Politik (2003)

Bundesländer

Der BigBrotherAward im Bereich Politik wird verliehen an die Regierungen und Innenminister der Bundesländer Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen, weil sie im Windschatten der Terrorismusbekämpfung die Verschärfung ihrer Landespolizeigesetze betreiben.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)
Obere Bildhälfte: Mehrere Polizeiautos. Untere Bildhälfte: Einschlag eines Flugzeuges in das World Trade Center.

Der BigBrotherAward im Bereich Politik wird verliehen an die Regierungen/Innenminister der Bundesländer Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen, weil sie im Windschatten der Terrorismusbekämpfung die Verschärfung ihrer Landespolizeigesetze betreiben und damit drastische Einschnitte in elementare Grund- und Freiheitsrechte einer Vielzahl unverdächtiger Personen einkalkulieren. Bedroht sind insbesondere das Brief- und Fernmeldegeheimnis, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und damit das Recht auf freie Kommunikation ohne Angst vor Repressalien.

1.
In allen genannten Bundesländern soll die präventive Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) durch die Polizei legalisiert werden - also das vorsorgliche Abhören von Telefonen und Handys sowie das vorsorgliche Mitlesen von Faxen, SMS und Emails, ohne dass eine Straftat oder ein Anfangsverdacht vorliegen muss. Zur Begründung heißt es: Beim Abhören könnte sich ja der Verdacht auf eine Straftat ergeben, die dann verhindert werden könnte, so die Logik der Gesetzesmacher. Dabei sollen schon vage Anhaltspunkte ausreichen, um potentielle Störer "zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder bedeutende Sach- und Vermögenswerte" belauschen zu können; oder aber um Personen zu überwachen, "bei denen tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass sie zukünftig schwerwiegende Straftaten begehen" (Formulierungen der Entwürfe variieren).

Mit einer solchen Befugnis, wie sie bislang nur in Thüringen legalisiert ist, kann die Polizei die Telekommunikation von "vorverdächtigten" Personen im weiten Vorfeld eines Anfangsverdachts vorsorglich überwachen - selbst wenn rein zufällige und unverdächtige Kommunikationspartner wie Verwandte, Nachbarn, Arbeitskollegen und sonstige Bekannten von den Lauschaktionen betroffen werden. Zum Teil soll sogar die Kommunikation mit unverdächtigen Kontakt- und Vertrauenspersonen wie Rechtsanwälten, Abgeordneten, Ärzten, Journalisten, Psychotherapeuten oder Seelsorgern überwacht werden können - und zwar ungeachtet der besonderen Schweigepflichten, denen solche Personen unterliegen. Auf diese Weise wird das gesetzlich verankerte Zeugnisverweigerungsrecht von Berufsgeheimnisträgern ausgehebelt, ebenso wie wesentliche Elemente der Pressefreiheit: nämlich der Schutz von Informanten und das Redaktionsgeheimnis. Unabhängige Recherchen wären so nicht mehr zu gewährleisten.

Dass die Maßnahme von einem Amtsrichter angeordnet werden muss, ist kein ausreichender Schutz, wie die ausufernde Praxis der Telefonüberwachung zur Strafverfolgung zeigt. Denn es gibt bis heute keine Ermittlungskompetenz des Richters und keine gerichtliche Verlaufs- und Erfolgskontrolle solcher Überwachungsmaßnahmen. Schon gehört die Bundesrepublik allein in diesem Bereich mit jährlich über 15.000 abgehörten Telefonanschlüssen und Millionen von Betroffenen zu den weltweiten Spitzenreitern im Abhören - ein trauriger Rekord, der den ehemaligen Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling dazu brachte, das Brief- und Fernmeldegeheimnis als "Totalverlust" abzuschreiben (Grundrechte-Report 2003, S. 15). Das Recht auf freie Kommunikation ohne Angst vor Überwachung und Repressalien ist nicht mehr garantiert.

2.
Die präventive Überwachung der Telekommunikation schließt neben der Inhaltskontrolle auch die näheren Umstände der Telekommunikation ein (Erfassung und Speicherung von Verbindungsdaten). Wer geschäftsmäßig Telekommunikationsdienstleistungen erbringt oder auch nur daran mitwirkt, wird gesetzlich verpflichtet, der Polizei die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation zu ermöglichen: Zu diesem Zweck müssen sie die notwendigen technischen Voraussetzungen schaffen, um damit Unmengen von Überwachungsdaten auf Verdacht und Vorrat erfassen und speichern zu können. Die Diensteanbieter müssen der Polizei jederzeit Auskünfte über die näheren Umstände und Verbindungen früherer, aktueller und künftiger Telekommunikationsprozesse erteilen: Wer hat mit wem, wann und wie lange von wo nach wo fernmündlich oder schriftlich kommuniziert, welche SMS- oder Internetverbindungen genutzt.

3.
Auch die Standortfeststellung von Telekommunikationsteilnehmern mit Hilfe sog. IMSI-Catcher ist geplant. Einerseits können mit diesen schuhkartongroßen Geräten die individuellen Kennungen und Gerätenummern von Handys ausgeforscht werden. Aufgrund dieser Identifikation kann die Polizei dann Verbindungsdaten der Mobilfunkteilnehmer beim jeweiligen Telekommunikationsunternehmen abfragen. Andererseits können zur genauen Standortbestimmung Handys elektronisch geortet werden, auch wenn diese nur standby geschaltet sind. Dadurch wird der Polizei die Möglichkeit eröffnet, Bewegungsbilder ihrer Besitzer und Nutzer zu erstellen - nicht etwa zur Verfolgung von Straftätern, nein: zur Verfolgung von Personen, denen künftig Straftaten zugetraut werden (also zur Verfolgung von prinzipiell Unverdächtigen).

Die Bürgerrechtsorganisation "Humanistische Union" hat im Juli diesen Jahres vor dem Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde gegen den Einsatz des IMSI-Catchers zum Zwecke der Strafverfolgung erhoben, der Anfang 2003 in der Strafprozessordnung legalisiert worden ist. Der IMSI-Catcher-Einsatz führe zur unterschiedlosen Erfassung gänzlich unverdächtiger Personen und verstoße deshalb gegen das Fernmeldegeheimnis des Art. 10 Grundgesetz, das auf diese Weise undifferenzierten Ermittlungsmethoden geopfert werde.

4.
In Rheinland-Pfalz ist der Einsatz von elektronischen Wanzen und Video-Kameras zum präventiven Großen Lausch- und Spähangriff in und aus Wohnungen geplant, wie er bereits in Thüringen (und Baden-Württemberg) legalisiert worden ist. Zur Installation der Lausch- und Spähwanzen soll die Polizei die auszuforschende Wohnung unerkannt betreten können. Damit kann das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung bereits im Vorfeld, ohne Vorliegen eines Straftatverdachts gegen die Eigentümer, Mieter, Mitbewohner oder Besucher ausgehebelt werden.

Der richterliche Beschluss zur Anordnung dieser Maßnahme ist nach jeweils dreimonatiger Aktion zu erneuern, ohne dass eine zeitliche Obergrenze vorgesehen ist. Bei Gefahr im Verzug soll - trotz der Schwere des Eingriffs - eine Anordnung durch den Behördenleiter ausreichen. Die besonderen Berufsgeheimnisse von zeugnisverweigerungsberechtigten Personen sind keineswegs ausreichend geschützt.

Nachdem inzwischen selbst die eigenen vier Wände objektiv nicht mehr vor Lauschangriffen sicher seien, so der frühere Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling, drohe "ein Zivilisationsverlust, der unsere Demokratie verändern wird" (Grundrechte-Report 2003, S. 20).

5.
In Bayern ist die automatische Erfassung von Auto-Kennzeichen und deren Abgleich mit Polizeidateien (Fahndungs- und sonstigem Datenbestand) geplant. Ergibt sich bei diesem Datenabgleich ein Verdacht, so wird das betreffende Fahrzeug verfolgt. Die bayerische Polizei testet bereits ohne jegliche Rechtsgrundlage entsprechende Systeme. Ob mit diesem Massenscreening nur Autokennzeichen oder auch andere, etwa biometrische Kennzeichen zum Zwecke der Gesichtserkennung erfasst und abgeglichen werden sollen, ist ebenso ungeklärt wie die Frage, was mit den erfassten Daten geschieht, ob sie etwa zur Erstellung von Bewegungsbildern und Reiseprofilen bestimmter Personen genutzt werden können.

Außer an den bayerischen Grenzen soll der automatische Kennzeichenabgleich auch an sogenannten gefährdeten Orten wie Flughäfen, Bahnhöfen und militärischen Einrichtungen erfolgen, darüber hinaus zur Überwachung von Straßen, Autobahnen, Einkaufszentren oder Parkplätzen. Vor Demonstrationen sollen auf diese Weise "bekannte Störer" ausgefiltert werden.

Fazit: Solche präventiven Regelungen sind in ihren Auswirkungen tendenziell uferlos, kaum kontrollierbar und daher unverhältnismäßig. In diesem zur Maßlosigkeit neigenden Präventionskonzept werden immer mehr unverdächtige Menschen polizeipflichtig gemacht und in Ermittlungsmaßnahmen involviert. Die zahlreichen Betroffenen merken in aller Regel nichts von den intensiven Eingriffen.

Wo die Prävention zur vorherrschenden Polizeilogik erhoben wird, da verkehren sich rasch die Beziehungen zwischen Bürger und Staat: Da verliert eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, nämlich die Unschuldsvermutung, unter der Hand ihre machtbegrenzende Funktion. Der Mensch mutiert zum (potentiellen) Sicherheitsrisiko - ein generalisiertes Misstrauensvotum, wie es schon bei der Schleier- und Rasterfahndung sowie bei der ausufernden Video-Überwachung im öffentlichen Raum zum Ausdruck kommt, in die alle Passanten einbezogen werden, ohne zu wissen, was mit den Aufzeichnungen anschließend geschieht.

Die neuen Instrumente machen einem präventiven Überwachungsstaat alle Ehre - einem Sicherheitsstaat, in dem Rechtssicherheit und ertrauen allmählich verloren gehen, Verunsicherung und Verängstigung gedeihen. Angesichts einer solchen Entwicklung gibt die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, zu bedenken:

"Eine demokratische politische Kultur lebt von der Meinungsfreude und dem Engagement der Bürger. Diese dürften allmählich verloren gehen, wenn der Staat seine Bürger biometrisch vermisst, datenmäßig durchrastert und seine Lebensregungen elektronisch verfolgt."

