Regional (2004)

Universität Paderborn

Für die Videoüberwachung von Hörsälen und Rechnerräumen erhält die Universität Paderborn den Regionalpreis der BigBrotherAwards 2004. Dabei hat sich der Rektor der Uni, Prof. Dr. rer. nat. Nikolaus Risch, für Dome-Kameras entschieden, so dass die Studierenden nicht einmal sehen können, ob sie gerade gefilmt werden oder nicht. Damit wird das Gefühl, ständig beobachtet zu werden, gruselig perfektioniert.
Laudator.in:
padeluun am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
padeluun, Digitalcourage

Den Regionalpreis der BigBrotherAwards erhält der Rektor der Universität Paderborn, Prof. Dr. rer. nat. Nikolaus Risch, weil Hörsäle und Rechnerräume mit Videokameras überwacht werden.

Dr. Risch manifestiert mit seinen Video-Kameras den Irrglauben unserer Zeit, dass "Überwachung" mit "Sicherheit" gleichzusetzen ist. Die Kameras seien dazu da, den Diebstahl von Rechnern und Beamern zu verhindern, lautet die offizielle Begründung. Damit ist Herr Dr. Risch, ein Vertreter unserer deutschen Bildungselite, auf die Propaganda der - jetzt folgt ein schrecklich falsches Wort - "Sicherheits-Industrie" hereingefallen.

Herr Dr. Risch: Videokameras verhindern keine Diebstähle. Dafür gibt es Schlösser, Seile, Metallbügel. Videokameras sind teuer und passiv. Sie zeichnen nur auf und diese Aufzeichnungen können evtl. nach getaner Tat als Beweismaterial verwendet werden. Aber Videokameras verletzen die Privatsphäre Ihrer Studierenden, der jungen Menschen, für deren freie geistige Entwicklung Sie verantwortlich sind. Videokameras verunsichern und schüchtern diejenigen ein, die sich nicht mehr unbeobachtet fühlen können. Welcher Student möchte sich schon in der Nase popelnd bei einem Privatsender in "Die dümmsten Studierenden der Welt" wieder finden?

Und es sind nicht nur einfach Kameras, die auf die Hörsääle gerichtet sind. Nein, Herr Dr. Risch hat sich für Dome-Kameras entschieden, bei denen die Anwesenden im Hörsaal noch nicht einmal sehen können, wohin diese Kameras gerade gucken. Das lässt nur einen Schluß zu: Es geht auch hier um die Omnipräsenz des BigBrother-Auges, um Abschreckung und das Gefühl "Du bist nirgendwo mehr unbeobachtet".

Jedes Jahr erhält die BigBrotherAwards-Jury Dutzende von Meldungen, in denen sich Menschen über die bald omnipräsente Videoüberwachung beschweren. Es gibt abstruse, sehr abstruse, total abstruse und überaus mega-abstruse Beispiele für Videoüberwachung.

Einige Beispiele, die uns in diesem Jahr gemeldet worden sind:

In Hamburg möchte der Senat Videoüberwachung gerne flächendeckend einführen. Anscheinend ist die regierende Mehrheit auch ohne Ronald Schill blöd genug.

Ein Gießener McDonald's-Restaurant hat nun auch Videoüberwachung, damit man gleich weiß, dass das hier ein besonders gefährdeter Ort ist. Wenn also das Gangsterpärchen "Honey Bunny und Pumpkin" aus dem Film "Pulp Fiction" hier einen bewaffneten Raubüberfall veranstalten möchte, sollten sie zur eigenen Sicherheit lieber eine Maske tragen.

Wir kommen gar nicht mehr hinterher, zu zählen, wie viele Verkehrsunternehmen nun mittlerweile ihre Busse und Bahnen mit Videoüberwachung ausstatten. Wer ohne gefilmt zu werden reisen möchte, kann öffentlichen Verkehr vergessen: Er wird der flächendeckenden Überwachung an Bahnhöfen, in Bussen und Bahnen nicht entgehen. Schon bei den BigBrotherAwards im Jahr 2000 haben wir Hartmut Mehdorn, damals noch als "Behördenchef" der Deutschen Bahn, mit dem BigBrotherAward für sein 3S-Modell ("Sicherheit, Service; Sauberkeit) ausgezeichnet. Abgebaut wurde bisher keine einzige Kamera.

Die Stadtwerke Nürnberg wollen ihr Fahrpersonal für die Straßenbahn abschaffen, damit - so interpretiere ich das mal - mehr Arbeitskräfte für 1-Eurojobs zur Verfügung stehen. Die Bahnen sollen automatisch fahren. Dafür werden die Bahnsteige natürlich vollständig videoüberwacht. Was da teilweise als technische Notwendigkeit, teilweise als "Vandalenschutz" verkauft wird, ist bei näherem Hinsehen nichts anderes, als Geldtransfer an die Elektroindustrie. Die Wartungsverträge für Videoüberwachungsanlagen sind reinste Goldeselchen für die Anbieter.

Wenn man nicht mehr unüberwacht Bahn fahren kann, bleibt nur noch das Auto? Ach was. Das bereits im Jahr 2002 mit einem BigBrotherAward bedachte Mautsystem ist - von der Technik her - eine Weiterentwicklung von Videoüberwachungssystemen. Flächendeckend an allen möglichen Straßen und Kreuzungen sollen die Teile aufgestellt werden, damit alle Autos und deren Kennzeichen erfasst und ausgewertet werden können. Vollautomatisch können dann Knöllchen und Punkte verteilt werden: Wer also um 12 Uhr mittags in der Kasseler Innenstadt losgefahren ist und bereits 20 Minuten später in der knapp 50 km entfernten Göttinger Innenstadt angekommen ist, kann sich schließlich gar nicht an die Geschwindigkeitsbeschränkungen gehalten haben.

Lachen Sie nicht, über sowas wurde bereits nicht nur laut nachgedacht, sondern es wurden auch - zum Teil illegale - Pilotprojekte durchgeführt.

Kaum ein Dorf, wo nicht der Stadtrat oder Bürgermeister auf die Idee kommen, die Altglascontainer mittels Videokameras zu überwachen. Wenn man die Internetausgaben von regionalen Zeitungen durchguckt, wo man häufig auch die Dokumentationen von Ratssitzungen finden kann, kann man annehmen, dass man in einem Irrenhaus lebt, in dem die Patienten sich selbst verwalten. Eine blödsinnige Videoüberwachungsidee nach der anderen wird entwickelt und bejubelt.

Freiheit und Menschenrechte scheinen nichts zu gelten. Nur im Käfig sind wir wirklich frei, scheint die Parole zu sein: Jedem Insassen seinen eigenen Sicherheitstroll!

Das abstrus Schönste, was uns gemeldet wurde, stammt aus Montabaur. Ich zitiere aus der eingegangenen Meldung:

"Als zuständiger Dienstherr lässt der Bürgermeister von Montabaur Videoaufnahmen, die anlässlich von hilfspolizeilichen Geschwindigkeitsüberwachungen entstanden sind und die keine Geschwindigkeitsüberschreitung dokumentieren, im Nachhinein dahingehend analysieren, ob evtl. aus Gestik und Mimik des Fahrers oder der Fahrerin eine Beleidigung der mit der Verkehrsüberwachung betrauten, versteckt operierenden Politesse ableitbar wäre und erstattet ggf. Anzeige."

In dieser Reihe von dummen Gedankenlosigkeiten steht auch der Rektor der Universität Paderborn. Eine Universität ist - anders als ein Altglascontainer - ein Ort der Bildung, des Geistes und der Aufklärung. Um mit Immanuel Kant zu sprechen: Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

Die Uni Paderborn hat diesen Preis besonders verdient, denn Dr. Risch betont in seinem Grußwort die "Leitidee der Universität der Informationsgesellschaft". Demnach möchte die Uni Paderborn "die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung der Informationsgesellschaft vorantreiben, sie kritisch begleiten, gleichzeitig den Blick für die beständigen Werte unserer Kultur öffnen, aber auch die sich in der Informations- oder Wissensgesellschaft bietenden Chancen nutzen."

Diesem Anspruch wird die Universität anscheinend nicht gerecht, wenn sie sich nicht mit den Auswirkungen des hemmungslosen Technikeinsatzes beschäftigt. Weil Sie, Herr Prof. Dr. Risch, Ihrer Vorbildfunktion nicht nachgekommen sind, sondern im Gegenteil, genauso bedenkenlos wie jeder kleine Bürgermeister, Ladenbesitzer, Stadtrat oder Parteipopulist Überwachungsinstrumente zulassen, bekommen Sie in diesem Jahr den BigBrotherAward.

Herzlichen Glückwunsch, Herr Prof. Dr. Nikolaus Risch.

Laudator.in

padeluun am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
padeluun, Digitalcourage
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Regional (2005)

Grundschule Ennigloh, Volksbank Herford und Sparkasse Herford

Die Grundschule Ennigloh bei Bünde sowie die Volksbank Bad Oeynhausen Herford eG und die Sparkasse Herford erhalten eine BigBrotherAward für die Weitergabe der Namen von Schulanfängern an die genannten Geldinstitute zum Zwecke der Werbung ("Startkonto") ohne Einwilligung der Eltern.
Laudator.in:
padeluun am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
padeluun, Digitalcourage

Den Regionalpreis der BigBrotherAwards 2005 teilen sich die Grundschule Ennigloh in Bünde, die Volksbank Herford und die Sparkasse Herford für die Weitergabe und Nutzung von Adressdaten von Schulanfängern.

"Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" - nach diesem Motto versuchen insbesondere Banken schon seit Jahren mit Schülerkonten und Konfirmationsgeschenken, Kinder so früh wie möglich an sich zu binden. Inzwischen sind schon die Schulanfänger im Visier der Banken: Zum Schulbeginn wird den Kindern ein Startkonto angeboten. Damit die Kinder rechtzeitig zur Einschulung von diesem Angebot auch erfahren, schreiben die beiden konkurrierenden Unternehmen Volksbank und Sparkasse, beide in Herford ansässig, die Kinder an und schicken Werbung für's Startkonto ins Haus.

Da fragt sich die geneigte Zuhörer- oder Leserschaft doch gleich: "Moment mal, woher wissen die denn, wer eingeschult wird?"

Wir haben die Banken angerufen. Die Volksbank weiß natürlich, so sagt sie selbst, dass sie alles richtig gemacht haben. Auf dem Infoabend für die Eltern, so erklärt uns der nicht allzu freundliche Herr am Telefon der Volksbank, ist eine Liste herumgegangen, auf der die Eltern bekundet haben, dass sie solcherlei Werbung für ihre Kinder ausdrücklich begrüßen. Nun, die Eltern, die uns diesen Vorfall gemeldet haben, wissen nichts von einer Liste oder gar einer Einwilligung. Ob man uns diese Liste mal zufaxen könne? Aber nein, auf gar keinen Fall dröhnt es am Telefon, es sei ja schließlich nicht auszuschließen, dass die BigBrotherAwards solche Unterlagen dann an die Konkurrenz weiter geben würden. Aha.

Außerdem: so etwas hat die Konkurrenz überhaupt nicht nötig. Denn auch die weiß sich die Namen und Adressen der Kinder zu beschaffen. Und immerhin: Anders als bei der Volksbank werden wir am Telefon nicht angelogen. "Die jahrelangen guten Beziehungen zu den Schulen führen dazu, dass der Sparkasse die Namen der Kinder von den Schulen bekommen", sagt uns eine freundliche junge Frau am Telefon. Dann guckt die Bank nach, ob man die Adressen der Eltern dazu habe, und schon ist die Datei mit der Werbeaussendung fertig.

Die meisten Schulen denken nicht daran, dass die Daten der ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schüler Begehrlichkeiten bei allerlei - ich sag jetzt mal - Gesindel weckt. Deswegen haben wir uns entschieden (sozusagen aus pädagogischen Gründen), den Preis an erster Stelle nicht den Banken, sondern der Grundschule in Bünde zuzuerkennen. Es soll eine Mahnung für alle Schulen bundesweit sein, dass aus den Rektoraten, Sekretariaten und seitens der Kollegien keine Daten an die Adressverwerter herausgehen. Einer Instrumentalisierung der Schulen durch Wirtschaftunternehmen sollten wir nach wie vor gemeinsam entgegenwirken.

Und sowas passiert auch nicht nur an Grundschulen und bei den ABC-Schützen. An mehreren Gymnasien -- wurde uns berichtet - wurden und werden Schülerinnen und Schülern Bücher aus der Duden-Reihe versprochen. Duden, Meyer, Brockhaus - ach, das scheinen renommierte Namen zu sein. Da denkt niemand etwas Böses. Wer ist wohl seriöser als der Dudenverlag?

