, dass sie sich beim privaten Adressenhandel bedient. Dies führt dann schon einmal dazu, dass nicht gebührenpflichtige minderjährige Kinder aufgefordert werden, ihr Rundfunkgerät anzumelden. Oder korrekt zahlende Gebührenzahler werden auf Grund von Abgleichfehlern unter Drohungen aufgefordert, endlich ihre Geräte anzumelden. Diese Form der Datenbeschaffung ist aber nach den anwendbaren Datenschutzgesetzen unzulässig. Die GEZ beschafft sich auf der einen Seite zwnagsweise Daten wie eine Behörde. Da das ihren Datenhunger noch nicht stillt, tut sie einfach wie eine Privatfirma, die sich zusätzlich auf dem freien Datenmarkt bedient.

Gelingt die Beitreibung der Rundfunkgebühren nicht über staatlichen Zwang, so meinte die GEZ wie ein normaler Kaufmann handeln zu können. Bereits seit den 80er Jahren übermittelt sie derart die Daten der Säumigen an ein privates Inkassobüro, das dann mit seinen Mitteln die Schuldner zum Zahlen zu bringen versucht.

Wie eine Ordnungsbehörde tritt sie aber auf, wenn sie vermeintliche Schwarzhörer anspricht bzw. anschreibt. In den Anschreiben an Nichtgemeldete bzw. an Personen, die nur ein Radio angemeldet haben, wird der Eindruck vermittelt, die Betroffenen hätten die Pflicht, wiederkehrend Auskunft zu geben, dass keine weiteren Rundfunkgeräte vorhanden sind. Mit jedem der drei Formschreiben der GEZ wird die Tonart ruppiger. Bei den Betroffenen wird systematisch wahrheitswidrig der Eindruck vermittelt, sie hätten diese Schreiben in jedem Fall - portopflichtig - zu beantworten.

Von richtiggehenden Übergriffen durch sog. Rundfunkbeauftragte wird immer wieder berichtet. Diese verschaffen sich teilweise unter Vorspiegelung falscher Umstände, durch polizeiähnliches Auftreten oder durch einfaches Drohen Zutritt zu Wohnungen, um diese auf nicht angemeldete Geräte hin zu inspizieren.

Wer sich, wie z.B. Rentner, Studierende oder Arbeitslose, wegen zu geringem Einkommen von der Rundfunkpflicht befreien lassen möchte, wird - zumeist unter Vermittlung durch die Sozialämter - zu Angaben gedrängt, die in mancher Hinsicht weit über das hinausgehen, was zur Berechnung der Sozialhilfe erfragt wird. Angegeben werden müssen entgegen dem Wortlaut der Befreiungsverordnung Telefon- und Handygebühren, Heiz- und Stromkosten, Kabel- und Internetgebühren bis hin zu den Kosten für die Unterhaltung eines PKW, was durch Belege nachgewiesen werden muss. Und dies alles nur, um die Zahlung von 17 Euro im Monat zu vermeiden.

Fast unmöglich ist es, bei der GEZ ein Rundfunkgerät abzumelden. Statt einer Bestätigung erhalten die bisherigen Gebührenzahlenden ein Schreiben, in dem sie - wieder ohne Rechtsgrundlage - aufgefordert werden, die Gründe für die Aufgabe ihres Gerätes mitzuteilen sowie die dritte Person zu benennen, die das bisherige Gerät übernommen hat, inclusive Geburtsdatum und GEZ-Teilnehmernummer. Diese Dritten werden erst gar nicht gefragt. Immer wieder geschah es auch, dass regelgerecht abgemeldete Rundfunkteilnehmer wieder in Mailing-Aktionen einbezogen und deren Daten nicht gelöscht wurden.