Im CDU-regierten Thüringen ist der Frontalangriff auf elementare Freiheitsrechte bereits im Juni 2002 umgesetzt worden. Insofern erhält die Thüringer Landesregierung den BigBrother Award für eine vollendete Tat. Diesem Pilotprojekt wollen nun Bayern (CSU), Niedersachsen (CDU/FDP) und Rheinland-Pfalz (SPD/FDP) folgen. Deshalb erhalten die dafür Verantwortlichen den Preis präventiv - sozusagen als Maßnahme der Gefahrenabwehr.

Herzlichen Glückwunsch an die Regierungen und Innenminister von Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen.

Laudator.in

Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)
Jahr
Kategorie
Arbeitswelt (2003)

Deutsche Post-Shop

Die Deutsche Post-Shop-GmbH erhält den BigBrotherAward 2003 in der Kategorie Arbeitswelt für ihre Arbeitsverträge mit Post-Agentur-Nehmern in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Hierin sollen sich die Agentur-Nehmer pauschal verpflichten, im Krankheitsfall einen von der Deutschen Post-Shop-GmbH bestimmten Arzt von seiner Schweigepflicht zu entbinden.
Laudator.in:
Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage

Den BigBrotherAward 2003 in der Kategorie "Arbeitswelt" erhält die Deutsche Post AG stellvertretend für ihre Tochterfirma "Deutsche Post-Shop GmbH". Grund sind die neuen Arbeitsverträge, die die Deutsche Post-Shop GmbH bestimmten Postagenturnehmer/innen aufzwingen will. In diesen Arbeitsverträgen sollen die Arbeitnehmer/innen pauschal einwilligen, einen von der Deutschen Post-Shop GmbH bestimmten Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden, wenn sie länger als zwei Wochen krank sind.

Hintergrund: Seit Jahren zieht sich die Deutsche Post aus der Fläche und den Stadtteilen zurück und schließt die klassischen Postämter. Die Versorgung haben bereits vielerorts Postagenturen übernommen - also Lebensmittelläden, Tankstellen, Einzelhändler aller Art, die zusätzlich zu ihrem regulären Angebot auch Postdienstleistungen anbieten. Nun will die Post auf das Vertriebsnetz der Quelle AG zurückgreifen und bietet Quelle-Shop-Betreibern an, zukünftig auch Post-Dienstleistungen in ihre Angebotspalette mit aufzunehmen - in Form von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen - also mit sogenannten 400 Euro-Jobs.

In § 5 Abs. 4 dieser den Quelle-Shop-Betreibern vorgelegten Verträge heißt es: "Im Falle einer Erkrankung von mehr als 2 Wochen wird der Arbeitnehmer sich von einem durch die Arbeitgeberin [die Deutsche Post Shop GmbH] zu bestimmenden Arzt untersuchen lassen? Der Arbeitnehmer entbindet den Arzt hiermit von seiner Schweigepflicht, soweit es für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit notwendig ist."

Der Nachsatz "soweit es für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit notwendig ist" wurde erst nach massiven Protesten des Postagenturnehmer-Verbandes Deutschland e.V.1 und des Interessenverbandes Quelle Shops e.V.2 angefügt. Dieser Nachsatz löst aber in keiner Weise das Problem, sondern zeigt, dass die Post-Shop-GmbH sich mit den arbeitsrechtlichen Bestimmungen zu ärztlichen Untersuchungen offensichtlich nicht beschäftigt hat. Es ist nämlich zur Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit keineswegs und nirgendwo nötig, dass ein Arbeitgeber vertrauliche Informationen vom Arzt erhält. Diese Beurteilung obliegt einzig und allein den Ärzten selbst. Die Gründe für diese Beurteilung gehen einen Arbeitgeber nichts an. Der Passus stellt damit einen massiven Eingriff in Patienten- und Arbeitnehmer-Rechte dar.

Bei der Post als ehemaliger Bundesbehörde kann man davon ausgehen, dass sich die Bestimmungen für Arbeitnehmer der Bundespost-Nachfolgeorganisationen am Bundesangestellten-Tarifvertrag (BAT) orientieren. Mehrfach hat die Jury des BigBrotherAwards außerdem inzwischen die Argumentation vorliegen, dass diese Regelung gängige Tarifvertragspraxis sei, insbesondere vermerkt im § 7 BAT zur Ärztlichen Untersuchung. Doch weder im Paragrafen selbst noch im Kommentar haben wir einen Hinweis auf die Entbindung von der Schweigepflicht gefunden. Auch Arbeitsrechtler von ver.di und der Bielefelder Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Hartmut Stracke bestätigten: im BAT steht nichts davon. Dennoch wird auch von der ehemaligen ÖTV-Vorsitzenden Monika Wulf-Matthies, die inzwischen auf der Gehaltsliste der Deutschen Post AG steht, behauptet, dass diese Regelung im BAT zu finden sei. Dabei müsste sie den BAT so gut kennen wie kaum jemand anderes - das ist dreist!

Doch nun zum Hintergrund: Ein Arbeitnehmer hat laut BAT auf Verlangen seine körperliche Eignung durch einen vom Arbeitgeber bestimmten Arzt nachzuweisen.

Dabei ist dieser Arzt aber selbstverständlich an seine Schweigepflicht gebunden, das heißt, er darf nur mitteilen, ob gesundheitliche Bedenken gegen die Tätigkeit seines Patienten bestehen oder nicht. Er darf keine Einzelheiten zum Befund offenbaren. Er hat sogar darauf zu achten, dass er nicht evtl. indirekt z.B. durch ein Eignungsprofil Rückschlüsse auf eine Diagnose ermöglicht. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ("gelbe Zettel") enthalten auf ihrem Formularteil für den Arbeitgeber demnach auch keine Diagnose-Angabe. Ferner darf ein Arbeitgeber verlangen, dass ein Arbeitnehmer vom medizinischen Dienst der Krankenkassen untersucht wird - aber auch hier erhält der Arbeitgeber keine Auskunft über die Diagnose.

Arbeitnehmer sind also gegenüber ihrem Arbeitgeber durch die ärztliche Schweigepflicht ausdrücklich geschützt.

Dies versucht die Deutsche Post Shop GmbH mit einer generellen Unterschrift unter den Arbeitsvertrag auszuhebeln. Sie fordert diese Unterschrift von kleinen Postagenturnehmern, die in großer Anzahl auf der Basis geringfügiger Beschäftigung nur wenige Stunden am Tag eine Postfiliale in ihrem Quelle-Shop betreiben sollen. Die Jury des BigBrotherAwards hält das für unverschämt und unangemessen.

Die Post AG argumentiert in einem Schreiben an die Jury, die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit sei für die Post notwendig, um dem gesetzlichen Infrastrukturauftrag nach zu kommen. Dies mutet zynisch an, angesichts der oben zitierten Firmenpolitik, die die Post in den vergangenen Jahren verfolgt hat. Seit Jahren schließt sie Postämter in der Fläche und in Stadtteilen. Laufend verschlechtert sich der Service für die Bürgerinnen und Bürger. Briefkästen werden nach und nach dezimiert. Die Post AG nennt das "Briefkastenoptimierung" - dieser Euphemismus ist bereits in der engeren Auswahl für das "Unwort des Jahres 2003".

Mit den Quelle Shops will die Post AG ihren Infrastrukturauftrag erfüllen? Das wird kaum klappen, denn: Laut Auskunft der Quelle-Agenturnehmer sind deren Verträge inzwischen flächendeckend gekündigt. Das heißt, die Zukunft der postalischen Versorgung der Bevölkerung ist durch die Abhängigkeit von den Entscheidungen des Quelle-Konzerns gefährdet. Die umfangreichen Post-Dienstleistungen von geringfügig Beschäftigten nur wenige Stunden am Tag anbieten zu lassen, ist nicht gerade ein Beweis dafür, dass die Post ihren Infrastrukturauftrag sonderlich ernst nimmt.

Die Unternehmensberatung McKinsey hat Effizienz3 zum höchsten Prinzip erhoben - also mit möglichst wenig Einsatz möglichst viel Gewinn machen. Das heißt, alles regelt sich über den Preis. Lebensqualität, ein Grundversorgungsanspruch, Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte und eben auch Datenschutz aber sind lästig und kosten Geld. Sind somit nicht effizient.

5 der 8 Vorstandsmitglieder der Deutschen Post AG sind ehemalige McKinsey-Leute.

Herzlichen Glückwunsch zum BigBrotherAward, Deutsche Post AG.

Laudator.in

Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage
Quellen (nur eintragen sofern nicht via [fn] im Text vorhanden, s.u.)

1 Postagenturnehmerverband Deutschland e.V. [Inhalt nicht mehr verfügbar]

2 Interessenverband der Quelle-Shops e.V. [Inhalt nicht mehr verfügbar]

3 Lesetipp: Dirk Kurbjuweit: Unser effizientes Leben. Die Diktatur der Ökonomie und ihre Folgen. Rowohlt, 2003.

Jahr
Kategorie
Tadel & Lob (2004)

Tadelnde Erwähnungen

Für einen Award hat es hier leider nicht gereicht – unerwähnt darf es trotzdem nicht bleiben!

Telekom

Sage mir Deine Telefon- oder Handynummer und ich sage Dir, wer Du bist und wo Du wohnst mit der so genannten Inverssuche (oder auch Reverssuche) können per Auskunft weitere persönliche Daten eines Menschen wie Name, Adresse und Berufsbezeichnung abgefragt werden. Während verschiedene Telefongesellschaften ihren Kundenstamm standardmäßig für eine solche Abfrage gesperrt haben, müssen Kundinnen und Kunden der Deutschen Telekom sich bei einer kostenpflichtigen Hotline (12 Cent die Minute) abmelden. Der Hinweis darauf war zudem in eher unauffälliger Weise der Telefonrechnung beigefügt. Dahinter mag Kalkül stecken: Vielleicht verfügt die Telekom auf diese Weise über umfangreicheres Datenmaterial, da viele die Möglichkeit zum Widerspruch übersehen haben dürften. Es lebe der gläserne Mensch!

Stadt Karlsruhe

Für einen BigBrotherAward reicht es zwar nicht, aber es ist zu tadeln, wenn gesetzlich verbriefte Rechtsansprüche zur Wahrung des Datenschutzes mit Gebühren belegt werden.