Diese Buchgeschenke, dünne Bändchen namens "Schülerhilfe", werden aber an eine Bedingung geknüpft: Die Schülerinnen und Schüler müssen Ihre Anschrift angeben und diese Liste muß dem "selbstlosen Geschenkemacher" von der Schule zugeschickt werden.

Und dann haben wir mal nachrecherchiert: Die Firma, über die diese Schweinerei läuft, heißt inmediaONE GmbH. Sie sitzt in Gütersloh und gehört natürlich zum Bertelsmannkonzern. Der wiederum ist einer der ganz großen Player des Adresshandels. inmediaONE beauftragt die Firma WKV GmbH bei Trier mit der Komplettabwicklung. Die Selbstbeschreibung der Firma WKV liest sich so:

"Wir betreiben aktive Neukundenakquise und erweitern damit Ihre Kundenbasis. Wir generieren [...] qualifizierte Adressen für große Unternehmen im deutschsprachigen Raum. Unsere jährliche Kapazität liegt bei einer Summe von ca. 1 Million Netto-Interessentenadressen. [...] Dies gelingt uns beispielsweise durch die Datenerfassung bei Gewinnspielen, Preisrätseln und" - hört, hört - "Gratisaktionen."

Eine Lehrerin, die ihre Vertrauensstellung nicht als Erfüllungsgehilfin zur Akquise von Neukunden missbrauchen lassen wollte, hat es ausprobiert: Sie hat die Anschriften Ihrer Schülerinnen und Schüler nicht angegeben, sondern einen Klassensatz angefordert - Und dann gab's eben auch keine Bücher. Das macht klar: Es handelt sich nicht um "Geschenke".

Hier erwarte ich auch von der Schulaufsicht, die noch vor kurzem -- im Widerspruch zur Datenschutzbeauftragten des Landes NRW -- "keinen Verstoß gegen das Datenschutzgesetz" sah, dass sie alle Schulen informiert und diesem Treiben Einhalt gebietet.

In den vergangenen Jahren haben wir immer wieder den Datenhandel in seinen verschiedensten Facetten mit einem BigBrotherAward versehen. Meist hat es die Nutznießer und Firmen getroffen. In diesem Jahr sitzt aus pädagogischen Gründen die Grundschule Ennigloh bei Bünde wegen ihrer Gedanken- oder Skrupellosigkeit in der ersten Reihe. Mit zur Nachschulung müssen in der zweiten Reihe die Volksbank und die Sparkasse Herford. In der dritten Reihe bekommt die Schulaufsicht hiermit einen blauen Brief.

Herzlichen Glückwunsch, Euch allen.

Laudator.in

padeluun am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
padeluun, Digitalcourage
Jahr
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Politik (2005)

Volker Bouffier

Der Hessische Minister des Inneren, Volker Bouffier, bekommt einen BigBrotherAward für das "präventive" Orten und Abhören von Mobiltelefonen; für die DNA-Analyse bei Kindern unter 14 Jahren, die eine Straftat begangen haben zu deren zukünftiger Strafverfolgung; für die Befugnis der hessischen Polizei, Kfz-Kennzeichen auch ohne Straftatverdacht zu scannen und für den Einsatz von Videoüberwachung bei Personenkontrollen.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Fredrik Roggan.
Dr. Fredrik Roggan, Humanistische Union (HU)

Der BigBrotherAward 2005 in der Kategorie "Politik" geht an den Innenminister des Landes Hessen, Herrn Volker Bouffier.

Sie werden ausgezeichnet für das von Ihnen zu verantwortende neue Hessische Polizeigesetz, mit dem das Fernmeldegeheimnis weiter beschnitten, die informationelle Selbstbestimmung zunehmend ausgehöhlt und der öffentliche Raum fortschreitend zu einer komplett zu überwachenden Zone degradiert wird.

Alleine die Anzahl der neuen oder ergänzten Vorschriften macht es mir unmöglich, Ihnen, Herr Bouffier, eine komplette Liste Ihrer freiheitsfeindlichen Untaten vorzuhalten. Ich muss mich also beschränken auf diejenigen Eingriffsermächtigungen, bei denen die Verstöße gegen rechtsstaatliche Maßstäbe besonders eklatant sind.

Werfen wir zunächst einen Blick auf die neue Regelung über die Telekommunikationsüberwachung, kurz TKÜ. In Hessen haben Sie jetzt das Abhören von Telefonen und den Einsatz von so genannten IMSI-Catchern erlaubt. IMSI-Catcher sind Geräte, mit denen der Standort von Menschen mit Handys auch, wenn sie nicht telefonieren, schnell festgestellt werden kann. Die präventive TKÜ und der Einsatz des IMSI-Catchers sind erlaubt zur Abwehr von gegenwärtigen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit einer Person. Unsere Kritik: Entgegen der ausdrücklichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sieht Ihr Gesetz dabei keine Regelungen vor, die den absoluten Kernbereich privater Lebensgestaltung schützen. Zu diesem Kernbereich gehören zum Beispiel Gespräche zwischen Ehepartnern, nahen Angehörigen und sonstigen Personen des höchstpersönlichen Vertrauens.

Jetzt werden Sie, Herr Bouffier, einwenden, dass etwa ein Geiselnehmer kaum während eines Banküberfalls am Telefon mit seiner Frau über Details des Ehelebens plaudert. Dabei übersehen Sie allerdings, dass der Begriff der gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben nach dem 11. September 2001 schweren Schaden erlitten hat. Viele Gerichte meinten, dass schon die abstrakte Möglichkeit, dass irgendwann einmal irgendjemand irgendeinen Anschlag verüben könnte, ausreicht, um eine gegenwärtige Gefahr annehmen zu können. "Gegenwärtige Gefahren für Leib und Leben" scheinen in Zeiten des globalen Terrors überall und jederzeit zu lauern. Wer aber will im permanenten Ausnahmezustand noch ausschließen, dass durch Ihre neue Befugnis eben auch solche Telefonate mitgehört werden, die dem unantastbaren Kernbereich des TK-Geheimnisses zuzurechnen sind? Erst vor wenigen Monaten musste das Bundesverfassungsgericht dem niedersächsischen Gesetzgeber erklären, dass auch im Bereich der TKÜ der Kernbereich privater Lebensgestaltung unantastbar ist. Diese Vorgabe missachtet Ihre Regelung.

Auch sind Sie für eine Regelung verantwortlich, nach der auch bei Personen unter 14 Jahren, also Kindern, eine DNA-Analyse durchgeführt werden darf. Voraussetzung ist, dass die Kinder eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen haben und das auch in Zukunft von ihnen zu erwarten ist. Dem Nachwuchs können zu diesem Zweck Körperzellen entnommen werden; das auf diese Weise erlangte Material darf untersucht und das so gewonnene DNA-Muster gespeichert werden. Dabei übersehen Sie, Herr Bouffier, dass die Verfehlungen von Kindern das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung in aller Regel nur wenig - wenn überhaupt - beeinträchtigen. Eine erhebliche Beeinträchtigung dieses Sicherheitsgefühls gehört aber nach verfassungsgerichtlichen Maßstäben zu einer erheblichen Straftat. Es stellt sich also grundsätzlich die Frage, ob die Kleinsten der Gesellschaft überhaupt "erhebliche Straftaten" im Sinne des Gesetzes begehen können. Über diese Zweifel hinaus missachten Sie das Prinzip, wonach frühzeitige Stigmatisierungen von jungen Menschen - etwa durch ihre Speicherung in einer "Verbrecher-Datei" - vermieden werden sollen. Und schließlich hätten Sie sich mit dem Einwand, dass Sie für DNA-Analysen zur Vorsorge für zukünftige Strafverfolgungen überhaupt keine Gesetzgebungskompetenz besitzen, etwas näher befassen sollen. Das wurde Ihnen bei der Sachverständigenanhörung im Hessischen Landtag auch ausdrücklich nahe gelegt. Genützt hat dieser Rat offenkundig wenig, denn das Gesetz wurde dennoch unverändert zur Abstimmung gebracht. Und deshalb werden Ihnen in naher Zukunft wohl die Gerichte die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern eingehender erläutern müssen.

Kommen wir zum öffentlichen Verkehrsraum, den Sie, Herr Bouffier, offenkundig in erster Linie als Überwachungsraum missverstehen. Als eines der ersten Bundesländer hat Hessen für eine Befugnis zum sog. Kennzeichen-Scannen gesorgt. Mittels Ihrer Befugnis wird die Polizei ermächtigt, im Straßenverkehr einen Abgleich von Kfz-Kennzeichen mit Fahndungsdateien der Polizei durchzuführen. Dabei wird immer dann ein Personenbezug hergestellt, wenn das Fahrzeug von seinem Halter geführt wird: Die Polizei weiß dann also, wer sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort befunden hat. Darin unterscheidet sich die Maßnahme von der "einfachen" Videoüberwachung des öffentlichen Raums durch die Polizei, bei der diese ja in der Regel nicht weiß, wen sie mit ihren Kamera-Augen auf Schritt und Tritt observiert. Dieser Personenbezug des Kennzeichen-Scannens lässt die Fahndungsmaßnahme folglich als besonders eingriffsintensiv erscheinen.

Auch in Sachen Videoüberwachung meinen Sie, neue Maßstäbe setzen zu müssen. Im Hessischen Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung steht inzwischen eine Ermächtigung, nach der die Polizei anlässlich von Personenkontrollen - etwa am Rande von Großveranstaltungen - Videoaufnahmen machen darf. Nicht nur, dass Sie damit einen weiteren Bereich des öffentlichen Lebens - zu der ja auch gelegentlich die Feststellung der Personalien von Personen gehört - einer Totalüberwachung unterwerfen. Nein, Sie differenzieren bei der Befugnis zur Speicherung der Videoaufnahmen auch noch zwischen den kontrollierten Personen und unvermeidbar betroffenen Dritten. Die Speicherung ist nur bei den Kontrollierten erlaubt, bei den übrigen Passanten aber nur die Datenerhebung, also die Vorstufe für eine Datenspeicherung. Wie aber, Herr Bouffier, wollen Sie eine Datenspeicherung der Passanten verhindern, wenn das Abbild der kontrollierten Personen gespeichert wird? Die Jury hält das, was nun im Gesetz steht, wirklich für legislativen Unfug, auf den Sie per Rechtsgutachten ebenfalls im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes bereits hingewiesen worden waren.

Sie, Herr Bouffier, sind Wiederholungstäter im Sinne der BigBrotherAwards. Bereits im Jahr 2002 wurden Sie geehrt für eine Polizeirechtsnovelle, mit der die Voraussetzungen für die Rasterfahndung erheblich herabgesetzt wurden und damit gleichzeitig eine sehr sorgfältig begründete Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt konterkariert wurde. Wir haben das als Ihre erste, erhebliche Verletzung bürgerlicher Freiheit verstanden, durch die das sichere Gefühl, in einem freien Land zu leben, erheblich beeinträchtigt wurde. Das neue Hessische Polizeigesetz ist nun ein weiterer Beweis dafür, welch geringe Bedeutung Sie datenschutzrechtlichen Belangen zusprechen. Informationelle Selbstbestimmung, Herr Bouffier, ist ein Grundrecht. Irrtümlich gehen Sie offensichtlich immer noch davon aus, dass man Grundrechte fast beliebig einschränken kann, ohne irgendwann auch ihren Wesensgehalt anzutasten. Dieses abermalige Vergehen an einer freien Gesellschaft führt zu Ihrer unbefristeten Speicherung in der bei uns geführten Datei über Datenkraken.

Herzlichen Glückwunsch, Herr Bouffier.

Laudator.in

Portraitaufnahme von Fredrik Roggan.
Dr. Fredrik Roggan, Humanistische Union (HU)
Jahr
Kategorie
Verbraucherschutz (2005)

WM-Organisationskomittee

Das WM-Organisationskomittee des DFB, vertreten durch Franz Beckenbauer, erhält einen BigBrotherAward für die inquisitorischen Fragenbögen zur Bestellung von WM-Tickets, für die geplante Weitergabe der Adressen an die FIFA und deren Sponsoren und für die Nutzung von RFID-Schnüffelchips in den WM-Tickets und damit den Versuch, eine Kontrolltechnik salonfähig zu machen zum Nutzen eines WM-Sponsors (RFID-Hersteller Philips).
Laudator.in:
Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage

Der BigBrotherAward 2005 in der Kategorie "Verbraucherschutz" geht an den FIFA Fussball-Weltmeisterschaft 2006 Organisationskomitee Deutschland im DFB, vertreten durch Franz Beckenbauer, für die inquisitorischen Fragebögen zur Bestellung von WM-Tickets, für die geplante Weitergabe der Adressen an die FIFA und deren Sponsoren und für die Nutzung von RFID-Schnüffelchips in den WM-Eintrittskarten und damit den Versuch, eine Kontroll- und Überwachungstechnik salonfähig zu machen zum Nutzen des WM-Sponsors und RFID-Herstellers Philips.