Der gesamte teuere administrative Aufwand einer teilweise gesetzeswidrigen Gebühren- und Datenerhebung ließe sich dadurch vermeiden, dass die Gebühren nicht mehr am "Bereithalten eines Rundfunkgerätes" anknüpfen, sondern vielmehr von allen Volljährigen einheitliche Abgaben erhoben werden. Technologiebedingt ist es kaum mehr möglich, zwischen Rundfunk- und anderen multifunktionalen Kommunikationsgeräten wie Internet-PC, UMTS-Mobiltelefon usw. zu unterscheiden. Daher haben die Datenschutzbeauftragten im Jahr 2000 gefordert, im Interesse der Kosten- wie der Datenvermeidung ein einfacheres pauschales Finanzierungsmodell zu wählen. Schon im Jahr 1999 forderte die CDU die Einführung einer pauschalen Gebühr. Der Vorsitzende des Bundesfachausschusses Medien der CDU wird damit zitiert, dass diese Abgabe auf die Hälfte der bisherigen Gebühr reduziert werden könne, u.a. auch weil die gewaltigen Datenverarbeitungs- und Verwaltungskosten bei der GEZ entfallen würden. Die Ministerpräsidenten der Länder haben im Herbst 2001 beschlossen, die Rundfunkgebühr künftig haushaltsbezogen zu erheben. Wenn die GEZ unterstellt, alle Haushalte hätten heute ein Rundfunk und ein Fernsehgerät, so kann sie auch die Konsequenz daraus ziehen, ohne Verletzung des Datenschutzes alle finanziell gleich zu belasten. Tatsächlich hat sich aber bis heute nichts getan.

Aktiv bleibt die GEZ mit ihrer Lebensaufgabe, unter Missachtung des Verbots der Vorratsdatenverarbeitung und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung die Menschen in Deutschland zu drangsalieren. Auch wenn sich die ganzen Ermittlungen und Datenabgleiche finanziell für die GEZ nicht lohnen sollten, so hat sie jedenfalls dafür von uns den Lifetime-Award verdient.

Herzlichen Glückwunsch - GEZ.

Laudator.in

Dr. Thilo Weichert am Redner.innepult der BigBrotherAwards 2021.
Dr. Thilo Weichert, DVD, Netzwerk Datenschutzexpertise
Jahr
Kategorie
Verbraucherschutz (2003)

Metro AG

Den BigBrotherAward in der Kategorie Verbraucherschutz erhält die Metro AG für das Projekt "future store", mit dem die RFID-Technik in Deutschland propagiert werden soll. Der berührungslos auszulesende Chip, der zukünftig den Barcode auf Waren ersetzen soll, birgt große Gefahren für die Privatsphäre der Verbraucher.
Laudator.in:
Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage
Frank Rosengart am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Frank Rosengart, Chaos Computer Club (CCC)
Leuchtwerbung der Metro Group für die "Future Store Initiative".

In ihrem Extra-Markt "Future Store" in Rheinberg bei Duisburg testet die Metro-Gruppe seit April 2003 und einer werbewirksamen Eröffnung mit Claudia Schiffer den Einsatz von Transpondern oder so genannten RFIDs (RFID ist die Abkürzung für "Radio Frequency IDentification"- Identifizierung per Funk). Es handelt sich dabei um kleine Chips mit Antenne, die, wenn sie in die Nähe eines Lesegerätes gehalten werden, eine Identifikationsnummer aussenden.

Jeder Joghurtbecher, jede Weinflasche, jeder Pullover hat eine eigene Nummer, die ohne Berührungs- oder Sichtkontakt ausgelesen werden kann. Mit dem Lesegerät vernetzt können direkt Informationen zu diesem speziellen Gegenstand aufgerufen werden, zum Beispiel der Preis. Da auch Kunden-, Kredit- oder Payback-Karten zukünftig mit diesen kleinen Chips ausgerüstet werden, sind auch wir Kundinnen und Kunden damit eindeutig zu identifizieren. Das bietet völlig neue Möglichkeiten.

Auch wenn es Ihnen gleich unglaublich vorkommen wird: Die folgenden Szenarien sind entweder bereits Realität oder eng an die Marketing-Strategie-Papiere der RFID-Lobbyisten angelehnt.