So hat jeder Bürger und jede Bürgerin das Recht, bei einer An- oder Ummeldung im Einwohnermeldeamt der Übermittlung seiner Daten an Parteien zum Zweck der Wahlwerbung, der Veröffentlichung von Alters- und Ehejubiläen sowie der Weitergabe zur Erstellung von Adressbüchern zu widersprechen. In Baden-Württemberg ist dies im § 34 des Meldegesetzes geregelt.

Wohlgemerkt, die Betroffenen haben das Recht, diesen Übermittlungen zu widersprechen! Es ist nicht die Rede davon, dass diese Nichtübermittlung beantragt werden muss. Es reicht, dieser Übermittlung zu widersprechen!

Die Stadt Karlsruhe sieht das etwas anders. Für sie ist ein solcher Widerspruch ein Antrag, der auch mal abgelehnt werden kann. Dies alleine ist an sich schon einen Tadel wert. Aber damit nicht genug: Der ablehnende Bescheid wurde auch noch mit einer Verwaltungsgebühr von 70 Euro belegt!

Das zuständige Regierungspräsidium teilte für weitere 80 Euro mit, dass es anders als das Verwaltungsgericht in Hamburg das EU-Recht nicht verletzt sieht, wenn die Ablehnung des Widerrufsrechts mit Gebühren belegt wird.

Lassen wir den Betroffenen selbst zu Wort kommen:

"Wenn der Bürger Angst haben muss, dass sein Antrag auf Eintragung einer Auskunftssperre abgelehnt wird und diese Ablehnung dann gleich 70 EUR kostet, dann werden die Bürger von ihren Rechten keinen Gebrauch machen!"

Dem ist nichts hinzuzufügen. Daher erhält die Stadt Karlsruhe eine tadelnde Erwähnung!

Tadelnde Erwähnung: Deutsche Bahn AG

Große, ehemals staatseigene Unternehmen haben den Ruf, noch träger als ein Öltanker zu reagieren. Die Deutsche Bahn AG ist ein sehr gutes Beispiel für diese Theorie: Trotz anderslautender Beteuerungen fragt diese bei Bahncard-Anträgen immer noch nach dem Geburtsdatum. Und das, obwohl selbst von der Bahn festgestellt wurde, dass dieses nicht nötig ist. Auch an anderer Stelle spielt die Bahn weiterhin Datenkrake, obwohl wir sie schon 2002 tadelten: von den Teilnehmern des BahnComfort Programms werden immer noch alle Bewegungsdaten gespeichert, auch wenn die gesammelten Punkte alleine ausreichen würden. Welche unlauteren Begehrlichkeiten aus dieser Speicherung bereits erfüllt wurden ist nicht bekannt ...

Landeskriminalamt

Seit Ende 2003 läuft beim niedersächsischen Landeskriminalamt (LKA) ein bundesweit einmaliges Projekt, das der Korruptionsbekämpfung dienen soll. Per Internet können Bürger anonym Tipps geben, wer angeblich wen wo schmiert oder wer sich welche öffentlichen Leistungen erschleicht. In zehn Monaten gab es bereits 15.000 Zugriffe auf dieses "Business Keeper Monitoring System". 437 Verdachtsmeldungen sind eingegangen, davon 260 mit angeblich strafrechtlicher Relevanz. Die Denunziationsquote soll laut LKA bei nur 5 Prozent liegen; das ergibt etwa 22 Fälle 22 Fälle zu viel. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein.

Das LKA stellt mit diesem System eine vereinfachte Möglichkeit für Abertausende Internetnutzer zur Verfügung, Mitmenschen vollkommen anonym anzeigen und verdächtigen zu können - nicht nur wegen Korruptionsverdachts, sondern etwa auch Bezieher von Sozialhilfe, die angeblich nebenher jobben, zu viel Vermögen oder verdächtig große Wohnungen haben. In Zeiten von Hartz IV ein weites Betätigungsfeld für Informanten und Denunzianten.

Ein aktuelles Beispiel: Der renommierte Leichtbau-Betrieb für Hydraulikzylinder Lingk + Sturzebecher in Stuhr (bei Bremen) und sein Geschäftsführer sind über das Internet-System des LKA anonym wegen Subventionsbetrugs angezeigt worden. Daraufhin durchsuchten 15 LKA-Beamte den Betrieb, beschlagnahmten Akten und Datenträger. Monatelange Ermittlungen folgten. Erst Monate nach der Durchsuchung bestätigt der zuständige Staatsanwalt, dass sich die anonymen Beschuldigungen als haltlos und als bösartige Verleumdungen erwiesen hätten. Gleiches gelte für entsprechende Vorwürfe gegen leitende Mitarbeiter des Wasser- und Schifffahrtsamtes Nürnberg sowie der Bezirksregierung in Hannover. Abgesehen von der Rufschädigung entstand dem Stuhrer Unternehmen durch die aufwendigen Ermittlungsmaßnahmen ein Schaden in sechsstelliger Höhe. Den Denunzianten dürfte die anonyme Falschbeschuldigung nicht nachzuweisen sein.

Anstatt niederschwellige und missbrauchsanfällige Internet-Anreize zum verantwortungslosen anonymen Anschwärzen zu schaffen, sollte Korruption verstärkt dort bekämpft werden, wo die Strukturen in Verwaltung und Wirtschaft diese Art von Kriminalität begünstigen - also ursachenorientierte Korruptionsprävention und mehr Transparenz, etwa bei der Auftragsvergabe, anstatt Internet-Nutzerinnen und Nutzer zu Hilfspolizisten heranzuziehen, wie das seit geraumer Zeit verstärkt geschieht. Erinnert sei an das SMS-Fahndungsprojekt, mit dem Handy-Besitzer zu Hobby-Fahndern gekürt und dazu animiert werden, ihre Beobachtungen an die Polizei zu übermitteln.

Deutsche Post AG

Noch immer sind die Missstände bei Nachsendeanträgen nicht behoben (siehe Laudatio zu den BigBrotherAwards 2002).

Hamburger Senat

Der Hamburger Senat möchte, dass Hamburg die sicherste Großstadt Europas werden soll. Dafür soll flächendeckende Videoüberwachung an Kriminalitätsschwerpunkten installiert werden, Verdächtige sollen ohne richterlichen Beschluss bis zu 14 Tage in polizeilichen Gewahrsam genommen werden können. Rasterfahndung? Klar auch ohne unmittelbare Gefahr. Und selbstverständlich wird soll elektronische Erkennung von Kfz-Kennzeichen forciert werden. etc. etc.

Endemol

Wer sich für die Sendung Big Brother einsperren lassen möchte, muss einen Fragebogen ausfüllen, bei dem wirklich keine Frage mehr offen bleibt. Was mit den Fragebögen nach Ablehnung des Kandidaten geschieht, verrät Endemol nicht.

Kategorie
Arbeitswelt (2004)

Lidl

Die Lidl Stiftung, vertreten durch Dieter Schwarz erhält den BigBrotherAward in der Kategorie "Arbeitswelt". Dafür gibt eine Vielzahl von Gründen. Besonders auszeichnungswürdig erschien der Jury die heimliche Videoüberwachung in einigen der deutschen Filialen und dass menstruierende Mitarbeiterinnen in Filialen in Tschechien zum Tragen eines Stirnbands verpflicht worden sind, damit sie die Toilette auch außerhalb der Pausen aufsuchen durften.
Laudator.in:
Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage

Den BigBrotherAward 2004 in der Kategorie "Arbeitswelt" erhält die Lidl Stiftung GmbH & Co in Neckarsulm vertreten durch ihren Gründer und die "Graue Eminenz" der Unternehmens-Gruppe, Dieter Schwarz für den nahezu sklavenhalterischen Umgang mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Lidl zeigt, dass gar nicht immer neueste Technik gebraucht wird, um Menschen unter Kontrolle zu halten und sie als Leibeigene ohne Rechte und ohne Privatsphäre zu behandeln. Der "Fall Lidl" zeigt andererseits, dass "Datenschutz" nicht bedeutet, "Daten" um ihrer selbst willen zu schützen, sondern dass es um den Schutz von Menschen und ihren Persönlichkeitsrechten geht.

Lidl ist billig.

Deswegen werden viele Menschen nicht gerne hören, dass ihr günstiger Stamm-Supermarkt seine Preise mit menschenverachtenden Methoden drückt.

Die Meldungen, die uns aus dem Innenleben des Lidl-Konzerns erreichen, sind einfach unglaublich. Sie wirken mittelalterlich, zumindest vorindustriell, und unzivilisiert. Wir werden versuchen, Ihnen die Insider-Ansichten schonend beizubringen.

Dafür beginnen wir mit einer Rückblende: dem Future Store. Vielleicht erinnern Sie sich - in der Laudatio für die Metro Group letztes Jahr hatten wir ein wunderschönes Szenario vom Supermarkt der Zukunft entworfen:

"Die Supermarkt-Fachkraft Gerd J. ist begeistert von der neuen RFID-Technik. ... Als er abends nach Hause kommt, liegt dort ein Brief ... mit einer Abmahnung. Er sei in den vergangenen Wochen durchschnittlich 9 Mal auf der Toilette gewesen und habe dort pro Tag ca. 72 Minuten zugebracht. Das liege 27 Minuten über dem Soll und diese Zeit werde ihm zukünftig von seinem Arbeitszeitkonto abgezogen. Entsetzt sucht er seinen Supermarkt-Kittel ab und findet einen RFID im Kragensaum."

Auch Lidl sind die wertvollen Minuten, die ihre Arbeitnehmer auf der Toilette verbringen, ein großes Ärgernis. Was in unserem Szenario vom letzten Jahr mit Hightech gelöst wurde, lässt sich jedoch viel einfacher und vor allem *billiger* regeln: Toilettengänge während der Arbeitszeit sind ganz einfach verboten - und Punkt.

Das ist kein Scherz. Das wurde aus Lidl Filialen in Tschechien berichtet.

Aber - so wurde berichtet -- es gibt Ausnahmen, denn man ist ja kein Unmensch: Weibliche Mitarbeiterinnen, die gerade "ihre Tage. haben, dürfen demnach auch zwischendurch auf Toilette. Für dieses Privileg allerdings sollen sie . weithin sichtbar . ein Stirnband tragen. Eine Preisgabe persönlicher Daten ganz ohne Computer und Digitalisierung.

Schon deshalb: Eine einfache Lösung. Und vor allem: billig.

Unverständlich, warum die Presse in Tschechien sich so über die deutsche Supermarktkette empörte.

Die Lebensmittelzeitung, die führende Wochenzeitung für den Handel, berichtet, dass Lidl die skandalöse Stirnbandvorschrift inzwischen aufgehoben hat.