Eigentlich war es recht vorhersehbar, dass das WM-Komitee einen BigBrotherAward bekommt. Schon 2003 stand die mit einem Schnüffelchip verwanzte Eintrittskarte der Fußballweltmeisterschaft 2006 auf der Kandidatenliste. Die BigBrotherAwards-Jury hat sich dann aber damals doch für Metros Testsupermarkt "Future Store" entschieden, wo die Funkchips schon im Kundenbereich zum Einsatz kamen. Dieser BigBrotherAward für Metro hatte weltweite Wirkungen: Die RFID-Industrie steht seitdem in der Kritik.

Im Jahr 2004 stand das WM-Komitee wieder auf der BBA-Kandidatenliste - mittlerweile waren der Jury auch weitere Details bekannt - aber wir wollten nicht langweilen und schon wieder ein RFID-Thema in den Mittelpunkt stellen. "2006 ist ja noch weit weg", dachten wir, "da können wir ja noch ein Jahr später was tun."

Nach der Preisverleihung vor einem Jahr stellten wir plötzlich fest, dass das WM-Überwachungsszenario viel näher war, als wir glaubten. Das Bündnis Aktiver Fußballfans, kurz "BAFF" (das sind die, die den schönen Satz "Sitzen ist für den Arsch" geprägt haben), machte uns darauf aufmerksam, dass der Eintrittskartenverkauf in bald drei Monaten - also im Februar 2005 - beginnen würde. Aus mangelnder Fußballbegeisterung hätten wir den sich anbahnenden Datenschutzgau fast verpasst...

Zu den Fakten: Jede und jeder, die oder der ein "Ticket" haben wollte, muss dies beantragen. Und zum Antrag gehören Daten. Name. Adresse. Kinderkrankheiten... Nein, Kinderkrankheiten nicht. Aber: Geburtsdatum, Telefon, Nationalität und wessen Fan ich bin. Bitte? In Deutschland? 60 Jahre nach Kriegsende, 60 Jahre nachdem ganze Völkergruppen aus deutschen KZs ermordet worden sind, fragt ein deutsches Unternehmen auf einem Fragebogen nach Nationalität und für welche Nationalität mein Herz schlägt? Ich bin Grieche und finde die Türken toll? Ich habe einen amerikanischen Pass und mein Herz schlägt für die saudi-arabische Nationalmannschaft? ...

Und wozu wird beispielsweise das Geburtsdatum abgefragt? Für die Kartenbestellung ist es überflüssig - für die Werbebranche dagegen von großem Wert.

Wer braucht diese Daten - wer bekommt sie und was passiert damit? Nun, sie gehen auf jeden Fall an die FIFA1, den Weltfußballverband, und von dort an deren Sponsoren, als da wären Coca Cola, Mastercard, Gillette, Philips, die Airline der Vereinigten Arabischen Emirate, die Telekom, McDonalds und und und.

Der Soziologe Richard Sennett sagt sinngemäß: "Der moderne Kapitalismus ist in seiner Grundtendenz antidemokratisch. Er begünstigt das, was ich "eine weiche Spielart des Faschismus" genannt habe. In der neuen Politik ist das Diktat auf dem Vormarsch - sie führt zu willkürlichen und autoritären Entscheidungen und ihr ist es völlig gleichgültig, was die Mehrheit der Menschen denkt."

Aber es geht ja auch gar nicht um Menschen. "Es geht um Sicherheit", sagt das WM-Organisationskomitee. Und deshalb sollen alle Karteninteressenten auch noch die Personalausweis- oder Reisepassnummer angeben. Aber: Die Erhebung und Verarbeitung dieser Nummer ist nach dem Personalausweisgesetz gar nicht statthaft, denn die Nutzung der Ausweis-Seriennummer als eindeutige Personenkennziffer hat der Gesetzgeber verboten. Doch das störte das WM-OK des DFB wenig.

Und das WM-OK fühlt sich beim Datenmissbrauch offensichtlich sicher. Denn Innenminister Otto Schily höchstpersönlich sitzt mit im Organisationskomitee der Fußball-WM und deckte die Abgabe der Ausweisnummer, ja vermutlich forderte er sie sogar. Die Personalausweis-Nummer wird gespeichert und kann in einer Datenbank mit der Nummer auf dem RFID-Chip verknüpft werden, der in die Eintrittskarten integriert ist.

Sowohl Otto Schily als auch der DFB haben bereits von der Journalistenvereinigung "Netzwerk Recherche" den Negativpreis "Die verschlossene Auster" dafür erhalten, dass sie bei kritischen Fragen Journalisten keine Auskünfte geben. Auch als der FoeBuD gerade noch rechtzeitig vor der Ticketvergabe die Öffentlichkeit aufrüttelte, und auch viele Journalisten deswegen anfragten, herrschte - wie auch schon im Vorfeld - seitens des OK und des Innenministeriums tiefes Schweigen. Keine Interviews. Kein Kommentar.

Auch auf eine Abmahnung des Verbraucherschutzverbandes vzbv wegen schwerwiegender Mängel in den Fragebögen reagierte der DFB erst, als die Verbraucherschützer mit einer einstweiligen Verfügung drohten, nach der der Ticketverkauf hätte eingestellt werden müssen.

Inzwischen hat der DFB einem lauen Kompromiss zugestimmt. Zwar muss auf den Formularen nun eindeutig der werblichen Nutzung der abgegebenen Daten zugestimmt werden, aber die illegale Eingabe der Personalausweisnummer wird nach wie vor verlangt. Die illegale Abfrage unnötiger Daten ist ebenfalls nicht vom Tisch, oder dass Karteninteressenten die Ausweis-Nummern von Freunden oder Familienmitgliedern eintragen müssen, wenn sie mehrere Karten bestellen.

Deutliche Kritik gab es auch von den Datenschützern vom Unabhängigen Landesdatenschutzzentrum Schleswig-Holstein. Sie griffen die Kritik des FoeBuD auf und veröffentlichten eine kritische rechtliche Bewertung. Dr. Thilo Weichert fasst zusammen:

"Die Fußball-Weltmeisterschaft wird zu einem Überwachungsgroßprojekt missbraucht, mit dem Fußball-Fans vollständig kontrollierbar gemacht werden sollen. Mit diesem Mehr an Überwachung wird aber kaum mehr Sicherheit erreicht. (...) Zugleich wird mit dem Ticket-Verfahren die RFID-Technik, der Einsatz von kleinen Funkchips, in der Gesellschaft hoffähig gemacht. RFID sind in der Logistik sinnvoll, dieser Einsatz am Menschen ist aber alles andere als datenschutzfreundlich. Auf dem Bestellformular werden zudem mehr Daten als notwendig abgefordert. (...) Da keine Alternative angeboten wird, stehen die Fußball-Fans vor der Alternative, entweder ihre Daten preiszugeben, oder auf die Teilnahme an WM-Spielen zu verzichten. Für den DFB steht offensichtlich nicht der Genuss am Fußball im Vordergrund, sondern die Vermarktung der Fans als Ware."

Es ist ein verhängnisvoller Trend, dass zunehmend Leistungen davon abhängig gemacht werden, dass Bürger einem Unternehmen als gläserner Kunde gegenübertreten müssen. Dass Eintrittskarten verpflichtend personalisiert werden, ist eine Anmaßung eines immer autoritärer werdenden Systems.

Die gebetsmühlenartig vorgetragenen "Sicherheitsaspekte", die wir uns immer wieder als Vorwand für dieses Gesetz und jene Maßnahme anhören müssen, sind eine Farce. Wenn Fußballspiele tatsächlich so ein Sicherheitsrisiko sein sollten, dass es nur noch möglich ist, sie in totalitären Staaten abzuhalten, dann müssen Fußballbegeisterte eben in totalitäre Staaten ausweichen. Wir wollen keinen Staat, in dem über die ständige Drohung mit einer diffusen Terrorismusgefahr Preisgabe von Bürgerrechten und angepasstes Wohlverhalten der Bürgerinnen und Bürger erzwungen wird.

Das Erfassen der Daten im Bestellformular bringt keine Sicherheit. Der RFID-Chip, im WM-Ticket, der per Funk ausgelesen werden kann, ermöglicht das Tracking von Fußballfans, also das Verfolgen und Erstellen von Bewegungsprofilen - aber er bringt keine Sicherheit (er erhöht vermutlich nur den Schwarzmarktpreis). Das wissen die Drahtzieher im WM OK offensichtlich auch.

Originalton aus dem Interview eines Journalisten mit einem der ranghöchsten FIFA-IT-Spezialisten: "Why do you need RFID?" - "Because Philips is our sponsor." - "Are there any technical advantages with these chips?" - "Philips is our sponsor. Please ask their representive."

Bei der Fußball-WM wird versucht, über die WM-Tickets, die jeder Fan haben will, RFID-Technologie in Deutschland zu etablieren - denn die RFID-Lesegeräte in den Stadien werden wohl kaum zum Ende der WM wieder abgebaut. So wird - mit Millionen von Fußballfans als Testobjekten - eine potentielle Überwachungs- und Kontrollstruktur salonfähig gemacht.

Und Sie, Herr Beckenbauer, halten auch dafür Ihr Gesicht in jede Kamera.

Übrigens, die Quote stimmt auch bei uns. Rein zahlenmäßig kamen Sie bei den Vorschlägen, wer einen BigBrotherAward bekommen soll, auf den zweiten Platz. Doch das ist kein Grund zur Freude, denn jede Nominierung ist eine Rote Karte - Ihnen zugedacht von den deutschen Fußballfans.

Herzlichen Glückwunsch zum BigBrotherAward, lieber DFB, liebes WM-Organisationskomitee, lieber Franz Beckenbauer.

Laudator.in

Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage
Quellen (nur eintragen sofern nicht via [fn] im Text vorhanden, s.u.)
Jahr
Kategorie
Technik (2005)

Videoüberwachung

Der BigBrotherAward 2005 in der Kategorie Technik geht an einige ganz eifrige Überwachungsfetischisten für die schleichende Degradierung von Menschen zu überwachten Objekten und der Verharmlosung der Folgen von flächendeckender Überwachung.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Karin Schuler.
Karin Schuler, Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD)

Der BigBrotherAward 2005 in der Kategorie "Technik" geht stellvertretend an tja, wen eigentlich? für die schleichende Degradierung von Menschen zu überwachten Objekten Verharmlosung von Tendenzen zu flächendeckender Überwachung.

Popeln Sie manchmal in der Nase, wenn grad keiner guckt? Sitzen Sie bei langweiligen Vorträgen gerne schlafend in den hinteren Reihen? Überfallen Sie manchmal Tankstellen? "Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein!" - Dieser berühmte Seufzer von Friedrich K. Waechters Truthahn war schon im Cartoon unberechtigt (ein Schwein guckte und war begeistert). Und wir alle haben immer weniger Anlass zu dieser "Befürchtung", denn alle möglichen Arten von "Schweinen" gucken uns in immer mehr Lebensbereichen zu - ohne dass wir sie sehen könnten. Allerdings verstecken sie sich heute hinter Bildschirmen, die von Videokameras gespeist werden - eine höchst einseitige Blickverbindung, bei der sie sich nicht als Betrachter offenbaren müssen. Dem Beobachteten ist der Blick auf den Beobachter verstellt: er mutiert zum bloßen Objekt der Betrachtung und weiß nicht, wer ihn wann, wie nah und zu welchem Zweck betrachtet, begafft, anstiert oder filmt.

Richter an deutschen Gerichten hingegen sprechen der anonymen Kamera als Vertreterin staatlicher Gewalt inzwischen quasi Persönlichkeitsrechte zu. Bereits im Jahr 2000 entschied das bayerische Oberlandesgericht, dass ein vor laufender Kamera gezeigter Stinkefinger als persönliche (!) Beleidigung der hinter dem Bildschirm spannenden Polizeibeamten anzusehen und ein Bußgeldverfahren berechtigt ist. Das Amtsgericht Stadtroda schrieb im Jahre 2004 einen fast gleichlautenden Fortsetzungsroman. Muss man demnächst befürchten, wegen Beleidigung des Finders verklagt zu werden, wenn man Urlaubsfotos von Menschen mit nackten Hintern auf der Straße verliert?