April 2003

Der Future-Store in Rheinberg bei Duisburg eröffnet. Marion Z. als Test-Kundin ist beeindruckt: Wenn sie ihre neue Kundenkarte neben den Einkaufswagen hält, wird sie von einem Display auf dem Griff persönlich begrüßt und bekommt ihren persönlich abgespeicherten Standard-Einkaufszettel, den sie vorher angeben mußte, angezeigt. Bei jedem Einkauf ergänzt der Computer die Liste je nach den ihren persönlichen Vorlieben. Per "Navigationssystem" auf dem Display wird sie immer den optimalen Weg zum nächsten Produkt ihrer Einkaufsliste geführt. Such-Zeiten entfallen. Außerdem: Weil Diebstahl durch die RFIDs quasi unmöglich wird, sollen die Preise insgesamt sinken, heißt es. Das Aufs-Band-Legen an der Kasse entfällt, die Zahlung erfolgt per Karte. "Seeeeeehr praktisch!"

Mai 2003

Die ersten Vertreter des Handels besichtigen den Future Store und sind begeistert! Nie wieder sind Waren ausverkauft, das Nachfüllen der Regale kann zentral koordiniert werden. Keine Preisauszeichnung mehr, weil die Preise direkt vom Zentralrechner auf die Displays an den Einkaufswagen gegeben werden. Kunden können außerdem über die Displays individuell mit Werbespots angesprochen und beworben werden. Supermarkt-Pächter Dietmar K. jubelt "Eine Revolution für den Handel, wir gehen in ein goldenes Zeitalter!", in eine Fernsehkamera.

September 2003

Die Redaktion von Spiegel-Online fällt auf die Presse-Arbeit der Metro AG herein und lobt in einem redaktionellen Artikel ausschließlich die Vorteile für die Verbraucher. Zum Beispiel sei es jetzt möglich, dass Kunden sich über die Displays das genaue Herkunftsland der Waren anzeigen lassen. Der Einkauf werde viel transparenter. In der Marketing-Abteilung der Metro Gruppe knallen die Sektkorken. "Glauben die echt, dass wir so doof sind, und da rein schreiben, dass diese Kaffeebohnen von 5jährigen Kindern gepflückt worden sind???", wundert sich Praktikantin Nina S. Im Anschluß an die Feierstunde gibt sie weiter Umwege in das Navigationssystem des Einkaufswagen-Servers ein, damit er die Kunden an bestimmten Produkten vorbei führt.

Oktober 2003

Marion Z.aus Duisburg liest in der Zeitung einen Artikel zum Big Brother Award und ist erschrocken über die Überwachungsmöglichkeiten durch RFIDs. In einem Leserbrief wird abgewiegelt: RFIDs wäre ja gar nicht gefährlich, man könne sie ganz einfach in der Mikrowelle zerstören. Erschrocken wirft sie ihre letzten Future-Store-Einkäufe in die Mikrowelle. Die Butter schmilzt, der Reissverschluss an der Jeans sprüht Funken. O-Ton: "So ein Mist, das mache ich nicht noch mal!" Ob die Chips dabei kaputt gegangen sind, weiß sie nicht.

April 2004

Der Informatik-Student Lars H. (zweites Semester) entwickelt im Auftrag des FoeBuD e.V. in Bielefeld einen kleinen, einfachen Störsender, mit dem man das Auslesen der Daten der RFIDs verhindern kann. Marion Z. kauft sich einen davon. Lars H. bricht sein Studium ab und gründet ein Start-Up-Unternehmen für diese Störsender. Den Gewinn spendet er anteilig dem FoeBuD e.V.