"UNI commerce" - eine internationale Gewerkschaft für Menschen, die in multinationalen Konzernen arbeiten - hat den Fall Ende September beim so genannten "Sozialen Dialog" der EU in Brüssel zur Sprache gebracht und hat Lidl aufgefordert, sich bei den Arbeiterinnen in Tschechien zu entschuldigen. Lidl dementiert und sagt, das sei nur ein Gerücht.

Denken Sie bloß nicht, solche Vorkommnisse würden uns nur aus Tschechien gemeldet! Die folgenden Meldungen stammen aus Deutschland:

+++ Bielefeld, Ende August 2004. Bei den BigBigBrotherAwards geht eine anonyme Nominierung des Lidl Konzerns ein. Persönliche Treffen von Arbeitnehmer/innen während ihrer Freizeit seine Anlaß zur Kündigung sein. Das bringt einen Stein ins Rollen. Die BigBrotherAwards-Jury beginnt zu recherchieren.

+++ Raum Nürnberg. Die stellvertretende Leiterin einer Lidl-Filiale kündigt, nachdem sie drei Stunden lang einem Kreuzverhör der Vertriebsleitung ausgesetzt war. Offiziell wurde der Mitarbeiterin der Diebstahl von 12,50 Euro Pfandgeld vorgeworfen. Sie selbst habe keinen Zeugen oder Anwalt zum Gespräch hinzu bitten dürfen, sagt sie in einem Presseinterview. Der anwesende Revisor diktiert ihr die Worte der Kündigung, die sie noch vor Ort schreibt. "Mir wurde gedroht. Der psychische Druck war so groß, dass ich in der Situation sogar mein Todesurteil unterschrieben hätte", sagt sie gegenüber einem Journalisten. Sie selbst hatte jahrelang täglich gerne eine bis anderthalb unbezahlte Überstunden für Lidl geleistet. Vor sechs Jahren allerdings hatte sie sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass andere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ihre Überstunden bezahlt bekamen.. +++

+++ Ansbach. Mitarbeiterinnen der Lidl-Filiale bekommen ihre Arbeitszeit exakt bis 20 Uhr bezahlt. Üblicherweise haben sie aber bis kurz vor 22 Uhr zu tun. Die Frühschicht beginnt um 6 Uhr - bezahlt wird erst ab halb acht. Lidl bezeichnet diese Überstunden als "freiwillige Vor- und Nacharbeiten".+++

+++ Schleswig-Holstein. In einer Zusatzvereinbarung zu einem Lidl-Arbeitsvertrag findet sich die Formulierung: "Dem Arbeitgeber wird das Recht eingeräumt, Taschenkontrollen durchzuführen." Mehrere Lidl-Beschäftigte erzählen der Gewerkschaft ver.di anonym, dass sie während einer Krankheitsphase zu Hause von Lidl-Verkaufsleitern aufgesucht worden seien. +++

+++ Raum Nürnberg. An der Pfandkasse einer Lidl-Filiale wurde eine Videokamera installiert. Selbst der Marktleiter und seine Stellvertreterin wurden darüber nicht informiert. Den beiden fiel ein bisher unbemerktes Loch in der Decke auf, nachdem sie an einem Morgen in ihre Filiale kamen und alle Türen anders verriegelt waren als sonst. Zunächst vermuteten sie einen Einbruch und meldeten ihre Beobachtung der Zentrale. Die Vertriebsleiterin versuchte daraufhin, den Einbau der Kameras zu vertuschen. Wer die Aufzeichnungen zu sehen bekommt und wann sie gelöscht werden, ist völlig unklar. Betriebsräte in den 2500 Lidl-Filialen - eigentlich zuständig für solche Fragen - wurden nach Angaben der Gewerkschaft ver.di "vom Unternehmen bislang gezielt und mit härtesten Mitteln verhindert." +++

+++ Saarland. Nach Auskunft der Gewerkschaft ver.di wurden in Lidl-Filialen Babyphones gefunden, die in Aufenthaltsräumen oder in der Nähe von Telefonen aufgestellt worden waren. Gleichzeitig sei vor der Filiale ein Auto gesehen worden, das evtl. einem Vertriebsleiter gehöre, so ver.di. Man vermutet, dass in diesem Auto Gespräche mitgehört wurden. +++

+++ November 2003. Ehemalige Verkaufsleiter des Lidl-Konzerns berichten, sie seien angewiesen worden, alle zwei Wochen die Hand- und Manteltaschen sowie Kofferräume und Handschuhfächer der Autos ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu kontrollieren. +++

+++ Raum Nürnberg. Seit Januar 2004 werden die Mitarbeiterinnen einer Lidl-Filiale mit Testkäufen und Kontrollen nachgerade überzogen. Diese Vorwürfe erhebt eine stellvertretende Filialleiterin, die nach eigenen Angaben zur Kündigung gedrängt wurde. Andere Beschäftigte bestätigen der Gewerkschaft ver.di, dass Testkäufe mit eingebauten Fallen ein übliches Mittel seien, Beschäftigte der höheren Gehaltsstufen oder Gewerkschaftsmitglieder aus dem Job zu drängen. +++

Aber: Lidl ist billig.

Nicht nur Arbeitnehmer sind Kostenfaktoren, auch Steuern gehören zu den lästigen Begleiterscheinungen des unternehmerischen Engagements. Und in diesem Zusammenhang kann man wirklich nicht sagen, dass Lidl Privatsphäre generell nicht wichtig wäre.

So gehört auch Lidl zu den rund 460 Firmen, die sich mit einem Briefkasten in dem nordfriesischen Dorf Norderfriedrichskoog angesiedelt haben, zufälligerweise ein Ort, an dem es bis zu diesem Jahr keine Gewerbesteuer gab. Man firmiert dort ganz neutral unter dem Namen Alpha Finanz GmbH.

Lidl bzw. die Unternehmensgruppe Schwarz ist ein unübersehbares Firmenimperium aus etwa 600 Einzelfirmen und Stiftungen. Durch die Aufteilung in so viele Einzelfirmen entsteht ein äußerst unübersichtliches Firmenkonstrukt, mit dem sich etliche Tochterfirmen der gesetzlich vorgeschriebenen Publizitätpflicht entziehen.

Es gibt keine Veröffentlichung irgendwelcher Firmendetails. Bei Lidl sind nicht nur die Bilanzen, sondern sogar die Anzahl der Filialen Geheimsache.

Und seine eigene Privatsphäre ist Herrn Schwarz, dem Herren über das Lidl-Imperium, lieb und teuer. Besonders achtet er darauf, dass es keine Fotos von ihm gibt -- aus diesem Grund hat er auch schon auf die Anwesenheit bei schmeichelhafteren Preisverleihungen als den BigBrotherAwards verzichtet.

Lidl ist billig.

Und Lidl kennzeichnet mit seiner Unternehmenspolitik eine Tendenz, die in den vergangenen Monaten mit schwächelnder Konjunktur auch von anderen führenden Konzernvertretern immer wieder geäußert wurde: Umweltschutz, Menschenrechte, Persönlichkeitsrechte, Meinungsfreiheit, Arbeitnehmerrechte, demokratische Grundrechte - das alles ist teurer Schnickschnack, den sich die Wirtschaft nicht mehr leisten will.

Wir aber sollten uns fragen: Wollen wir uns im 21. Jahrhundert diese Wirtschaft leisten? Können wir uns leisten, so billig einzukaufen? Ist es uns diesen Preis wert? Den Preis, den Menschen zahlen, die ihre Bürgerrechte am Fabriktor beim Pförtner abgeben müssen, um ihre Jobs zu behalten? Diese Frage sollte sich jede Kundin und jeder Kunde selbst stellen.

Herzlichen Glückwunsch, liebe Lidl Stiftung!

Laudator.in

Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage
Quellen (nur eintragen sofern nicht via [fn] im Text vorhanden, s.u.)

Zusätzliche Informationen

Das "Schwarzbuch Lidl" von Andreas Hamann erscheint am 10. Dezember 2004, dem internationalen Tag der Menschenrechte. [Inhalt nicht mehr verfügbar]

Weitere Buchempfehlungen:

Barbara Ehrenreich: "Arbeit poor - unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft" [Link nicht mehr verfügbar]

Hans Weiß und Bernd Schmiederer: "Asoziale Marktwirtschaft - wie die Konzerne den Staat ausplündern" [Inhalt nicht mehr verfügbar]

Jan Roß: "Die neuen Staatsfeinde - Welche Republik wollen Schröder, Henkel, Westerwelle & Co.?" (Web-Archive-Link)

Walter van Rossum: "Meine Sonntage mit Sabine Christiansen - Wie das Palaver uns regiert" (Web-Archive-Link)
Mehr dazu unter: http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/standpunkte/?cnt=484977 [Inhalt nicht mehr verfügbar]
Bei diesem Buchtitel ist der Zusammenhang zum Lidl-Text nicht wirklich offensichtlich? Dann lesen Sie
kiwi Köln [Inhalt nicht mehr verfügbar]

Links:

Lebensmittelzeitung [Inhalt nicht mehr verfügbar]
ver.di Fachgruppe Handel [Inhalt nicht mehr verfügbar]

Jahr
Kategorie
Politik (2004)

Brigitte Zypries

Bundesjustizministerin Brigitte Zypries erhält den BigBrotherAward in der Kategorie "Politik". Anstatt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 zum Anlaß, auf den großen Lauschangriff als Ermittlungsmethode zu verzichten, hält sie weiter an ihm fest. Tatsächlich besteht durch die bloße Existenz eines solchen Instruments die Gefahr der Einschüchterung von Menschen, wie übrigens auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil feststellt.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Fredrik Roggan.
Dr. Fredrik Roggan, Humanistische Union (HU)

Der Big Brother Award 2004 in der Kategorie "Politik" geht an die Bundesministerin der JustizFrau Brigitte Zypries. Sie wird ausgezeichnet für ihr Festhalten am Großen Lauschangriff als Instrument der Strafverfolgung.

Das Bundesverfassungsgericht hat am 3. März dieses Jahres eine wegweisende Entscheidung gefällt, nach der das Abhören von Menschen in Privatwohnungen nur erlaubt ist, wenn sehr strenge Regeln eingehalten werden. Dabei hat das Gericht die Hürden für eine verfassungsgemäße Regelung sehr hoch gelegt. Polizeipraktiker sind sich dabei ungewöhnlich einig mit Rechtswissenschaftlern und Datenschützern. Sie alle gehen davon aus, dass große Lauschangriffe in Zukunft extrem kompliziert und damit kaum noch durchführbar sind, zumal die Ergebnisse vielleicht noch nicht mal im Verfahren verwendet werden dürfen.