Da erscheint das folgende Szenario nur folgerichtig: Wenn Sie kurzsichtig sind, im U-Bahnhof Brandenburger Tor erst an Ihrer Freundin vorbeilaufen, mit der Sie verabredet sind, und wieder zurücklaufen, nachdem sie Ihnen nachruft --- dann, ja dann sollten Sie sich schon mal auf einen kleinen Polizeiauflauf um sie herum einstellen - oder sich besser an einem anderen Ort verabreden. Denn genau dieses Verhalten (vorbeilaufen, anhalten, zurücklaufen und anschließend beieinander stehen) legen gemäß einer Analyse typischer Verhaltensmuster Drogendealer an den Tag - und werden damit in Zukunft sofort die Aufmerksamkeit der Mustererkennungssoftware erregen. Und wenn Sie Ihr Verhalten nicht ändern wollen - die Drogendealer werden es mit ziemlicher Sicherheit schnell schaffen. Weswegen man auf Dauer mit der Mustererkennung alleine nicht auskommt.

"Warum also nicht stets die neueste Technologie ausprobieren oder besser: ausprobieren lassen?", dachte sich der Betriebsvorstand der Berliner Verkehrsbetriebe, Thomas Necker. Und deshalb hat er - vielleicht gab es ja auch ein paar zusätzliche Werbeeinnahmen dafür - gleich den ganzen U-Bahnhof Brandenburger Tor als Spielwiese für die Hersteller von Überwachungstechnologie frei gegeben. Die Spielgeräte werden von dankbaren Unternehmen gestellt, die notwendigen Utensilien, nämlich uns, gibt es gratis dazu.

Auch die Deutsche Bahn setzt seit langem, wie ja auch die Berliner Verkehrsbetriebe und mit ihr viele andere städtische Verkehrsbetriebe, auf die flächendeckende Videoüberwachung ihrer Bahnhöfe und Bahnsteige. Da muss man fast dankbar sein, dass man im ICE noch nicht unter Dauerbeobachtung durch ein Videoauge steht - wie dies in vielen Bussen und Bahnen bereits fragwürdige Normalität ist. Aber: bis man in den ICE entkommt, steht man dafür unter besonders gründlicher Beobachtung. Da aber nichts so gut ist, dass man es nicht noch verbessern könnte, plant die Bahn jetzt eine zentrale Überwachungszentrale in Berlin. Hier sollen sowohl der bahneigene Sicherheitsdienst wie auch der Bundesgrenzschutz (der jetzt Bundespolizei heißt) Zugriff auf sämtliche Videokameras auf deutschen Bahnhöfen erhalten. Das angekündigte Ziel besteht in der Ausstattung jedes einzelnen Bahnhofs mit einer an die Berliner Zentrale angeschlossenen Kamera. Abgesehen von der fehlenden rechtlichen Grundlage für die Konstruktion (es gibt z.B. noch keinen Datenschutzvertrag zwischen Bahn und Bundespolizei, wie auch der Berliner Datenschutzbeauftragte säuerlich vermerkte), fragt man sich, wie sinnvoll es ist, wenn man in Berlin sieht, dass in München-Ost gerade jemand überfallen wird. Jedoch geht es vermutlich nicht um so unwichtige Dinge wie Pöbeleien, Vergewaltigungen oder Handtaschenraub, sondern um die ganz großen Gefahren: Terror, bestenfalls noch Raub und Mord, die man nun von Berlin aus zentral im Blick behalten will, wenn man sie schon nicht verhindern kann.

Perfekt ist an dieser Überwachung vor allem eines: Die weitgehende Erfassung großer Lebensbereiche vieler Menschen, die auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen sind, wie zum Beispiel Pendler oder Schülerinnen und Schüler.

Da könnten einem die Polizeibehörden diverser Kommunen ja fast schon Leid tun, die nicht durch ein Softwareprogramm in Echtzeit potenzielle Verfehlungen der Beobachteten "berechnen" können, sondern das Bildmaterial der zunehmenden Anzahl mobiler Überwachungskameras noch selbst auswerten müssen. Durch die einfache Platzierung dieser mobilen Anlagen bleibt nur allzu oft die ernsthafte Abwägung zwischen Nutzen und Grundrechtseingriff auf der Strecke, wie z. B. in Leipzig, wo trotz offensichtlicher Nutzlosigkeit der Videoüberwachung eines krawallgefährdeten Platzes dessen weitere Überwachung sogar durch öffentlich vorgetragene Lügen durchgeboxt wurde. Auch in Bielefeld wurde es bei der Rechtfertigung der Videoüberwachung im Ravensberger Park mit der Wahrheit nicht so genau genommen. Von großem Erfolg und sinkender Kriminalität berichtete das Ministerium. Das Gegenteil war jedoch der Fall, wie der FoeBuD e.V. für die Jahre 2000 und 2001 errechnete. Die Straftaten im Park sind nach Installation der Kameras 2000 sogar von 6 auf 9 gestiegen. Was nicht ins Bild passte, sollte offenbar passend gemacht werden. Bei derartiger öffentlicher Überwachungswut wundert es fast schon nicht mehr, wenn Private für sich in Anspruch nehmen, was öffentliche Stellen ihnen auf vielfältige Weise vormachen und vorbeten.

"Wozu gesetzliche Hinweisvorschriften beachten, wenn die staatlich organisierte Überwachung doch auch ohne Kenntnis der Überwachten zunehmend im Geheimen arbeitet?" muss sich der Bahnhofsbuchhändler Stilke gedacht haben, als er heimlich Video-Spione in die Decke seiner Hamburger Bahnhofsfiliale einbaute, um die Belegschaft "im Blick zu haben" - ein eindeutig rechtswidriger Vorgang. Und da Angriff bekanntlich die beste Verteidigung ist, sollte der Kollege, der die Kamera zufällig entdeckt hatte, wegen Sachbeschädigung (der Kamera) fristlos entlassen werden.

Videoüberwachung gehört inzwischen so zu unserem Alltag, dass es keine moralischen Hemmschwellen mehr zu geben scheint. Den meisten "Videoten" fällt kaum noch ein, dass es juristische Grenzen geben könnte, die man nicht überschreiten darf.

Wem Unrecht widerfährt oder wer das auch nur befürchtet, ist anscheinend häufig bereit, das Recht in die eigene Hand zu nehmen und Selbstjustiz zu üben. Nicht selten schießen die Protagonisten dabei weit übers Ziel hinaus und verlieren jedes Maß - insbesondere das Persönlichkeitsrecht vieler Betroffener - aus den Augen.

In diese Kategorie fällt auch die heimliche Videoüberwachung und anschließende Internet-Veröffentlichung von Kundenfotos aus Läden des Macintosh-Großhändlers GRAVIS. Der hatte anscheinend Polizei und Staatsanwaltschaft gar nicht erst mit Arbeit behelligen wollen und heimlich aufgenommene Videoaufnahmen von Kunden im Internet veröffentlicht - mit der Bitte um Mithilfe bei der Identifizierung. Angeblich handelte es sich um Mitglieder einer Hehlerbande, die systematisch Einbrüche in GRAVIS-Geschäfte verübte. Als Preis bei diesem "Pranger-Spiel" winkte ein iPod...

Seit einigen Jahren kursieren FoeBuD-Aufkleber "Diese Toilette wird aus hygienischen Gründen videoüberwacht". Nicht wenige haben daraufhin beim Besuch des Stillen Örtchens verschreckt die Zimmerdecke abgesucht. Aber keine Idee ist so absurd, als dass sie nicht noch von der Realität übertroffen werden könnte: In der "Wellness-Oase Mediterana" in Bergisch Gladbach wird diese Schwelle deutlich überschritten.

Nachdem man den nicht geringen Eintritt bezahlt hat, empfangen einen außer orientalischen Formen, luxuriösen Saunen und angenehmer Musik auch Videokameras an den Decken der Sammelumkleiden. Weder findet sich jedoch die gesetzlich vorgeschriebene Kennzeichnung der Überwachung, noch lässt sich in Erfahrung bringen, wer diese Aufnahmen nackter Leute betrachtet, aufzeichnet oder vielleicht auch mal wieder löscht. Ob es einen Datenschutzbeauftragten gibt, bleibt ebenfalls das Geheimnis des Betreibers.

Obwohl schon diese ernüchternde Sammlung erschreckender Beispiele zeigt, dass wir auf dem besten Wege zu flächendeckender Videoüberwachung sind, könnte man die Aufzählung noch stundenlang fortsetzen. Wir haben deshalb entschieden, in diesem Jahr im Bereich Technik keinen einzelnen Preisträger zu küren. Denn das würde die jeweils anderen Video-Überwacher im Glauben wiegen, sie seien noch mal davon gekommen.

Nein, wir sagen: Herzlichen Glückwunsch euch allen, Ihr befindet euch in schlechter Gesellschaft.

Laudator.in

Portraitaufnahme von Karin Schuler.
Karin Schuler, Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD)
Jahr
Kategorie
Kommunikation (2005)

Generalstaatsanwalt Schleswig-Holstein

Generalstaatsanwaltschaft des Landes Schleswig-Holstein, vertreten durch Erhard Rex, erhält einen BigBrotherAward für die großflächige Fahndung nach Zeug.innen (die wie Verdächtige behandelt wurden) mittels Handy-Ortung. Es handelt sich um die erste Funkzellen-Massenabfrage – Mobilfunkunternehmen wurden zur Herausgabe sämtlicher Verbindungsdaten einer Region gezwungen. Die Einsicht in die zugehörigen Akten wurde den Datenschützern des Landes Schleswig-Holstein, die den Fall prüfen wollten, verweigert.
Laudator.in:
Alvar Freude am Redner.innenpult während der BigBrotherAwards 2008.
Alvar Freude, Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG)

Der BigBrotherAward 2005 in der Kategorie "Kommunikation" geht an Erhard Rex, den Generalstaatsanwalt Schleswig-Holstein, als Leiter der Staatsanwaltschaften Kiel und Lübeck, für die großflächige Suche nach Zeugen mittels Handy-Ortung ohne fundierte Begründung und für die Verweigerung, die dazugehörigen Unterlagen den Datenschützern des Landes Schles-wig-Holstein zur Einsicht zur Verfügung zu stellen.

Als im Juni 2005 ein Restpostenmarkt in Bad Segeberg durch Brandstiftung in Flammen aufgeht, beantragt die Staatsanwaltschaft, dass die Polizei eine so genannte Funkzellenabfrage durchführen darf. Die Mobilfunkanbieter T-Mobile, Vodafone, E-Plus und O2 werden daher aufgefordert, jeden ihrer Kunden zu ermitteln, der in der Nacht der Brandstiftung zur Tatzeit in der Nähe des Tatortes telefoniert hat. 700 Handy-Besitzer werden daraufhin von der Polizei angeschrieben. Sie sollen in einem Fragebogen angeben, wo sie in der fraglichen Nacht waren, wer bei ihnen war und ob ihnen etwas aufgefallen sei. Gegenüber der Presse gibt die Polizei zu verstehen: Wer nicht antwortet, macht sich verdächtig.

Der Fragebogen ist umfangreich - wer beispielsweise in einem Fahrzeug saß, soll Kennzeichen, Marke, Typ und Farbe angeben. Seines eigenen Fahrzeuges - Werden hier wirklich nur Zeugen gesucht? Unter den Adressaten dieses Fragebogens ist auch ein Journalist, der über das Feuer berichtet und am Tatort telefoniert hatte. Presseberichte lösen schließlich eine Behandlung des Themas im Innen- und Rechtsausschuss des schleswig-holsteinischen Landtags aus. Dabei stellt sich heraus, dass diese Funkzellenabfrage eine ganz besondere Premiere darstellt: zum ersten Mal sollen keine Verdächtigen oder gar Täter ermittelt werden, sondern Zeugen. Die jedoch werden gleich als mögliche Verdächtige behandelt.

Ein Mord in Oedendorf, südöstlich von Hamburg, im Juli 2005, führt ebenfalls zu einer Handyortung. Rund 3000 Personen werden auf Anordnung der Staatsanwaltschaft ermittelt, aber der öffentliche Druck ist groß, und die Aktion muss gestoppt werden. Bis dahin wurden jedoch bereits 150 Personen telefonisch befragt. Wie viele von ihnen werden sich - durch unbedachte Äußerungen oder Mißverständnisse - verdächtig gemacht haben? Schließlich liegt der Tatort in der Nähe einer Landstraße und einer Autobahn. Viele Handybenutzer, die hier unterwegs waren, geraten ins Visier der Ermittler.

Was mit den ermittelten Daten und den Gesprächsprotokollen geschehen ist, ist unbekannt. Denn als im September Mitarbeiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz die Datenverarbeitung überprüfen wollen, verbietet die Staatsanwaltschaft der Polizei die Herausgabe der Akten.