Juni 2004

Die Supermarkt-Fachkraft Gerd J. ist begeistert von der neuen Technik. Das lästige An-der-Kasse-Sitzen fällt weg, die Regale sind leichter befüllbar, die Lager effektiver genutzt. Als er abends nach Hause kommt, liegt dort ein Brief seiner Geschäftsleitung mit einer Abmahnung. Er sei in den vergangenen Wochen durchschnittlich 9 Mal auf der Toilette gewesen und habe dort pro Tag ca. 72 Minuten zugebracht. Das liege 27 Minuten über dem Soll und diese Zeit werde ihm zukünftig von seinem Arbeitszeitkonto abgezogen. Entsetzt sucht er seinen Supermarkt-Kittel ab und findet einen RFID im Kragensaum.

September 2004

Die RFIDs kosten jetzt nur noch 1 Ct. pro Stück und unterliegen ab sofort einem gemeinsamen technischen Standard. Damit ist eine flächendeckende Einführung in greifbare Nähe gerückt.

Oktober 2004

Schafskäse-Hersteller Karsten P. hat inzwischen 10 Faxe der größten Handelsketten bekommen. Wenn er nicht innerhalb von drei Monaten RFIDs in alle seine Verpackungen integriert, werden die Lieferverträge mit ihm gekündigt. Karsten P., der sich bisher immer gegen diese Technik gesträubt hat, gibt auch im Sinne seiner 75 Mitarbeiter nach.

November 2004

Marion Z.bekommt einen Bußgeldbescheid der Stadt Duisburg. Das Papier eines von ihr gekauften Mars-Riegels wurde im Ententeich des Stadtparks gefunden. Marion Z.grübelt und kommt darauf, dass sie den Riegel einem Kind beim Martins-Singen geschenkt hat. Zähneknirschend zahlt sie 10 Euro Bußgeld.

Januar 2005

Startup-Unternehmer Lars H. ist krank. Er bittet seine Nachbarin Nina S., für ihn einkaufen zu gehen. Als sie ihm den Kassenbon präsentiert, ist er verwundert, dass Nina S. für viele Produkte das doppelte bezahlt hat. Sie stellen fest, dass zum Beispiel Toilettenartikel für sie teurer sind als für ihn. Beim Vergleich mit Freunden stellen sie fest, dass alle Frauen mehr für Toilettenartikel bezahlen als Männer, dass Familien mehr für Videos bezahlen als Singles usw. Ein Anruf bei der Verbraucherzentrale ergibt, dass das Wettbewerbsgesetz schon vor Monaten in irgendeiner Ladenschlußzeit-Novelle mit geändert worden ist. Gegen diese "Preis-Diskriminierung", wie der Fachbegriff lautet, könne man jetzt nichts mehr unternehmen.

April 2005

Supermarkt-Fachkraft Gerd J., inzwischen arbeitslos, weil er seine Toiletten-Zeiten nicht in den Griff bekommen hat, geht tanken. Da der RFIDs an der Kaugummi-Packung in seiner Jackentasche nicht im Supermarkt zerstört wurde, wird er als Kaugummi-Kauer identifiziert und die Tanksäule spielt ihm während des Wartens Werbespots für Konkurrenz-Kaugummis vor.

Juli 2005

Start-up Unternehmer Lars H. kauft sich einen neuen intelligenten Kühlschrank. Dieser Kühlschrank weiß aufgrund der RFIDs, was er geladen hat, welcher Joghurt am Verfallsdatum ist und was als nächstes eingekauft werden muss. Über das Internet kann der Kühlschrank selbständig nachbestellen oder den Display-Einkaufszettel im Supermarkt ergänzen. Außerdem macht er über ein Display in der Tür Rezeptvorschläge. Nachts träumt Lars H. davon, dass sein Kühlschrank für sich eigenmächtig jeden Abend eine Pizza Tonno bestellt und mit dem Toaster zusammen aufißt. Er wird schweißgebadet wach. Verkatert findet er morgens im Briefkasten eine Ermahnung seiner Krankenkasse. Sein Speiseplan weise zu viel Farb- und Konservierungsstoffe auf, steht da. Wenn er seine Ernährung nicht umstelle, werde ab Anfang kommenden Jahres sein Versicherungsbeitrag erhöht.