Man hätte diesen Richterspruch zum Anlass nehmen können, auf den Großen Lauschangriff ganz zu verzichten. Nach Ansicht der Jury wäre das eine sinnvolle Entscheidung gewesen. Stattdessen sollte nach einem Referenten-Entwurf aus den Hause Zypries der große Lauschangriff sogar auf Ärzte, Journalisten und Pastoren ausgedehnt werden. Dieser musste auf starken öffentlichen Druck hin zurückgezo-gen werden.

Eine ganz andere Haltung bewies dagegen ihre Amtsvorgängerin, Sabine Leutheus-ser-Schnarrenberger. Sie trat 1996 als Justizministerin zurück, weil sie den großen Lauschangriff nicht mittragen wollte. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom März diesen Jahres geht auf ihre Verfasssungsbeschwerde zurück.

Mehr rechtsstaatliche Sensibilität fordert übrigens nicht nur die BigBrotherAward-Jury von Frau Zypries, sondern auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Jörg Tauss, der 1998 bei der Abstimmung im Bundestag selbst noch FÜR den Lauschangriff vo-tiert hatte. Er sagt heute: "Die Justizministerin muss sich endlich über eines klar werden: Sie ist nicht mehr Otto Schilys weisungsgebundene beamtete Staatssekre-tärin, sondern als Ministerin die Hüterin der Verfassung und der Bürgerrechte."

Zu den Fakten: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist der große Lauschangriff, also das Abhören von Wohnungen z.B. durch Wanzen, Richt- oder Lasermikrofone, laut Gericht zwar verfassungsrechtlich zulässig, aber nur in Aus-nahmefällen und wenn die sehr restriktiven Anforderungen an die gesetzliche Grundlage und die Durchführung eingehalten werden. Aber auch bei der verfas-sungs*gemäßen* Durchführung eines Großen Lauschangriff ist die Verletzung des eigentlich unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung nicht ausge-schlossen! Einziger "Trost" für die Betroffenen ist, dass solche Daten sofort zu lö-schen und nicht weiter zu verwenden sind. Aber wozu ist diese Verletzung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 GG) überhaupt nötig?

Dass ohne großen Lauschangriff die Bekämpfung der organisierten Kriminalität zum Scheitern verurteilt wäre, wie immer wieder behauptet wird, erscheint lächerlich: Im Jahr 2001 z.B. hat es ganze 17 Einsätze dieser Art gegeben (genaue Zahlen sind z.T. erst mit jahrelanger Verspätung zu bekommen). Und noch nicht einmal in der Hälfte dieser Fälle sind dabei strafverfahrensrelevante Informationen zutage gefördert worden. Stattdessen stellt das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil fest: "Von der Möglichkeit zur akustischen Wohnraumüberwachung können Einschüchterungseffekte ausgehen, denen insbesondere auch der Unverdächtige ausgesetzt ist, weil auch er ... jederzeit und ohne sein Wissen von der Ermittlungsmaßnahme betroffen werden kann" (BVerfGE 109, 279 [354]).

Die Jury hofft, dass sich Frau Zypries das Minderheits-Votum der Richterinnen Hohmann-Dennhardt und Jaeger zu Herzen nimmt. Wir zitieren aus deren Stellung-nahme: "Wenn (...) die Intimsphäre (?) kein Tabu mehr ist, vor dem das Sicher-heitsbedürfnis Halt zu machen hat, stellt sich (...) die Frage, ob das Menschenbild, das eine solche Vorgehensweise erzeugt, noch einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie entspricht". Es sei insofern "nicht mehr den Anfängen, sondern einem bitteren Ende zu wehren" (BVerfGE 109, 279 [391]).

Eine Demokratie lebt von der Furchtlosigkeit ihrer Mitglieder. Nur, wenn wir keine Angst vor dem Staat haben, können wir unsere Grundrechte frei ausüben. Darum gibt es zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung. Wir erwarten von der Politik, dass sie uns diese Freiheit erhält, und sie nicht gefährdet, indem sie den Sicherheitsbehörden immer neue und weiter gehende Befugnisse einräumt.

Stattdessen tut Frau Zypries es ihren Kollegen aus den Bundesländern gleich, die für die Regelungen über Große Lauschangriffe in den Polizeigesetzen verantwortlich zeichnen. Der Unbefangenheit des vertraulich gesprochenen Worts wird mit solcherlei Rechtspolitik weiter die Grundlage ihrer Existenz entzogen.

Dafür: Herzlichen Glückwunsch, Frau Zypries.

Literaturhinweis:
Fredrik Roggan (Hrsg.): Lauschen im Rechtsstaat - Zu den Konsequenzen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff
Mit Beiträgen von: Nils Bergemann, Prof. Dr. Erhard Denninger, Dr. Burkhard Hirsch, Prof. Dr. Martin Kutscha, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Fredrik Roggan.

Laudator.in

Portraitaufnahme von Fredrik Roggan.
Dr. Fredrik Roggan, Humanistische Union (HU)
Jahr
Kategorie
Kommunikation (2004)

Armex

Dirk Teubner von der Armex GmbH erhält den BigBrotherAward in der Kategorie "Kommunikation". Um sein Produkt "Track Your Kid" zu verkaufen, nutzt er diffuse Ängste von Eltern aus und gibt ihnen ein Instrument in die Hand, das Kinder nicht zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern, sondern zu willigen Untertanen einer Kontrollgesellschaft erzieht.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Karin Schuler.
Karin Schuler, Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD)

Der BigBrotherAward in der Kategorie "Kommunikation" geht an die Firma Armex GmbH aus Gladbeck für Ihr Produkt "Track Your Kid" - stellvertretend auch für andere Anbieter, die Überwachungsdienste für Eltern anbieten.

Vorschlag: Niemand käme auf die Idee, sein Kind an die Leine zu nehmen. Ein elektronisches Gängelband allerdings scheint keine Hemmschwelle zu sein, sonst könnten Firmen wie die Armex GmbH kein Geld mit den Ängsten von Eltern machen.

Track Your Kid wird über eine Standortbestimmung des jeweiligen Netzbetreibers möglich. Durch Abstandmessungen zu umgebenden Sendemasten kann die aktuelle Position eines Handys je nach Sendemastdichte im städtischen Bereich bis auf weit unter 100 Meter genau ermittelt werden.

Armex als Anbieter eines so genannten "Mehrwertdienstes" nutzt dies, damit Eltern ihre mit Handy ausgestatteten Kinder, bzw. deren Handys, jederzeit orten können. Dabei fungiert Armex quasi als Detektivbüro: Die Eltern senden der Firma eine Anfrage-SMS und erhalten die Position des Handys ebenfalls per SMS gemeldet. Dazu muss der Mobilfunkanbieter beauftragt sein, die Standortdaten an Armex weiterzuvermitteln.

Glaubt man den begeisterten Anpreisungen von "Track Your Kid" und ähnlichen Produkten in den Medien und in Elternforen im Internet, so trifft dieses Angebot anscheinend genau die Wünsche vieler Eltern.

Schaut man jedoch genauer hin, so sind Zweifel angebracht.

1. Die Sinnfrage

Was hilft es eigentlich, wenn ich mitbekomme, wie mein Kind gerade in "unerwünschte" Stadtteile ausbüxt? Würde ich im schlimmsten Falle einer Entführung tatsächlich eingreifen können? Wäre nicht zu erwarten, dass ein derart gewaltbereiter Täter das Handy meines Kindes als erstes im wahrsten Sinne des Wortes "in die Tonne kloppen" würde - oder dass mein Kind dies tut, wenn es vorhätte, auszureißen?

Was erhoffen sich Eltern konkret von der Nachricht, dass ihr "aufgestöberter Rumtreiber", wie die Bild-Zeitung es nannte, sich zu weit vom üblichen Weg entfernt hat? Strafpredigten? Polizeieinsätze? Verlässt Mama dann jedes Mal ihren Arbeitsplatz um die Standpauke gleich am Ort des Geschehens zu halten?

Derartige Fragen stoßen bei vielen Eltern auf Unverständnis. Häufig wird wie selbstverständlich angenommen, dass das Kindeswohl über alles geht - auch über die Persönlichkeitsrechte des Kindes. "Mit Track Your Kid haben Sie alles im Griff" verspricht der Anbieter Armex . Dies genau aber ist ein Irrtum. Die vorgebliche Sicherung ist weniger Gewinn für das Kind als erkaufte Selbstberuhigung für überforderte Eltern.

Und Datenschutz und Recht auf informationelle Selbstbestimmung sind keine "Rechte für Erwachsene", die man Kindern, auch wenn man deren Erziehungsberechtigter ist, beliebig vorenthalten kann. Rein juristisch gesehen müssen Kinder ab 14 Jahren ohnehin in eine Ortung ihres Handys einwilligen, wie Datenschützer bereits unmissverständlich erläutert haben.

2. Missbrauch ist möglich

Die Jury ist über die Naivität bestürzt, mit der Armex versucht, formal den Anforderungen des Datenschutzes Genüge zu tun. Bei näherem Hinsehen erweist sich dieses Vorgehen nämlich als hilfloser Versuch, potenziellen Kriminellen mit dem erhobenen Zeigefinger entgegenzutreten.

Eigentlich sollte bei der Auftragserteilung per Kaufbeleg nachgewiesen werden, dass einem die zu ortende Handynummer (SIM) auch gehört. Wer Armex aber online beauftragen möchte, wird danach nicht mehr gefragt. Eine Unterschrift unter eine Eigentumserklärung reicht anscheinend aus.

Außerdem stellt es z.B. für Lebenspartner erfahrungsgemäß kein großes Problem dar, den Handy-Vertrag des anderen ohne dessen Wissen an Armex zu faxen.

Und schließlich gibt es einen sehr einfachen Weg, mit genügend krimineller Energie auch fremde Handys orten zu lassen:

Armex sucht nämlich nicht nach den Handys, sondern ortet die SIM-Karten, die in die Geräte eingesetzt werden. Auf ihnen ist die Telefonnummer abgespeichert, das Gerät drumherum dagegen ist beliebig austauschbar. Mit etwas Phantasie lassen sich Szenarien denken, in denen man Opfern zumindest für kurze Zeit fremde SIM-Karten unterschieben kann, um sie so zumindest eine Zeitlang orten zu können.