Die Jury des BigBrotherAward ist der Ansicht, dass in beiden Fällen das berechtigte Interesse des Staates zur Strafverfolgung in nicht hinnehmbarer Weise die Grundrechte der Betroffenen verletzt hat. Mobilfunk-Unternehmen wurden ohne konkreten Tatverdacht gezwungen, die Datenschutzvereinbarungen mit ihren Kunden zu brechen. Unzählige Unschuldige wurden zu Verdächtigen. Die Beweislast wurde umgekehrt - potenzielle Zeugen mussten beweisen, dass sie keine Täter sind.

Herzlichen Glückwunsch, Erhard Rex, Generalstaatsanwalt in Schleswig-Holstein.

Laudator.in

Alvar Freude am Redner.innenpult während der BigBrotherAwards 2008.
Alvar Freude, Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG)
Jahr
Kategorie
Behörden & Verwaltung (2005)

Landesregierung Niedersachsen

Die Regierung des Landes Niedersachsen, vertreten durch den Ministerpräsidenten Herrn Christian Wulff, erhält einen BigBrotherAward für die Zerschlagung der Datenschutzaufsicht in Niedersachsen. Die Aufsicht über den Datenschutz in der Wirtschaft soll ab 1.1.2006 dem niedersächsischen Innenministerium zugeordnet werden. Dies konterkariert das jüngst von der EU-Kommision gegen Deutschland eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren wegen Missachtung der EU-Datenschutzrichtlinie. Die EU-Richtlinie fordert völlige Unahängigkeit der Datenschutzaufsicht.
Laudator.in:
Werner Hülsmann am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2004.
Werner Hülsmann, Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF)

Der BigBrotherAward 2005 in der Kategorie "Behörden und Verwaltung" geht an den Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen, Herrn Christian Wulff für die Zerschlagung der Datenschutzaufsicht in Niedersachsen.

Langsam, aber stetig geben immer mehr Landesregierungen die Datenschutzaufsicht über die Wirtschaft ab und legen sie in die Hände der unabhängigen Landesdatenschutzbeauftragten. Die Niedersächsische Landeregierung allerdings hat entschieden, die Datenschutzaufsicht über die Wirtschaft zu Beginn des kommenden Jahres vom Landesdatenschutzbeauftragten an das Ministerium für Inneres und Sport zu übergeben.

Bislang war in Niedersachsen die Datenschutzaufsicht für die Wirtschaft zweigeteilt: Das Innenministerium hatte die Rechtsaufsicht und der Landesdatenschutzbeauftragte die Fachaufsicht. Er verkörperte damit die eigentlich zuständige Aufsichtsbehörde. Diese Zweiteilung war spätestens seit der Verabschiedung der EU-Datenschutzrichtlinie vom Oktober 1995 nicht mehr zeitgemäß. Dort wird gefordert, dass die Datenschutzaufsicht - nicht nur für die öffentliche Verwaltung, sondern auch im Bereich der Wirtschaft - völlig unabhängig sein muss.

Und dies aus gutem Grund. Nicht selten lassen Entscheidungen von bei Regierungspräsidien und Innenministerien angesiedelten Datenschutzaufsichtsbehörden in verschiedenen Bundesländern vermuten, dass auch die Interessen der Sicherheitsbehörden - also z.B. Polizei oder Staatsanwaltschaft - bei der datenschutzrechtlichen Beurteilung mitentscheidend waren. Beispielhaft seien hier nur zwei Entscheidungen genannt: Erstens die des Regierungspräsidiums Darmstadt zur Erlaubnis der Verbindungsdatenspeicherung bei Internet-Flatrates für bis zu sechs Monate, die - wie auch das zuständige Amtsgericht inzwischen feststellte - gesetzwidrig ist, und zweitens die Entscheidung des Innenministeriums von Baden-Württemberg zur Zulässigkeit der Einführung eines Verfahrens, bei dem mit dem Fingerabdruck bezahlt wird. Hierzu müssen natürlich die digitalen Gegenstücke der Fingerabdrücke in der Kneipe oder auch in den Zentralen der Einzelhandelsketten wie z.B. bei EDEKA gespeichert werden. In beiden Fällen haben die Ermittler ein quasi "natürliches" Interesse an diesen Datenbeständen.

Eine Änderung der Datenschutzaufsicht in Niedersachsen war also 10 Jahre nach Erlass der EU-Datenschutzrichtlinie höchste Zeit. Nur hat Niedersachsen den Schritt in die falsche Richtung gemacht. Statt also auch die Rechtsaufsicht auf den unabhängigen Landesdatenschutzbeauftragten zu übertragen, wie dies bereits in einigen anderen Bundesländern seit Jahren erfolgreich praktiziert wird, richtet die niedersächsische Landesregierung beim Ministerium für Inneres und Sport eine neue Abteilung ein. Der Landesdatenschutzbeauftragte soll künftig nur noch für die Landes- und Kommunalverwaltungen in Niedersachsen zuständig sein, die Wirtschaft wird vom Innenministerium kontrolliert. Gleichzeitig spricht die Regierung von "Synergie-Effekten". Diese wären aber sicherlich größer, wenn man alle Kompetenzen künftig in eine Hand, nämlich die des Landesdatenschutzbeauftragten, gegeben hätte.

Pikanterweise hat die EU-Kommission im Juli 2005 gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Missachtung der EU-Datenschutzrichtlinie eingeleitet, da die in den einzelnen Bundesländern unterschiedlichen Formen von Fach-, Rechts- und Dienstaufsicht über den Datenschutz in der Wirtschaft nicht die Forderung nach "völliger Unabhängigkeit" der Aufsichtsbehörden erfüllen. Anstatt die Datenschutzbehörden unabhängiger zu organisieren, macht die Entscheidung der niedersächsischen Landesregierung die Datenschutzaufsicht jetzt erst Recht abhängig von den Interessen der Landesregierung.

Es ist doch Augenwischerei, wenn die Niedersächsische Staatskanzlei in einer Pressemitteilung erklärt, dass mit dieser Aufgabenverlagerung auch "Reibungsverluste" im "gesetzesvorbereitenden Bereich" vermieden würden. Es ist doch offensichtlich, dass die Regierung damit den Landesdatenschutzbeauftragten für seine kritischen Stellungnahmen zu manchem Gesetzesentwurf abstraft! Die Stellungnahme zur - inzwischen für verfassungswidrig erklärten - präventiven Telekommunikationsüberwachung, in der der niedersächsische Datenschutzbeauftragte einer Gesetzesbegründung widersprach, ist hierfür nur ein Beispiel1.

Hier scheint die niedersächsische Landesregierung dem scheidenden Bundesinnenminister nacheifern zu wollen. Auch diesem gefallen die Stellungnahmen "seines" Datenschutzbeauftragten nicht und so forderte er vom Bundesbeauftragten für den Datenschutz mehr Zurückhaltung und warf ihm Kompetenzüberschreitung vor. Dabei gehört es zu den Aufgaben des Bundesdatenschutzbeauftragten, sich auch zu Regierungsvorhaben kritisch zu äußern. Und es kommt nicht darauf an, ob diese Stellungnahmen der Regierung und insbesondere dem Bundesinnenminister passen oder nicht.

Zynisch ist in der Presseerklärung der Niedersächsischen Staatskanzlei zur Aufgabenverlagerung auch ein Hinweis auf Baden-Württemberg und Bayern, in denen die Datenschutzaufsicht für die Wirtschaft im Innenministerium bzw. bei einer Bezirksregierung angesiedelt ist. Denn auch dort lässt die Datenschutzaufsicht zu wünschen übrig. Aufgrund der sehr geringen personellen Ressourcen der dortigen Aufsichtsbehörden ist es kein Wunder, dass in diesen beiden Bundesländern die Wirtschaft und auch die betroffenen Bürgerinnen und Bürger von der Datenschutzaufsicht nahezu nichts merken. Inzwischen wird daher auch dort über eine Herauslösung der Datenschutzaufsicht aus dem Bereich der Innenministerien zumindest nachgedacht.

Der Preis geht an den Ministerpräsidenten Christian Wulff als Stellvertreter für die Gremien der niedersächsischen Landesregierung, die die Zerschlagung der Datenschutzbehörde beschlossen haben. Mildernde Umstände kommen für Herrn Wulff nicht in Betracht, da das Land Niedersachsen nicht nur dem Niedersächsischen Landesdatenschutzbeauftragten die Datenschutzaufsicht über die Wirtschaft entzieht. Es hat vielmehr auch gemeinsam mit Hessen einen Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht, der - wenn er vom Bundestag angenommen wird - dazu führen würde, dass bedeutend weniger Unternehmen einen betrieblichen Datenschutzbeauftragten bestellen müssten und damit die innerbetriebliche Datenschutzkontrolle durch die betrieblichen Datenschutzbeauftragten deutlich geschwächt würde. Eine abhängige staatliche Datenschutz über die Wirtschaft, wie sie in Niedersachsen eingeführt wird, gepaart mit einer Schwächung der innerbetrieblichen Datenschutzkontrolle lässt für den Kunden- und Arbeitnehmerdatenschutz leider nichts Gutes erwarten!

Herzlichen Glückwunsch, Christian Wulff, Ministerpräsident des Landes Niedersachsen.

Laudator.in

Werner Hülsmann am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2004.
Werner Hülsmann, Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF)
Jahr
Wirtschaft (2005)

Saatgut Treuhand

Die Saatgut Treuhand Verwaltungs GmbH, vertreten durch Geschäftsführer Dirk Otten, erhält einen BigBrotherAward für Datensammlung über Bauern; Verklagen von mehreren tausend auskunftsunwilligen Landwirten; Beschaffung der Kundendaten von Genossenschaften und verdeckte Testeinkäufe bei Bauern. Die Bauern werden von der Saatgut Treuhand verdächtigt, Kartoffeln oder andere Feldfrüchte aus ihrer eigenen Ernte zur Aussaat im nächsten Jahr zu verwenden und für den Aufbau einer zentralen Kontrollstruktur zum Eintreiben der sogenannten Nachbaugebühren im Dienste der Saatgutindustrie.
Laudator.in:
Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage

Den Big Brother Award 2005 in der Kategorie "Wirtschaft" erhält die Saatgut-Treuhand Verwaltungs GmbH in Bonn vertreten durch ihren Geschäftsführer Dirk Otten.

Bauern erhalten Post von Rechtsanwälten, Felder werden kontrolliert, die Kundendaten bei Genossenschaften ermittelt, über 2.500 Bauern, die die Auskunft verweigern, wurden bereits verklagt. Zusätzlich sind verdeckte Testkäufer der Saatgut-Treuhand unterwegs, kaufen auf Bauernhöfen Kartoffeln und stellen damit Beweismaterial sicher, um Täter zu überführen.

Was geht hier vor? Welcher Straftat werden die Bauern bezichtigt: Gefährliche Giftcocktails gespritzt? Das Grundwasser mit Gülle verunreinigt? Heimlich gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut?

Nein - viel schlimmer - diese Bauern werden verdächtigt, Feldfrüchte aus eigenem Anbau aufzubewahren und für die Aussaat im nächsten Jahr zu verwenden - also ihre eigene Ernte auszusäen.

Wir stutzen: Genau das tun Bauern schon seit Jahrtausenden - die eigene Ernte wieder aussäen. Wo liegt das Problem? Nun, seit den 90er Jahren gibt es eine internationale Vereinbarung (die Neufassung der sogenannten UPOV-Konvention1), die erst ins EU-Recht und schließlich auch ins deutsche Recht eingegangen ist und die besagt: Für Saatgut muss eine Lizenzgebühr an die Saatgutfirma, die die Sorte angemeldet hat, bezahlt werden. Und zwar nicht nur einmal, wenn das Saatgut gekauft wird, sondern (seit der Änderung des deutschen Sortenschutzgesetzes von 1997) jedes Jahr wieder, auch wenn das Saatgut die eigene Ernte ist. Das sind die sogenannten Nachbaugebühren. Und um diese von den Landwirten einzutreiben, wurde die Saatgut-Treuhand aktiv.

Eine beim deutschen Bundessortenamt angemeldete Sorte erhält Sortenschutz - bei Getreide 25 Jahre und bei Kartoffeln 30 Jahre. Damit erhalten die Züchter der Sorte das Recht, innerhalb dieser Zeit Lizenzgebühren beim Verkauf von Saatgut dieser Sorte zu erheben.