August 2005

Marion Z.steht vor ihrem Supermarkt und die Tür öffnet sich nicht. Die erste Frage des Marktleiters: "Haben Sie vielleicht einen Störsender in der Tasche? Nee, dann kommen sie hier auch nicht mehr rein." Das gleiche erlebt sie bei fast allen Supermärkten in ihrer Umgebung. Ab sofort lässt sie den Sender zu Hause. Abends findet sie im Altpapier einen Zeitungsartikel aus dem November 2003: "Datenschützer sehen Gespenster - Metro-Gruppe sagt, Schwarzmalerei völlig unrealistisch"

Wir wiederholen noch einmal: Die obigen Szenarien sind sehr eng an die konkreten Planungen der RFID-Lobbyisten angelehnt und werden zum Teil schon in Pilot-Projekten getestet. Es gibt vertrauliche Marketing-Strategie-Papiere, die von CASPIAN, einer amerikanischen Verbraucherschutzorganisation, gefunden und im Internet öffentlich zugänglich gemacht worden sind. Darin steht ausdrücklich, dass es eine der wichtigsten Aufgaben ist, die Sorge der Verbraucher um den Schutz ihrer Privatsphäre durch Marketing-Maßnahmen zu zerstreuen. Eine solche Zielvorgabe sollte besonders mißtrauisch machen.

Wir fordern, dass die RFIDs, die für die Waren-Logistik unwidersprochen praktisch sind, spätestens an der Ladenkasse, wenn die Ware in die Hände von uns Endverbrauchern und Endverbraucherinnen über geht, zerstört werden. Das ist durch einfache technische Vorrichtungen möglich.

Wir fordern, dass wir Verbraucherinnen und Verbraucher ein Recht darauf erhalten, zu wissen, wann RFIDs eingesetzt werden und welche Daten darin gespeichert sind und wann, wo, von wem und zu welchem Zweck die uns umgebenden RFIDs ausgelesen werden.

Zur Zeit wird das "Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb" (UWG) überarbeitet. Bisher regelte es nur die Beziehungen zwischen Firmen. In der Novellierung sollen jetzt auch die Verbraucher-Rechte ausdrücklich mit eingebunden werden. Eine gute Gelegenheit, das Zukunfts-Thema RFIDs und die daraus erwartbaren Szenarien wie z. B. Preisdiskriminierung gleich mit zu berücksichtigen.

RFIDs definieren das Wort "Konsum-Terror" völlig neu - spätestens, wenn sich ein internationaler Standard durchgesetzt hat. Durch ausspionierte, gesammelte Kundenprofile wird eine neue Dimension von Werbemaßnahmen und gezielten Manipulationen möglich, die einem selbst bestimmten Leben entgegen stehen. Und niemand wird sich dem mehr entziehen können.

Der Future-Store ist eine Versuchsstation für viele, aber längst nicht alle denkbaren Szenarien. Für seine Einrichtung und das Marketing-Konzept bekommt die Metro-Gruppe einen exemplarischen und zukunftsweisenden BigBrotherAward. Schade, dass sich das Unternehmen diesem Dialog hier und heute nicht stellt. Um so mehr sind Kunden, Verbraucherinitiativen und Politiker aufgefordert, diese Entwicklung, die unser Leben so elementar verändern kann, nicht allein den Konzernen zu überlassen.

Herzlichen Glückwunsch, liebe Metro Gruppe!

Laudator.in

Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage
Frank Rosengart am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Frank Rosengart, Chaos Computer Club (CCC)
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Über die BigBrotherAwards

Spannend, unterhaltsam und gut verständlich wird dieser Datenschutz-Negativpreis an Firmen, Organisationen und Politiker.innen verliehen. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und wurden deshalb von Le Monde „Oscars für Datenkraken“ genannt.

Ausgerichtet von (unter anderem):

BigBrother Awards International (Logo)

BigBrotherAwards International

Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden fragwürdige Praktiken mit diesen Preisen ausgezeichnet.