In Arbeitgeber-/Arbeitnehmer-Verhältnissen stellt sich ein solches Vorhaben nochmals um einiges leichter dar: Firmen-Handys werden ohnehin von der Firma bestellt, verwaltet und gewartet. Da ist die Überwachung des ineffizienten Außendienstmitarbeiters oder der unliebsamen Betriebsratsvorsitzenden schlichtweg zu einfach in die Realität umzusetzen.

3. Auch Gebrauch ist Missbrauch

Bei allem Verständnis für besorgte Eltern um das Wohl ihres Kindes: Zur Erziehung gehört auch die Vorbereitung auf ein selbst bestimmtes Leben und die Vermittlung der Werte einer freiheitlichen Gesellschaft. Ob diese Gesellschaft noch in der Lage sein wird, persönliche Freiheitsrechte als wertvolles Gut zu begreifen und zu verteidigen, wenn ein Großteil ihrer Mitglieder von Kindesbeinen an eine ständige Überwachung gewöhnt ist (die TAZ nennt das "überwachungssozialisiert")? Wie soll ein derart geprägter Mensch überhaupt begreifen, dass soziales, menschliches und gesellschaftsverträgliches Verhalten in erster Linie auf eigener Einsicht basiert - und nicht auf der Angst vor Entdeckung möglichen Fehlverhaltens durch ständige Überwachung? Durch Angebote wie Track Your Kid lernen Menschen, die man auf diese Art entmündigt, Verantwortung dauerhaft abzugeben.

Eltern sollten sich besser zweimal überlegen, ob sie um den Preis einer vermeintlichen Sicherheit ihre Sprösslinge an die Normalität permanenter Überwachung gewöhnen wollen.

Die Jury geht hoffnungsvoll davon aus, dass die Kids sowieso schlauer als die Eltern sind und sich der Relevanz des kleinen Knopfs bewusst sind, an dem man die elektronische Fußfessel namens Handy einfach ausschaltet. Denn was nicht sendet, kann auch nicht geortet werden.

Herzlichen Glückwunsch, Armex GmbH!

Laudator.in

Portraitaufnahme von Karin Schuler.
Karin Schuler, Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD)
Jahr
Kategorie
Technik (2004)

Canon

Eine im Kopierer gespeicherte Kennummer (Identifikationsnummer) wird unsichtbar auf *allen* Kopien mitausgegeben. Da jeder Kopierer eine individuelle Barcode-Kennung hat, lässt sich die Herkunft einer Kopie ermitteln. Sie wird als Funktion verkauft, die das Fälschen von Banknoten, Schecks etc. unterbinden soll.
Laudator.in:
Frank Rosengart am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Frank Rosengart, Chaos Computer Club (CCC)

Der BigBrotherAward in der Kategorie Technik geht an die Firma Canon Deutschland GmbH für das Einbetten einer unsichtbaren weltweit einmaligen Geräte-Kennung in sämtliche Farbkopien, um bei jeder Kopie nachvollziehen zu können, welches Gerät benutzt wurde.

Canon verwendet dieses Verfahren seit einigen Jahren, Gerüchte über die Funktionsweise kursieren im Internet seit längerer Zeit. Nun hat die Big Brother Award Jury konkrete Beweise für die Existenz dieser Technologie vorliegen: Mit einem unsichtbaren Code, der auf jede Farbkopie gedruckt wird, ist es möglich, diese Kopie zu dem Gerät zurück zu verfolgen, mit dem sie hergestellt wurde.

Auf jedes durch einen Kopierer gelaufene Blatt wird in einem von Canon geheimgehaltenen Verfahren, ohne technische Hilfmittel nicht sichtbar die individuelle Seriennummer des Gerätes aufgedruckt. Canon kann z.B. im Auftrag von staatlichen Stellen die Spur einer Fotokopie zu dem einzelnen Gerät zurückverfolgen, denn durch Serviceverträge oder Registrierung der Geräte sind die Standorte dem Hersteller bekannt.

Tauchen z.B. kopierte Ausweispapiere oder Geldscheine auf, können z.B. Behörden so gezielt einen Copy-Shop unter die Lupe nehmen. Aus "ermittlungstaktischen Gründen" wird eine solche Maßnahme sicherlich nicht als erstes mit dem betroffenen Kopierer-Besitzer abgesprochen werden. Der Copy-Shop wird also vielleicht überwacht oder durchsucht, der Besitzer des Ladens wahrscheinlich verpflichtet werden, seine Kunden "besser ins Visier" zu nehmen.

Leider hat Canon vergessen, einen entsprechenden Hinweis auf den Geräten anzubringen. Der Kunde wird über diese Datenspur auf der Kopie nicht informiert - nicht einmal der Käufer des Gerätes. Auch in der Anleitung für den Benutzer befindet sich kein Hinweis darauf. Deshalb will die BigBrotherAward-Jury mit diesem Technik-Award darauf öffentlich aufmerksam machen.

Was für die Strafverfolgung noch gerechtfertigt erscheinen mag, ist eine Gefahr für die Informationsfreiheit: Wer wird sich noch trauen, Bestechungsskandale aufzudecken und entsprechende Beweise z.B. an die Presse weiter zu reichen, wenn er weiß, dass die Anonymität einer Kopie nicht mehr gewährleistet ist, sondern dass z.B. sein Arbeitgeber als Besitzer des Gerätes ein Dokument bis in eine bestimmte Abteilung, ein bestimmtes Büro zurück verfolgen kann? Mitarbeiter von Copy-Shops haben bestätigt, dass es in der Vergangenheit konkrete Anfragen von Ermittlungsbehörden gab.

Dieser Technik-Award 2004 wird auch für einen Trend vergeben: Das Regiment der Technik über menschliche Entscheidungen. Der aufkopierte Code ist nämlich nicht die einzige technische Raffinesse, die heutige Kopierer, Bildbearbeitungsprogramme und Farbdrucker aufweisen. Mustererkennung soll die Vervielfältigung geschützter Dokumente unterbinden - der Drucker entscheidet eigenständig, Dokumente nicht mehr auszudrucken und liefert stattdessen eine Fehlermeldung. Bisher sind davon Wert-Dokumente wie Geld oder Aktien betroffen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass in Zukunft auch Systeme zur Verfolgung von Urheberrechtsverstößen weiter entwickelt werden.

Das heißt, Nutzer dieser Geräte können keine Kopien mehr erstellen, ohne durch die Technik bespitzelt und gegängelt zu werden. Der Kopierer, Drucker oder Scanner passen auf, dass nichts "Unerlaubtes" vervielfältigt wird. Und die Kopien werden registriert.

Was heißt das zum Beispiel für Demo-Aufrufe? Oder Dokumente, die der Urheber lieber nicht vervielfältigt haben möchte, weil sie z.B. Bestechung aufdecken könnten?

Die Wege eines Kunden sind rückverfolgbar - darin sieht die BigBrotherAward-Jury eine Verletzung der Privatsphäre und ein Risiko für die Besitzer der Kopiergeräte, unschuldig ins Visier von Fahndern zu geraten.

Herzlichen Glückwunsch, Firma Canon Deutschland.

Laudator.in

Frank Rosengart am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Frank Rosengart, Chaos Computer Club (CCC)
Jahr
Kategorie
Behörden & Verwaltung (2004)

Bundesagentur für Arbeit

Frank Jürgen Weise von der sogenannten "Bundesagentur für Arbeit" erhält den BigBrotherAward in der Kategorie "Behörden und Verwaltung" wegen a) der inquisitorischen Fragebögen zu ALG2, b) der Unwilligkeit, die Fragebögen vor 2005 datenschutzgerecht zu überarbeiten, sowie c) der vermuteten Zugriffsmöglichkeit auf die Daten der Arbeitssuchenden ("Kunden.innen" ist ein Euphemismus) von sämtlichen Arbeitsagenturen aus bundesweit.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)

Der BigBrotherAward in der Kategorie "Behörden und Verwaltung" geht an die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg, vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Frank-Jürgen Weise, für die Ausgabe eines 16seitigen Antragsformulars an Langzeitarbeitslose, mit dem hochsensible Daten teils unzulässig abgefragt werden und Informationen auch unbefugten Stellen zugänglich werden können. Damit verstößt die Bundesagentur massiv gegen den Sozialdatenschutz, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und den Grundsatz der Datensparsamkeit.

"Haben ... die mit Ihnen im Haushalt lebenden Angehörigen Vermögen? Bank- und Sparguthaben, Bargeld..., Kraftfahrzeug, Wertpapiere..., Kapitallebensversicherungen, Bausparverträge..., Wertsachen, Gemälde?" oder "Kann [Ihr Angehöriger] ... Ihrer Einschätzung nach mindestens drei Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit ... nachgehen?"

Dies sind Zitate aus dem Antragsbogen für das kommende Arbeitslosengeld II. Die Antragsteller müssen auf diesen Formularen entblößende Auskünfte über Einkommens-, Vermögens-, Wohn- und Familienverhältnisse offenbaren. Das betrifft Millionen Arbeitslose, denen seit Juli 2004 entsprechende Formulare zugesandt worden sind.

Hartz IV/ALG II stellen einen Generalangriff auf den Sozialstaat dar, der zu massiven sozialen Verwerfungen führen kann. Doch allein schon die datenschutzrechtlichen Probleme sind einen BigBrotherAward wert. Mit dem Antragsbogen sind gravierende Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung, die Persönlichkeitsrechte, die Privat- und Intimsphäre der Antragsteller verbunden. Nur drei Beispiele:

1. Offenlegung der Lebensverhältnisse Dritter: In den Erfassungsbögen müssen nicht nur die Antragsteller Angaben zu ihren Einkommens-, Vermögens-, Familien- und Wohnverhältnissen machen und durch entsprechende Nachweise belegen. Sie sehen sich auch gezwungen, sensible Daten über andere Personen anzugeben, insbesondere über ihre Kinder, Ehe- und Lebenspartner, andere Angehörige oder Mitbewohner in sogenannten Bedarfsgemeinschaften. Diese wissen im Zweifel noch nicht mal von der Weitergabe und Verarbeitung ihrer Daten.