Exkurs: Linda - eine Kartoffelsorte wird "illegal"

Welch absurde Blüten das Geschäft mit den Lizenz- und Nachbaugebühren treibt, wird an der Geschichte von "Linda" deutlich. Die Kartoffelsorte Linda war auf bestem Wege, ihren dreißigsten Geburtstag zu erreichen - und damit lizenzfrei zu werden. Die Saatzuchtfirma Böhm / Europlant fand das keinen Grund zum Feiern, sondern zog kurzerhand zum 31. Dezember 2004 die Zulassung von "Linda" von der Bundessortenliste zurück. Das bedeutet, Linda darf nicht mehr als Pflanzkartoffel angebaut und vermehrt werden. Die Logik ist klar: Landwirte sollen gefälligst neue Sorten anbauen, an denen sich Lizenzgebühren verdienen lassen. Doch Lindas Beliebtheit, speziell im Norden Deutschlands, wurde von der Saatgutfirma unterschätzt: Ein Proteststurm von Verbrauchern brach los, rebellische Bauern bauten weiter Linda an, das Bundessortenamt verlängerte die Auslauffrist für Linda bis 2007 und ein engagierter Bauer bemüht sich um die Wiederanmeldung der Sorte.

Und auch allgemein wächst der Widerstand der Bauern, z.B. gegen die Nachbaugebühren. 16.000 Bauern verweigern mittlerweile die Auskunft an die Saatgut-Treuhand. Dabei geht es nicht darum, die Züchter um ein Honorar für ihre Leistung zu prellen. Die "IG Nachbau", gegründet von Bauern in der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL e.V.), hat ein alternatives Konzept für einen Saatgutfonds entwickelt, in den Bauern, Verbände, Züchter und der Staat einen Beitrag einzahlen. Aus diesem Fonds würden die Züchter bezahlt; Mitbestimmung würde helfen, die Vielfalt der Pflanzensorten zu erhalten, vom alleinigen Zuchtziel "Ertragssteigerung" Abstand zu nehmen und die Vielfalt der Pflanzensorten zu erhalten.

Was tut die Saatgut-Treuhand?

Die Saatgut-Treuhand schreibt Briefe und will detailliert wissen, was wo angebaut wird. Mehr als 2.500 Bauern, die keine Auskunft geben, wurden bereits verklagt, und zwar durch alle Instanzen.

Doch die Bauern halten dagegen - mit Erfolg: der Europäische Gerichtshof hat im Frühjahr 2003 entschieden, dass es keine allgemeine Auskunftspflicht der Bauern gegenüber der Saatgut-Treuhand gibt. Im Herbst 2004 wurde auch die allgemeine Auskunftspflicht der Saatgutaufbereiter vom EuGH verneint. Ebenso urteilte der Bundesgerichtshof: Saatgutfirmen müssen Anhaltspunkte haben, dass ein Bauer über Saatgut der von ihr geschützten Sorte verfügt und damit Nachbau betreiben könnte, bevor sie Auskunft verlangen können. Ein Anhaltspunkt kann nach dem EuGH der Erwerb einer geschützten Sorte sein.

Doch die Saatgut-Treuhand fordert nach wie vor Auskunft (auch wenn sie mittlerweile formlose Meldungen akzeptiert), lässt auskunftsunwillige Bauern von Rechtsanwaltskanzleien mit Drohbriefen traktieren, zusätzlich schickt die Saatgut-Treuhand verdeckte Testkäufer auf Höfe, die gegen Quittung ein paar Zentner Kartoffeln kaufen und ganz nebenbei fragen, ob sich die Kartoffeln auch zu Pflanzzwecken eignen - wer da nicht unter Zeugen entschieden verneint, wird von der Saatgut-Treuhand verklagt.

Warum gibt es dafür einen BigBrotherAward?

Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste: Woher die Saatgut Treuhand die Adressen der Bauern hat, bleibt ihr Geheimnis. Nach eigenen Angaben hat sie dafür Telefon-CDs nach Berufsbezeichnungen oder Angaben wie "Hof Soundso" durchsucht. Jedoch erhielten auch Bauern von der Saatgut Treuhand Post, die keine solche Angaben im Telefonbuch haben. In dem Jahrbuch "Kritischer Agrarbericht" wurde die Vermutung geäußert, dass der Deutsche Bauernverband der Saatgut Treuhand sein Mitgliederverzeichnis zur Verfügung gestellt habe. Sicher ist, dass Raiffeisen-Genossenschaften wie die BayWa in Süddeutschland nicht nur ihre Kundenadressen, sondern gleich auch Belege über deren kompletten Einkauf an die Saatgut-Treuhand weitergegeben haben.

Der zweite Grund: Hier wird eine neue zentrale Datensammlung angelegt, mit detaillierten Angaben wo, was, von wem, auf welcher Fläche, wie viel etc. angebaut wird. Die Saatgut Treuhand ist dabei keine neutrale Clearingstelle, sondern sie ist im Auftrag der Saatgutindustrie tätig - sie ist nicht zufällig auch im selben Gebäude wie der BDP (Bundesverband deutscher Pflanzenzüchter) und der ESA (European Seed Association) in Bonn angesiedelt.

Diese Informationen über Flächennutzung gelangen so in die Hände der Saatgutkonzerne, die ein großes kommerzielles Interesse am "gläsernen Landwirt" haben. Wer über die Anbauplanung von Bauern Bescheid weiß, kann durch gezielte Rabatte hier und Preiserhöhungen dort steuern, was hierzulande in Zukunft angebaut - und gegessen - wird. Die Erhebung von Nachbaugebühren ist dabei ein wichtiger Mosaikstein, um an die Daten zu kommen. Wissen ist Macht.

Die Saatgutindustrie konzentriert sich immer mehr, Chemiekonzerne kaufen sich ein - die Global Player Novartis, Bayer und Monsanto möchten gerne Saatgut, Pestizide und Dünger im Kombipack verkaufen. Ihr erklärtes Ziel ist, die gesamte "Nahrungskette" zu kontrollieren, vom Saatgut über Ernte und Verarbeitung zu normierten Nahrungsmitteln bis hin zum Teller der Verbraucher.

Das obrigkeitshörige Deutschland wurde ausgewählt, um die Durchsetzbarkeit von Nachbaugebühren in Europa zu testen - andere Länder schauen gespannt auf die Entwicklung hierzulande. In Entwicklungsländern werden über 90% der Felder mit selbst gezogenem Saatgut bestellt. Hier tut sich ein gigantischer Markt auf, wenn die Industrie schafft, all diese Bauern nach und nach dazu zu bringen, jedes Jahr Saatgut neu einzukaufen.

Doch wem gehört die Natur? Pflanzensorten sind Kulturgut. Sie sind von Bauern durch ständige Selektion und Anpassung an die regionalen Gegebenheiten über die Jahrtausende gezüchtet worden. Nun werden Nutzpflanzen nach geringen Änderungen von Firmen unter Sortenschutz gestellt oder patentiert, die damit ein Monopol auf deren Anbau erwerben.

Diese Entwicklung passt in einen Trend zur Privatisierung einer Vielzahl von Dingen, die vormals Allgemeingut waren. Auf die Privatisierung und Kommerzialisierung von Gütern, die vorher frei waren, wie z.B. Wissen oder Pflanzensorten, folgt stets die Einrichtung von Kontrollinstanzen und Überwachungsmaßnahmen, um Lizenzgebühren einzutreiben. Der Daten- und Vermarktungshunger wächst ständig.

Doch die Saatgut-Treuhand wird möglicherweise in einigen Jahren überflüssig - denn für ihre Arbeit ist eine technologische Lösung in Sicht: Das sogenannte "Terminator-Gen" macht die Samen der Pflanze unfruchtbar und zwingt Landwirte dazu, jedes Jahr neues Saatgut einzukaufen. Das Terminator-Gen ist sozusagen der Kopierschutz der Saatgutindustrie. Doch so dumm werden weder Bauern noch Verbraucher sein, solche Kartoffeln zu wollen - und seien sie noch so dick.

Liebe Saatgut-Treuhand, herzlichen Glückwunsch zum BigBrotherAward!

Laudator.in

Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage
Quellen (nur eintragen sofern nicht via [fn] im Text vorhanden, s.u.)

Weitere Informationen zu Nachbaugebühren:

Weitere Informationen zu "Linda":

Jahr
Kategorie
Lebenswerk (2005)

Otto Schily

Otto Schily, ehemaliger Bundesminister des Inneren, erhält einen BigBrotherAward aktuell für die undemokratische Einführung des biometrischen Reisepasses, dessen Technik unausgereift und unsicher ist und der zu einer erkennungsdienstlichen Behandlung der gesamten Bevölkerung führt. Otto Schily erhält den Preis auch für sein "Lebenswerk", nämlich für den Ausbau des deutschen und europäischen Überwachungssystems auf Kosten der Bürger- und Freiheitsrechte und für seine hartnäckigen Bemühungen um die Aushöhlung des Datenschutzes unter dem Deckmantel von Sicherheit und Terrorbekämpfung.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)

Der Big Brother Award 2005 in der Kategorie "Lifetime" geht an Bundesinnenminister (a.D.) Otto Schily (SPD).

Otto Schily erhielt in diesem Jahr mit Abstand die meisten Nominierungen - wie übrigens schon im Jahr 2001, als er für seine "Otto-Kataloge" den "BigBrotherAward" in der Kategorie "Politik" verliehen bekam. In der Jury bestand große Einigkeit, dass Schily in diesem Jahr, zum mutmaßlichen Ende seiner politischen Karriere, der "Lifetime-Award" für langjährige "Verdienste" gebührt - wohlwissend, dass wir mit unserer Würdigung im Rahmen der Verleihung eines Negativpreises einer so schillernden Persönlichkeit wie Otto Schily und seiner gesamten Lebensleistung bei Weitem nicht gerecht werden können. Leider können wir hier und heute nur eine Auswahl aus der Fülle seiner beeindruckendsten Projekte und Initiativen würdigen.

Otto Schily erhält den BigBrother-Lifetime-Award 2005

  • für die übereilte Einführung des biometrischen ePasses mit unausgereifter Technologie und ohne parlamentarische Legitimation,
  • für seine "Verdienste" um den Ausbau des deutschen und europäischen Überwachungssystems auf Kosten der Bürger- und Freiheitsrechte,
  • für seine hartnäckigen Bemühungen um die Aushöhlung des Datenschutzes und der Informationellen Selbstbestimmung unter dem Deckmantel von Sicherheit und Terrorbekämpfung - Stichwort: "Antiterror"-Gesetze, auch "Otto-Kataloge" genannt,
  • für seine maßgebliche Mitwirkung am Großen Lauschangriff sowie
  • für seine Angriffe auf die Unabhängigkeit des Bundesdatenschutzbeauftragten.

Zu den großen Obsessionen unseres Preisträgers gehört die digitale Erfassung von biometrischen Merkmalen in Ausweispapieren. Schon ab 1. November 2005, also in wenigen Tagen, wird in der Bundesrepublik als erstem EU-Land der Reisepass mit solchen Merkmalen ausgerüstet. Auf einem kontaktlos per Funk auslesbaren RFID-Mikrochip wird neben den Personalien zunächst ein digitalisiertes Gesichtsbild gespeichert, ab März 2007 kommen zwei digitale Fingerabdrücke hinzu. Die Speicherung weiterer Merkmale, etwa Irisscan oder genetischer Fingerabdruck, ist möglich. Der nächste Schritt wird die Einführung des biometrischen Personalausweises sein.

Unter souveräner Missachtung von Parlamenten und Datenschützern und ohne gesellschaftliche Debatte boxte Schily sein Lieblingsprojekt auf EU-Ebene durch - am Bundestag vorbei, ohne demokratische Legitimation. Statt das Parlament über die Folgen für Datenschutz und Bürgerrechte entscheiden zu lassen, forcierte er eine EU-Verordnung, die unmittelbare Gesetzeswirkung in allen EU-Ländern hat. So brachte es Schily fertig, das Pass-Gesetz (§ 4) zu umgehen, das zur Festlegung der biometrischen Daten ein neues, vom Bundestag zu beschließendes Gesetz fordert.

Nicht nur wir halten Schilys selbstherrlichen Akt für zutiefst undemokratisch. Als der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar (Grüne) diese übereilte Einführung des ePasses durch die europäische Hintertür kritisierte und ein umfassendes sicherheitstechnisches Konzept zum Schutz der Daten forderte, bezichtigte ihn Otto Schily des Amtsmissbrauchs. Es liege nicht in Schaars Kompetenz, über Sinn und Zeitpunkt der Einführung biometrischer Merkmale zu befinden, wies ihn Schily via Deutschlandfunk zurecht und empfahl ihm gebieterisch "mehr Zurückhaltung", auf dass er mit seinen Einwänden sein Amt nicht mehr missbrauche.