2. Mangelhafte Eingrenzung der Fragen: Darüber hinaus wird in den Antragsbögen an vielen Stellen nicht unterschieden zwischen einerseits der "Bedarfsgemeinschaft", zu der Eltern und Kinder gehören, und andererseits einer "Haushaltsgemeinschaft", also der bloßen Wohngemeinschaft, auch wenn es sich bei dem Mitbewohner um einen Onkel handelt. Zu reinen Haushaltsgemeinschaften müssen zumeist keine Angaben gemacht werden, aber dieser Hinweis fehlt in den Antragsformularen. Auf diese Weise werden Antragsteller hinters Licht geführt und zu Informationen verleitet, die sie weder machen müssen, noch eigentlich machen dürfen.

3. Einsicht Unbefugter in geschützte Daten: Vom Antragsteller sowie von dessen erwerbstätigen Angehörigen und Mitbewohnern wird verlangt, Verdienstbescheinigungen von den jeweiligen Arbeitgebern beizubringen. Dafür ist das so genannte Zusatzblatt 2 ("Einkommenserklärung/Verdienstbescheinigung") vorgesehen - und zwar die Rückseite. Auf der Vorderseite findet der Arbeitgeber oder irgendein ausfüllender Kollege aus der Personalabteilung die eigentlich zu schützenden Daten ihrer Mitarbeiter und der Antragsteller. Normalerweise braucht aber niemand seinem Arbeitgeber zu offenbaren, was er sonst noch für Einnahmen hat, dass er ALG II beantragen muss oder dass er mit einem ALG-II-Empfänger zusammenlebt. Das wäre mit dem Sozialgeheimnis und dem Persönlichkeitsrecht nicht vereinbar und könnte sich im Einzelfall nachteilig auswirken.

Angesichts der massiven Kritik an den Antragsbögen lud Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) Arbeitslose ein, sich doch an ihn persönlich zu wenden, falls Probleme beim Ausfüllen auftreten sollten: "Wer nicht zurecht kommt, soll mich anrufen", lautet sein saloppes Angebot. Das Ausfüllen dauere höchstens eine halbe bis drei-viertel Stunde. Ein - vielleicht willkommener - Nebeneffekt des flotten Ausfüllens ist: Wer so schnell ausfüllt, übersieht am ehesten die Tücken, auch die datenschutzrechtlichen. Dieser Beschwichtigungsversuch ist also so populistisch wie zynisch - denn die gravierenden Mängel der Fragebögen sind auch nach berechtigter Fachkritik nicht behoben worden.

Seit Juli 2004 wurden die Antragsbögen verschickt, im August gab es ein dringendes Gespräch mit dem Bundesbeauftragten für Datenschutz, Peter Schaar, wegen erheblicher rechtlicher Bedenken. Das Ergebnis: Die Bundesanstalt für Arbeit hat die Kritik weitgehend eingesehen. Zukünftig sollen datenschutzgerechte Antragsbögen verwendet werden. Das ist die gute Nachricht - die schlechte: Vor Februar 2005 seien diese neuen Bögen aber nicht einsetzbar. Millionen von Menschen müssen also, wenn sie im Januar Geld zum Leben erhalten wollen, die alten, datenschutzwidrigen Formulare verwenden. Zwar hat die Bundesagentur im September neue Ausfüllhinweise (Stand 16.9.04) herausgegeben und darin etliche Fehler eingestanden und zu korrigieren versucht; aber die kamen für manche Antragsteller zu spät, bzw. sind vielen noch immer nicht bekannt.

Mit den Melde- und Nachweispflichten werden zukünftige Empfänger von Arbeitslosengeld praktisch unter den Generalverdacht des potentiellen Leistungsmissbrauchs gestellt - Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hat es klar und deutlich ausgedrückt, als er von der "Mitnahme-Mentalität" bei staatlichen Sozialleistungen bis weit in die Mittelschicht hinein gesprochen hat. Auch nach Antragstellung müssen Leistungs-Empfänger damit rechnen, weiter durchleuchtet zu werden. Außerdem sind ihre personenbezogenen Daten nicht ausreichend geschützt. Drei Beispiele:

1. Fehlerhafte Software: Die geplante automatische Verarbeitung der mit den Antragsformularen erhobenen Daten stößt auf erhebliche datenschutzrechtliche Bedenken - zumal inzwischen bekannt geworden ist, dass die Software mit systematischen Fehlern behaftet ist. Bisher weist alles darauf hin, dass es bei dem bundesweiten Datenverarbeitungssystem keinerlei Zugriffsbeschränkungen gibt. Dies bedeutet, dass nicht nur die örtliche Sachbearbeiterin, sondern sämtliche Sachbearbeiter aller Arbeitsagenturen bundesweit auf sämtliche hochsensiblen Daten aller Arbeitslosen Zugriff erhalten, ohne dass wirksame Missbrauchsvorkehrungen getroffen wären. Wir fragen uns, ob das ein Fehler in der Software ist oder ein gewünschter Effekt.

2. Geplanter Datenabgleich: Die Bundesagentur hat angekündigt, im Falle von "Ungereimtheiten" (z.B. Diskrepanzen zu früheren Angaben, widersprüchliche Angaben aus der Bedarfsgemeinschaft etc.) die Auskünfte der Betroffenen mit den Daten anderer Behörden, etwa der Finanzämter oder Rentenversicherungsträger, abzugleichen. Um die Kontrolle zu perfektionieren, lässt sich sogar auf "Antiterror"-Gesetze zurückgreifen: Danach müssen alle Geldinstitute über eine Computer-Schnittstelle jederzeit Informationen über sämtliche Konten und Depots von allen Bankkunden zum Abruf für die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) bereithalten (§ 24c KWG - Kreditwesengesetz) - ohne dass die Banken oder ihre Kunden von den Online-Abfragen etwas merken. Den Arbeitsagenturen stehen ab 2005 solche Finanz-Daten der Leistungsempfänger sowie der Kinder, Ehepartner, Lebensgefährten und Mitbewohner innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft zur Verfügung, "wenn eigene Ermittlungen", etwa Nachfragen beim Betroffenen oder bei Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft durch die Arbeitsagenturen, "keinen Erfolg versprechen" (§ 93 Abs. 8 AO).

3. Hausbesuche: Die Bundesagentur für Arbeit hat bereits angekündigt, zur Überprüfung von Vermögensangaben und Wohnverhältnissen auch Hausbesuche zu machen. Solche Heimsuchungen und Schnüffelmethoden stellen einen schweren Eingriff in die Privatsphäre der Betroffenen dar und verletzen das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Kontrollen in privaten Wohnräumen, um die Lebensverhältnisse der Antragsteller zu inspizieren, darf es ohne Einwilligung der Betroffenen nicht geben. Dabei stellt sich aber die Frage, welche Konsequenzen es haben kann, wenn jemand seine Einwilligung verweigert. Nach momentaner Rechtslage verletzt er damit seine Mitwirkungspflicht und macht sich erheblich verdächtig. Von Freiwilligkeit kann hier wohl kaum die Rede sein.

Fazit: Der Umgang der Bundesagentur mit sensiblen personenbezogenen Daten ist erschreckend. Die behördliche Neugier macht vor kaum einem Lebensbereich der Millionen von Betroffenen halt. Mit den Erfassungsbögen und der weiteren Datenverarbeitung werden die Persönlichkeitsrechte von Langzeitarbeitslosen ausgehöhlt, sie mutieren zu gläsernen Leistungsempfängern. Die Datenerhebung ist in weiten Teilen rechtlich unzulässig, weil mehr personenbezogene Daten abgefragt werden, als für die Feststellung des Leistungsanspruchs unabdingbar sind. Zwar versicherte die Bundesregierung, nur die erforderlichen Daten würden gespeichert und überflüssige gelöscht (Pressemitteilung vom 24.08.2004). Doch sie hat nicht mitgeteilt, wie sie dafür sorgen will, dass die unzulässig erhobenen Informationen aus den Hunderttausenden von Akten wieder entfernt werden sollen.

Herzlichen Glückwunsch zu diesem datenschutzrechtlichen Desaster der Bundesagentur für Arbeit, Herr Weise!

Laudator.in

Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)
Jahr
Wirtschaft & Verbraucherschutz (2004)

Tchibo

Die Tchibo direct GmbH erhält den BigBrotherAward in der Kategorie "Verbraucherschutz". Sie beteuert in ihren Prospekten und im Internet "Alle persönlichen Daten werden vertraulich behandelt". Tatsächlich aber werden angereicherte Adressen der Tchibo-direct-Kundinnen und -Kunden über die Arvarto / AZ direct auf dem Adressenmarkt angeboten.
Laudator.in:
Frank Rosengart am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Frank Rosengart, Chaos Computer Club (CCC)

Der BigBrotherAward in der Kategorie "Wirtschaft und Verbraucherschutz" geht an die Tchibo direct GmbH für die Weitergabe ihrer Kundendaten an die Vermarktungs-Firma Arvato / AZ Direct.

Dass Tchibo nicht nur Kaffee verkauft, ist nichts Neues. Man bekommt dort auch Unterwäsche, Gartenwerkzeug, Aromakerzen und Nachthemden. Was der normale Kunde aber nicht weiß: Adressen verkauft Tchibo auch. Nur finden man dies weder in den Prospekten noch im Online-Shop: Denn es sind, wie nicht anders zu erwarten, die Adressen der Kundinnen und Kunden, die Tchibo weiterverkauft.

Im Tchibo-Prospekt steht:

"Alle persönlichen Daten werden vertraulich behandelt."

Im Internet steht zusätzlich:

"Die Weitergabe Ihrer im Internet eingegebenen persönlichen Daten an unberechtigte Dritte außerhalb des Unternehmens Tchibo ist grundsätzlich ausgeschlossen."

Tchibo geht also verantwortungsvoll mit den persönlichen Daten der Kunden um, könnte man auf den ersten Blick glauben.

Was tatsächlich mit den Adressen der Kunden geschieht, das verraten die Prospekte der Firma AZ Direct, einem Unternehmen des Bertelsmann Konzerns. AZ Direct verkauft die Tchibo-Kunden-Adressen.

"Sie suchen Postkäufer, die bei ihrer Bestellung auf starke Marken ebenso viel Wert legen wie auf ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis? Sie benötigen Anschriften von Familien, die beim Einkauf auf die Vielfalt und Qualität eines Angebotes achten? Sie brauchen Adressen von Personen, die häufig und spontan Produkte für sich und ihre Familie per Katalog bestellen? Dann ist der Kundenstamm von Tchibo genau richtig für Sie."

AZ Direct GmbH hat genaue Selektionskriterien für die Tchibo-Kunden. Diese umfassen demografische und geografische Angaben genau so, wie Hinweise darauf, ob diese Kunden in einem Einfamilienhaus wohnen oder in einer Wohnung im Mehrparteien-Mietshaus, wie sehr sie dazu neigen, im Versandhandel einzukaufen und wie hoch ihre Kaufkraft ist. Zusätzlich zu den reinen Adressdaten werden also auch eine Reihe weiterer Informationen erfasst, ausgewertet und weitergegeben.

Da fragen wir uns doch, wer dann eigentlich noch die "unberechtigten Dritten" sein sollen? Firmen, die nicht für die Adressen bezahlen?!?

Achja, im Tchibo Prospekt (aber nicht im Internet) steht ganz unten auf der Seite mit der Telefonnummer in kaum noch lesbarer 1 mm großer weißer Schrift: "Gelegentlich geben wir die Anschriften unserer Kunden an Unternehmen weiter, deren Produkte für sie von Interesse sein könnten. Bitte teilen Sie uns mit, falls Sie das nicht möchten."

Abgesehen davon, dass das niemand liest, wird hier nicht einmal die Möglichkeit gegeben, das abzustellen. Es liegt an den Kunden, sich extra bei Tchibo zu melden, um die Adressweitergabe zu untersagen.

Tchibo verletzt mit dieser besonders dreisten Weitergabe der Kundendaten auf grobe Weise die Privatsphäre seiner Kunden. Von "Alle persönlichen Daten werden vertraulich behandelt" kann keine Rede sein, die Verbraucherinnen und Verbraucher werden nicht darüber informiert, was mit ihren Daten geschieht.

Der gläserne Kunde, dessen Lebens- und Konsumgewohnheiten detailliert in hunderten von Datenbanken gespeichert und ausgewertet werden, ist nicht vereinbar mit unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Hier ist der Gesetzgeber gefordert, solchen Auswüchsen Einhalt zu gebieten. Der Entwurf für ein neues Bundesdatenschutzgesetz vermodert längst in den Schubladen des Innenministeriums. Hier muss die rot-grüne Koalition endlich tätig werden!

Herzlichen Glückwunsch, Tchibo direct GmbH!

Laudator.in

Frank Rosengart am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Frank Rosengart, Chaos Computer Club (CCC)
Jahr
Kategorie
Gesundheit & Soziales (2004)

Ulla Schmidt

Ministerin Ulla Schmidt erhält den BigBrotherAward in der Kategorie "Gesundheit und Soziales" für das GKV-Modernisierungsgesetz. Durch die versichertenbezogenen Datenverarbeitung kommt es zu einer massiven Verschlechterung des Datenschutzes für die Patient.innen. Diese datenschutzrechtlichen Risiken hätten durch die Verwendung moderner und datenschutzfreundlicher Technik einschließlich der Pseudonymisierung vermieden werden können. Diese Möglichkeiten sind von ihr nicht berücksichtigt worden.
Laudator.in:
Werner Hülsmann am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2004.
Werner Hülsmann, Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF)

Der BigBrotherAward 2004 in der Kategorie "Gesundheit und Soziales" geht an die Bundesministerin für Gesundheit und soziale Sicherung, Frau Ulla Schmidt, für das Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung GKV-Modernisierungsgesetz (GMG), das am 01. Januar 2004 in Kraft getreten ist.

Ministerin Ulla Schmidt erhält den BigBrotherAward in der Kategorie "Gesundheit und Soziales" für das GKV-Modernisierungsgesetz. Durch die versichertenbezogenen Datenverarbeitung kommt es zu einer massiven Verschlechterung des Datenschutzes für die Patienten. Diese datenschutzrechtlichen Risiken hätten durch die Verwendung moderner und datenschutzfreundlicher Technik einschließlich der Pseudonymisierung vermieden werden können. Diese Möglichkeiten sind von ihr nicht berücksichtigt worden.

In diesem Gesetz wird ein fundamentaler Richtungswechsel bei der Datenverarbeitung durch die Krankenkassen vorgenommen, der zu einer massiven Verschlechterung des Datenschutzes für die Patienten führt. Die Krankenkassen rechnen seitdem die Krankheitskosten nicht mehr anonymisiert und fallbezogen ab, sondern erhalten neben den Rechnungen von Apotheken und Krankenhäusern auch die von sämtlichen ambulanten Behandlungen übermittelt - und zwar personenbezogen! Damit entsteht bei den Krankenkassen ein lückenloses Krankheitsprofil von sämtlichen Mitgliedern.

Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder haben bereits im September 2003 vor folgenden Risiken und Nebenwirkungen gewarnt:

"Für das neue Vergütungssystem werden künftig auch die Abrechnungen der ambulanten Behandlungen mit versichertenbezogener Diagnose an die Krankenkassen übermittelt. Mit der vorgesehenen Neuregelung könnten die Krankenkassen rein tatsächlich umfassende und intime Kenntnisse über 60 Millionen Versicherte erhalten. Die Gefahr gläserner Patientinnen und Patienten rückt damit näher. Diese datenschutzrechtlichen Risiken hätten durch die Verwendung moderner und datenschutzfreundlicher Technologien einschließlich der Pseudonymisierung vermieden werden können. Leider sind diese Möglichkeiten überhaupt nicht berücksichtigt worden.

Ohne strenge Zweckbindungsregelungen könnten die Krankenkassen diese Daten nach den verschiedensten Gesichtspunkten auswerten (z.B. mit data-warehouse-systemen)."

Diese Warnung wurde in den Wind geschlagen, das Gesundheitsmodernisierungsgesetz wurde gemäß den Vorstellungen der Gesundheitsministerin verabschiedet.

Bislang wurde durch die Zwischenschaltung der Kassenärztlichen Vereinigungen bei der Abrechnung erreicht, dass die Kassen keine umfassende Kenntnis über die Krankheiten der einzelnen Mitglieder haben und welche Kosten diese verursachen. Dadurch sollte verhindert werden, dass die Kassen aus rein ökonomischen Gründen in die medizinische Behandlung eingreifen, z.B. durch Vergraulen von "teuren Patienten". Nun erhalten die Krankenkassen von ihren Mitgliedern ein umfassendes Behandlungs- und Medikationsprofil, mit dem sie in den Behandlungsprozess gegenüber Ärzten und Patienten manipulativ eingreifen können, z.B. indem sie die Bezahlung von Gesundheitskosten verweigern und verzögern. Dabei nutzen sie den überarbeiteten WHO-Diagnoseschlüssel, den sog. ICD-10. Dieser Krankheitsschlüssel deckt das gesamte Spektrum der medizinischen und psychologischen Diagnosen ab, ohne dass es darauf ankommt, ob diese Angaben für die Kassen zur Abrechnung nötig sind. Hierzu gehören auch sensible Informationen über die Persönlichkeit und die Lebensumstände der Patientinnen und Patienten, etwa, ob - neben tausenden anderen Kennzeichnungen - jemand ein "gesteigertes sexuelles Verlangen" (Code F52.7) hat oder dem "fetischistischem Transvestitimus" (Code F65.5) nachgeht. Solche Angaben sind für den Arzt oder die Ärztin für eine fachgerechte und umfassende Anamnese u.U. erforderlich. Die Krankenkassen geht dies aber nichts an. Das heißt: Die ärztliche Schweigepflicht wird de facto ausgehebelt.

Krankenkassen wollen ihre Risiken minimieren. Dafür brauchen sie möglichst individuelle Daten ihrer Versicherten, um teure Patienten herauszufiltern. Dieser Datenhunger wird unter dem verfälschenden Begriff "moderner Gesundheit" durch die Gesundheitsministerin immer mehr gefördert. So sorgte sie im Rahmen der Disease Management Programme dafür, dass die Kassen über chronisch Kranke besondere Dokumentationen zur Verfügung gestellt bekommen. Da die Kassen mit diesem umfangreichen Datenmaterial nicht selbst zurecht kommen, erlaubte sie unter Verletzung des Sozialgeheimnisses die Auswertung der sensiblen Daten durch private EDV-Dienstleister evtl. gar im Ausland mit einem niedrigen Datenschutzniveau. Die von der Gesundheitsministerin geplanten zentralen Datenbanken sollen dazu führen, dass den Versicherten jeweils ein "Morbiditätsfaktor" zugewiesen wird, mit dem die individuell in Zukunft erwarteten Krankheiten und damit deren Kosten eingestuft werden. Die Maßnahme ist unter dem Vorwand des Risikostrukturausgleichs zwischen den Kassen eingeführt worden. Diese Gesundheitstaxierung wird zwangsläufig dazu führen, dass eine - von der Zahlungsfähigkeit und der "Morbidität" abhängige - Mehrklassenmedizin eingeführt wird. Zugleich wird den Kassen das Recht eingeräumt, die Patienten in Gesundheitsfragen zu beraten, obwohl für die medizinische Unterstützung eigentlich ein gesonderter "Medizinischer Dienst" zuständig ist.

Vor diesem Hintergrund muss die für Anfang 2006 geplante Einführung der elektronischen Gesundheitskarte mit äußerster Skepsis gesehen werden. Zwar ist bisher noch nicht festgelegt, wer in welcher Form Zugriff auf die über diese Karte erschlossenen Gesundheitsdaten erhält. Doch steht die Gefahr im Raum, dass die Patienten hierüber faktisch gezwungen werden, ihre Behandlungsdaten in noch weiterem Maße auch dann zur Verfügung zu stellen, wenn sie dies nicht wollen. Eine elektronische Gesundheitskarte ist nur bei Einhaltung strenger Datenschutzvorschriften akzeptabel!

Das immer noch gültige Patienten- und das Sozialgeheimnis soll den Versicherten die Gewissheit geben, dass alles, was sie dem Arzt erzählen, vertraulich bleibt und nur für die Behandlung genutzt wird. Mit dem so genannten Gesundheitsmodernisierungsgesetz hat sich die Ministerin von diesem hippokratischen Ideal immer weiter entfernt.

Herzlichen Glückwunsch, Frau Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Falls Sie die Gesundheitskarte wie geplant einführen, halten Sie sich schon mal den 28. Oktober 2005 frei, da werden die nächsten BigBrotherAwards verliehen.

Laudator.in

Werner Hülsmann am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2004.
Werner Hülsmann, Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF)
Jahr

Über die BigBrotherAwards

Spannend, unterhaltsam und gut verständlich wird dieser Datenschutz-Negativpreis an Firmen, Organisationen und Politiker.innen verliehen. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und wurden deshalb von Le Monde „Oscars für Datenkraken“ genannt.

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BigBrotherAwards International

Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden fragwürdige Praktiken mit diesen Preisen ausgezeichnet.