Mit diesem selbstgerechten Angriff auf die Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten wollte der beratungsresistente Schily offenbar einen fachkundigen Kritiker in seinem eigenen Verantwortungsbereich zum Schweigen bringen. Doch es gehört zu den Pflichten eines Datenschutzbeauftragten, die betroffene Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen, dass bis heute keine transparente Risikoanalyse existiert, um Missbrauch und Systemanfälligkeiten der Biometrie in Ausweisen überhaupt einschätzen zu können. Nach einer Studie des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) ist die neue Technologie weder praxistauglich noch ausgereift. So ist die Gesichtserkennung stark fehlerbehaftet, allein schon, weil sich Gesichter im Laufe der Jahre erheblich verändern. Es steht zu befürchten, dass täglich Tausende Menschen an Flughäfen zurückgewiesen und in ihrer Reisefreiheit beschränkt werden, weil ihre digitalen Fotos oder Fingerabdrücke von der Software nicht akzeptiert werden oder einem Vergleich mit dem leibhaftigen Original nicht Stand halten. Solche Personen kommen in Rechtfertigungszwang, schlimmstenfalls geraten sie in einen bösen Verdacht. Schily nimmt das wissentlich in Kauf.

Elektronische Ausweise sind zudem missbrauchsanfällig: Die biometrischen Daten können an allen Kontrollstellen im In- und Ausland ausgelesen und in Datenbanken gespeichert werden - ohne dass die Betroffenen wissen, wer auf die sensiblen Daten Zugriff hat und was anschließend mit ihnen passiert. Selbst das kontaktlose und daher unbemerkte Auslesen der RFID-Chips per Funk ist nicht wirklich auszuschließen, so dass nicht nur Grenzkontrollstellen, sondern auch unbefugte Dritte Bewegungsprofile von arglosen Passinhabern anfertigen könnten.

Zwar konnten die Grünen im Bundestag Schilys ursprünglichen Plan, alle biometrischen Daten in einer Zentraldatei zu speichern, bislang noch verhindern. Doch auch dezentrale Speicherungen würden Risiken bergen: Mit geringem Mehraufwand könnten biometrische Passdaten aus dezentralen Dateien automatisch mit Fahndungsdateien und Fingerabdrücken von Straftätern und Verdächtigen abgeglichen werden, aber auch mit Fingerabdrücken, die an Tatorten gefunden werden. Und die digitalisierten Gesichtsbilder könnten etwa mit Video-Aufnahmen aus dem öffentlichen Raum abgeglichen werden, um eine verdächtige oder gesuchte Person herauszufiltern. Ein großer Schritt zum Generalverdacht gegen alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes - oder gleich ganz Europas, denn auf EU-Ebene gibt es bereits Pläne für eine biometrische Zentraldatei.

Im Zusammenhang mit elektronischen Ausweispapieren wird eine milliardenteure Überwachungsinfrastruktur mit hohem Missbrauchspotential aufgebaut. Für die Bürger steigen die Kosten eines Reisepasses um mehr als das Doppelte von 26 auf 59 Euro - wie hoch die staatlichen Subventionen pro ePass liegen, wagen wir nicht zu schätzen. Doch der riesige Kostenaufwand steht in keinem vernünftigen Verhältnis zum angeblichen Sicherheitsgewinn. Denn auch der ePass mit seinen biometrischen Merkmalen kann manipuliert werden. Im übrigen gelten die bisherigen bundesdeutschen Ausweispapiere schon jetzt als die fälschungssichersten der Welt. Gleichwohl verkaufte Otto Schily sein biometrisches Projekt als großen Fortschritt für die Sicherheit und als wichtigen Baustein im Kampf gegen organisierte Kriminalität und internationalen Terrorismus. Mit dieser Behauptung nährt Schily allenfalls eine riskante Sicherheitsillusion, denn der ePass führt keineswegs automatisch zu mehr Sicherheit. Weder die Selbstmord-Anschläge in New York, noch diejenigen von Madrid oder London hätten mit der neuen Technologie verhindert werden können. Schließlich gibt es kein biometrisches Merkmal, das signalisiert: "Dieser Pass gehört einem potentiellen Terroristen - bitte vor jedem Anschlagsversuch kontrollieren."

Otto Schily nötigte uns den ePass nicht nur als vermeintliches Sicherheitsinstrument auf, sondern auch als Innovationsprojekt zur Sicherung nationaler Standortvorteile: Die rasche Einführung der biometrischen Verfahren vor allen anderen EU-Staaten liege im ureigenen deutschen Interesse. Damit "bringen wir den Beweis", so Schily in einer Rede am 2. Juni 2005, "wie rasch sich deutsche Firmen auf die neue Sicherheitstechnik und auf den zukunftsorientierten Wachstumsmarkt der Biometrie eingestellt haben". Deutschland nehme so in Sachen Sicherheit eine Führungsrolle in der EU ein. Wir sehen darin allerdings eine verdeckte Wirtschaftsförderung, etwa zugunsten der Bundesdruckerei GmbH und der Chiphersteller Philips und Infineon, aber auch vorauseilenden Gehorsam gegenüber den USA, die in Sachen Biometrie auf die europäischen Regierungen massiven Druck ausgeübt hatten.

Die biometrisch-digitale Erfassung der gesamten Bevölkerung ist nicht nur ein unverhältnismäßiger Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung, sondern auch eine Misstrauenserklärung an die Bevölkerung. Sie muss sich behandeln lassen, wie bislang nur Tatverdächtige oder Kriminelle im Zuge einer Erkennungsdienstlichen Behandlung. Mit Schilys biometrischer Obsession werden Menschen im Namen vermeintlicher Sicherheit zu bloßen Objekten staatlicher Macht degradiert - ohne dass dies auch nur durch "Gefahrennähe" des Einzelnen gerechtfertigt wäre. Otto Schily kontert mit dem zynischen Argument, dass "die Würde des Fingers" auch nicht größer sei als die des Gesichts (lt. SZ 24.8.04). Im übrigen beruft er sich gerne auf spanische Ausweise, die bereits nicht-digitalisierte Fingerabdrücke enthalten. Allerdings verschweigt er, dass es sich dabei um ein Relikt aus faschistischen Franco-Zeiten handelt. Und er verschweigt, dass damit weder Anschläge der baskischen ETA noch die Anschläge von Madrid verhindert werden konnten.

Demnächst wird hierzulande selbst den hartnäckigsten Sicherheitsfanatikern das Lachen vergehen, denn ein solches wird auf den neuen Digitalfotos verboten sein - offene Münder oder blitzende Zähne könnten nämlich die Hightech-Lesegeräte irritieren. Lediglich ein leichtes Grinsen mit geschlossenen Lippen und bei ansonsten neutralem Gesichtsausdruck wird noch statthaft sein. Beim elektronischen Gesichtsabgleich werden wohl Vollbärte, dicke Brillen, aufgespritzte Lippen oder Nasenoperationen genauso zum Sicherheitsproblem, wie das unvermeidliche Älterwerden und deutlicher werdende Falten im Gesicht. -- Mit dem "BigBrother-Lifetime-Award" würdigen wir die Wandlung des anthroposophisch geprägten Preisträgers Otto Schily vom linksliberalen Anwalt über den realo-grünen Oppositionspolitiker zum staatsautoritären SPD-Polizeiminister - eine Metamorphose, die viele Menschen nur schwer nachvollziehen können. Vor vielen, vielen Jahren stand sein Name als herausragender Strafverteidiger der außerparlamentarischen Linken und besonders im Stammheimer RAF-Prozess für den Kampf gegen Deformationen des Rechtsstaates, die dieser damals im Zuge der Terrorismusbekämpfung erleiden musste. Es war jene Zeit, in der Schily noch die mahnenden Worte einer Erklärung der "Humanistischen Union" unterschrieben hatte: "Man bekämpft die Feinde des demokratischen Rechtsstaats nicht mit dessen Abbau, und man verteidigt die Freiheit nicht mit deren Einschränkung" (1978).

So ändern sich die Zeiten - dennoch will Schily von biografischen Brüchen nichts wissen: Vom "Terroristenprozess" in Stammheim bis zu seinen "Antiterror"-Gesetzen - kontinuierlich wähnte er sich im Einsatz für den Rechtsstaat, wenn auch in unterschiedlichen Rollen. Doch Schily hat nicht nur die Rollen, sondern die Seiten gewechselt - und zwar kompromisslos: Aus dem eloquenten Strafverteidiger, der im Interesse seiner Mandanten rechtsstaatliche Prinzipien gegen staatsautoritäre Übergriffe verteidigte, wurde spätestens in seiner Funktion als Bundesinnenminister ein autoritärer Staats-Anwalt, der die Macht des Staates zu Lasten der individuellen Freiheitsrechte ausgebaut hat. Schily machte den Staat zu seinem Mandanten, für dessen Autorität und Stärke er sich auf geradezu fundamentalistische Weise eingesetzt hat. Schon länger hält er die Angst vor dem Leviathan, also vor einer entfesselten Staatsmacht, für ein Problem von vorgestern. Der Einzelne müsse heute nicht mehr vor dem Staat geschützt werden, nur noch vor Kriminalität und Terror. Jedes Misstrauen gegen staatliche Maßnahmen ist im Schily-Staat demnach unangebracht, ja verwerflich, zumindest verdächtig.

Schon als Oppositionspolitiker hatte der von den Grünen zur SPD konvertierte Schily die spätere rot-grüne Koalition mit schweren Hypotheken belastet - so mit dem Großen Lauschangriff. Schily, der in Stammheim selbst Opfer von Lauschangriffen geworden war, hatte an der dafür nötigen Verfassungsänderung, die ohne die SPD nicht zustande gekommen wäre, maßgeblich mitgewirkt - und damit an der Aushöhlung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Jahre später hat das Bundesverfassungsgericht dieses Machwerk für weitgehend verfassungswidrig erklärt. Verfassungswidrige Betätigung - strenggenommen ein Fall für den "Verfassungsschutz", im Fall Schily offenbar eine höchst paradoxe Empfehlung für den Posten des Innenministers, der schließlich auch als Verfassungs(schutz)minister fungiert.

Als Geburtshelfer des Großen Lauschangriffs hatte Schily ursprünglich sogar für eine noch weit schärfere Fassung gefochten: Wäre es nach ihm gegangen, wären elektronische Wanzen auch gegen Berufsgeheimnisträger wie Journalisten oder Ärzte einsetzbar gewesen. Seit jener Zeit sind zumindest erhebliche Zweifel an seiner Verfassungstreue angebracht, zumal er zuvor schon die faktische Abschaffung des Asylgrundrechts betrieben hatte. Man muss sich seitdem fragen: Ist Schily bereit, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten, wie es von jedem Beamten gefordert wird, oder neigt er dazu, diese vermehrt zugunsten der Staatsräson und zu Lasten der Bürgerrechte einzuschränken?

Unser Preisträger hat mit seiner Law-and-order-Politik einen gehörigen Beitrag dazu geleistet, dass bürgerrechtliche Grundwerte in der herrschenden Sicherheitspolitik mehr und mehr verdrängt worden sind - ganz besonders nach den Terroranschlägen vom 11.9.2001 in den USA. Damals verkündete Schily als Bundesinnenminister, die rot-grüne Koalition werde "alle polizeilichen und militärischen Mittel aufbieten, über die die freiheitlich-demokratische Staatsordnung, die wehrhafte Demokratie verfügt". Mit dieser martialischen Androhung trat Schily einen fatalen Gesetzesaktionismus los, bediente den krankhaften Sicherheits-Wahn so mancher Bürger, und nutzte ihn zur Legitimierung langgehegter Nachrüstungspläne, ließ sie aus den Schubladen der Macht kramen, zu voluminösen "Otto-Katalogen" schnüren und mit Antiterror-Eti­ketten bekleben. Anstatt der Bevölkerung die Wahrheit über Unsicherheitsfaktoren in einer Risikogesellschaft zuzumuten und deutlich zu machen, dass absolute Sicherheit leider nicht und nirgendwo zu erreichen ist, machen Schily und andere Regierungspolitiker mit symbolischer Politik bis heute unhaltbare Sicherheitsversprechen.

Mit den sog. Antiterror-Gesetzen, für die Otto Schily wie kein anderer steht, haben Polizei und Geheimdienste erweiterte Aufgaben und Befugnisse erhalten. Damit wurde die ohnehin hohe Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft noch weiter erhöht. Vermehrt können Beschäftigte in sog. lebens- oder verteidigungswichtigen Einrichtungen geheimdienstlichen Sicherheitsüberprüfungen unterzogen werden - mitunter auch ihre Lebenspartner und ihr soziales Umfeld. Betroffen sind Einrichtungen und sicherheitsempfindliche Stellen, so heißt es im Gesetz wörtlich, "die für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind und deren Beeinträchtigung erhebliche Unruhe in großen Teilen der Bevölkerung entstehen lassen würde". Gemeint sind Einrichtungen, die der Versorgung der Bevölkerung dienen, wie Energie-Unter­nehmen, Krankenhäuser, Chemie-Anlagen, Bahn, Post, Banken, Telekommunikationsbetriebe, aber auch Rundfunk- und Fernsehanstalten können betroffen sein.

Migrantinnen und Migranten, unter ihnen besonders Muslime, werden praktisch per Gesetz unter Generalverdacht gestellt, zu gesteigerten Sicherheitsrisiken erklärt und einem rigiden Überwachungssystem unterworfen - denken wir nur an die biometrische Erfassung von Fingerabdrücken und Stimmprofilen, an geheimdienstliche Regelanfragen, an erleichterte Auslieferungen und Abschiebungen. Ohne wirklichen Nachweis, dass von ihnen mehr Terror ausgehe als von Deutschen, werden Migranten oft - unter Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes - einer entwürdigenden Sonderbehandlung unterzogen, die für viele existentielle Folgen haben kann.

Die "Antiterror"-Gesetze bewirken eine verhängnisvolle Lockerung des Datenschutzes, ganz im Sinne Otto Schilys, der den Datenschutz ohnehin für "übertrieben" hielt - gerade so, als könnten selbstmörderische Terroranschläge mit weniger Datenschutz und mehr Eingriffen in die Privatsphäre der Bürger verhindert werden. Doch die meisten Gesetzesverschärfungen taugen nur wenig zur Bekämpfung eines religiös-aufgeladenen, selbstmörderischen Terrors; sie schaffen kaum mehr Sicherheit, gefährden aber die Freiheitsrechte um so mehr. Etliche der Antiterror-Maßnahmen sind unverhältnismäßig, ja maßlos - sie zeigen Merkmale eines nicht erklärten Ausnahmezustands und eines autoritären Präventionsstaates, in dem letztlich Rechtssicherheit und Vertrauen verloren gehen. Die Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, verliert in dieser Sicherheitskonzeption ihre machtbegrenzende Funktion. Der Mensch wird zum potentiellen Sicherheitsrisiko, der seine Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen muss - während Otto Schily die vermeintliche Sicherheit zum Supergrundrecht erklärt, das die wirklichen Grundrechte der Bürger - als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates - in den Schatten stellt.

In seinem missionarischen Eifer als Staatsschützer schreckte der Preisträger selbst vor extremistischen Forderungen aus dem Arsenal von Diktaturen nicht zurück: So würde er allzu gerne "gefährliche" Personen ohne konkreten Verdacht in präventive Sicherungshaft nehmen lassen. Otto Schilys zuweilen obrigkeitsstaatliche Interpretation des Rechtsstaats zeigt sich auch in seinen folgenden Staatschutzprojekten: Er hat mit einem gemeinsamen Antiterror-Lagezentrum und mit dem Plan einer zentralen "Islamistendatei" Grundsteine für einen Datenverbund aller Geheimdienste und des Bundeskriminalamts gelegt. Eine noch engere Vernetzung würde die Aufhebung des verfassungsmäßigen Gebots der Trennung von Polizei und Geheimdiensten bedeuten - immerhin eine Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo im Nationalsozialismus. Damit nimmt Schily eine Machtkonzentration in Kauf, die kaum noch wirksam kontrollierbar sein wird.

Schily hat sich mit Vehemenz dafür eingesetzt, dass alle Telekommunikationskontakte - ob per Telefon, SMS, Email oder Internet - zur Terror- und Kriminalitätsbekämpfung deutschland- und europaweit für mindestens zwölf Monate auf Vorrat gespeichert werden. Also: Wer hat mit wem, wann, wie oft und wie lange von wo nach wo fernmündlich oder schriftlich kommuniziert, welche SMS- oder Internet-Verbin­dungen genutzt, welche Suchmaschinen mit welchen Begriffen benutzt, welche web­sites besucht und mit welchen Email-Empfängern kommuniziert? Mit dieser beispiellosen Vorratsdatensammlung ließe sich das Kommunikations- und Konsumverhalten einzelner Telekommunikationsnutzer heimlich ablesen - Verhaltens- und Kontaktprofile inklusive.

Auch die Pressefreiheit ist vor Otto Schily keineswegs sicher: So rechtfertigt er un­differenziert und hartnäckig die höchst umstrittene Durchsuchung der Redaktionsräume des Monatsmagazins "Cicero" und der Privatwohnung eines Journalisten durch das Bundeskriminalamt (BKA), zu der Schily die Ermächtigung erteilt hatte. Der Journalist hatte zulässigerweise aus einem geheimen BKA-Papier zitiert. Weil die undichte Stelle im BKA, also der Lieferant des Geheimdossiers, nicht zu finden war, wurde gegen den Journalisten wegen "Beihilfe zum Geheimnisverrat" ermittelt - stundenlange Razzien und kistenweise Beschlagnahme von Recherchematerial inklusive. Das gesuchte Dokument wurde nicht gefunden, dafür "Zufallsfunde" zuhauf, die mit dem Durchsuchungsanlass nicht das Geringste zu tun haben, aber zu weiteren Ermittlungsverfahren führten. Mit dieser Verdächtigung, als Journalist am Verrat von Dienstgeheimnissen selbst beteiligt gewesen zu sein, lassen sich Informantenschutz und Zeugnisverweigerungsrecht praktisch aushebeln - und damit das hohe Gut der Pressefreiheit. Solche Praktiken können letztlich dazu führen, kritische Journalisten einzuschüchtern und von investigativen Recherchen abzuhalten.

So sehen die fatalen Folgen aus, wenn man, wie der Preisträger, die Sicherheit zum Grundrecht kürt, wenn man die Staatsräson zum Verfassungsgrundsatz erhebt, die alles andere dominiert: Dann herrscht partielle Willkür, dann werden Bürgerrechte zur Makulatur. Angesichts überzogener Antiterrormaßnahmen und einer eskalierenden Sicherheitsdebatte warnte der frühere Datenschutzbeauftragte und Vorsitzende des Nationalen Ethikrates, Spiros Simitis, eindringlich: "Jetzt ist der Punkt erreicht, wo wir am Grundbestand unserer verfassungsrechtlichen Vorgaben angelangt sind - der Übergang in eine totalitäre Gesellschaft ist fließend". Und der Soziologe Ulrich Beck sieht mit der "Risikogesellschaft", in der wir leben, ohnehin eine "Tendenz zu einem ,legitimen' Totalitarismus der Gefahrenabwehr" verbunden: Ausgestattet mit "dem Recht, das Schlimmste zu verhindern", schaffe sie in "nur allzu bekannter Manier das andere Noch-Schlimmere". Anstatt dieser fatalen Tendenz wirksam entgegenzutreten, betätigte sich Otto Schily als ihr missionarischer Vollstrecker. Selbst sein Ministerkollege Wolfgang Clement fand deutliche Worte für Otto Schilys freiheitsbegrenzendes Wirken, als er seine Zeit nach dem Ausstieg aus der Bundesregierung so skizzierte: "Ich bin ein freier Mensch und werde jetzt von meinen Freiheitsrechten Gebrauch machen - und zwar ausgiebig -, natürlich nur in dem Rahmen, den Otto Schily mir noch zur Verfügung stellt..." (WDR 10.10.2005).

Laudator.in

Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)
Jahr
Kategorie
Regional (2001)

Hans-Ehrenberg-Gymnasium

Hier wurde das Hans-Ehrenberg-Gymnasium, Bielefeld, für das Projekt „School-Card mit Fingerabdruck“ ausgezeichnet.
Laudator.in:
Jens Ohlig am Redner.innenpult zu den BigBrotherAwrds 2001.
Jens Ohlig, Chaos Computer Club (CCC)

Der BigBrotherAward der Kategorie „Regional“ geht an das Evangelische Privatgymnasium für Knaben und Mädchen Hans-Ehrenberg-Schule in Bielefeld-Sennestadt für sein Projekt „school-card“.

Der Preisträger im regionalen Bereich liegt mir besonders am Herzen, und das aus zweierlei Gründen. Der trivialere der beiden Gründe ist, dass ich an dieser Schule einen Großteil meiner Gymnasiumslaufbahn absolviert habe, bis hin zum Abitur. Der zweite Grund liegt tiefer: Hier wird ein Projekt zum Unterrichtsgegenstand gemacht, das nicht nur fahrlässig mit der Privatsphäre umgeht, sondern auch fragwürdige Inhalte in den Unterricht einbringt. Die Einstimmung auf eine Welt mit eingeschränkter Privatsphäre wird zum Lehrstoff.

Als ich Ende der Achtzigerjahre die Hans-Ehrenberg-Schule besuchte, gab es dort Automaten für Heißgetränke. Irgendwann stellte sich heraus, dass die Automaten auch die polnische Währung Zloty akzeptierten, die zu einem sehr günstigen Wechselkurs zu haben war: Der Kurs war 1 zu 1, also etwa einen Eimer Zloty für eine Mark. Ich habe an dieser Schule damals viel gelernt. Dass es eine Illusion ist, an die Unfehlbarkeit von Technik zu glauben, war einer der Punkte, der hier in Freistunden und Pausen klar wurde.

Gründe

Seit einiger Zeit gibt es zumindest für die Schüler einer Jahrgangsstufe nicht mehr die Möglichkeit zu solchen Experimenten. Mit der im Informatik-Unterricht von Herrn Josef Jürgens zusammen mit Schülern entwickelten school-card soll die Anonymität des Geldes abgeschafft werden.

Wenn es nur darum ginge, dem Hausmeister das Herausfischen der Zloty-Münzen zu ersparen, wäre dies sicherlich ein ehrbares Projekt. Aber bei der von der Jahrgangstufe erprobten school-card handelt es sich um viel mehr. Hier wird zu jeder Transaktion eindeutig ein Käufer zugeordnet, das Bargeld, das anonymes Bezahlen möglich macht, verschwindet. Lernziel wird die Gewöhnung an den überwachten Konsum.

Erreicht wird die eindeutige Zuordnung durch einen Fingerabdruck. Die biometrische Authentifizierung ist nicht nur von der Fälschungssicherheit wieder im Gespräch, sie ist auch schwer im Mode, seitdem Innenminister Schily sie in den Personalausweis integrieren will und damit alle Bürger Deutschlands unter Generalverdacht stellen möchte. Bei einer school-card, die zum Einkauf in der Cafeteria genutzt werden soll, würde sich eine komplette Fälschung finanziell sicher nicht lohnen. Fataler ist hier die Gewöhnung an die Biometrie, die als selbstverständliche und „absolut sichere“ Authentifizierung eingeführt wird. Wenn der Satz stimmt, dass wir nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen, so wird hier auf ein Leben vorbereitet, das Sicherheit und Authentifizierung vor die Unbestimmtheit und das kleine Geheimnis stellt. Gerade die Unbestimmtheit, die Privatsphäre, machen bei einem Menschen aber das aus, was wir mit dem Wort „Freiheit“ zusammenfassen.

Sicher, die school-card ist gut gemeint. Sie ist eine Initiative im Sinne der Schüler, die etwas lernen. Begründet wird das Projekt mit der hohen Verschuldung bei Jugendlichen. Durch die school-card, bargeldlos und „absolut sicher“ sollen Schüler an die Bezahlung mit Kreditkarten gewöhnt werden. Eine Logik, die sich zumindest nicht sofort erschließt, denn gerade die Möglichkeit, mit Kreditkarten bargeldlos einzukaufen, dürfte nicht nur bei Schülern ein Grund für Überschuldung sein. Und warum soll der Umgang mit der Kreditkarte erlernt werden? In Deutschland hat sich dieses Zahlungsmittel nie ganz so durchsetzen können wie in den USA. Möglicherweise liegt dies an der anderen Kultur in Deutschland, an einer durch ein relativ ausgereiftes Datenschutzgesetz und die Debatte um die Volkszählung sensibilisierte Bevölkerung. Ist hier eine Umerziehung wirklich notwendig und für wen wäre sie wünschenswert?

Die school-card der Hans-Ehrenberg-Schule ist im Moment noch ein Experiment, das regional auf eine Schule in Bielefeld begrenzt ist und deshalb auch regional ausgezeichnet wird. Sie zeigt aber viele Aspekte auf, die auch überregional interessieren: Bargeld soll verschwinden, biometrische Authentifizierung soll normal werden. Bei der school-card handelt es sich um ein Beispiel aus der Region, das eben nicht Schule machen sollte.

Laudator.in

Jens Ohlig am Redner.innenpult zu den BigBrotherAwrds 2001.
Jens Ohlig, Chaos Computer Club (CCC)
Jahr
Kategorie

Über die BigBrotherAwards

Spannend, unterhaltsam und gut verständlich wird dieser Datenschutz-Negativpreis an Firmen, Organisationen und Politiker.innen verliehen. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und wurden deshalb von Le Monde „Oscars für Datenkraken“ genannt.

Ausgerichtet von (unter anderem):

BigBrother Awards International (Logo)

BigBrotherAwards International

Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden fragwürdige Praktiken mit diesen Preisen ausgezeichnet.