Publikumspreis (2009)

Doppelgewinn für Schäuble

Auch in diesem Jahr haben wir die Tradition fortgesetzt, unser Publikum zu fragen, welcher Preis sie besonders „beeindruckt, erstaunt, erschüttert, empört, ...“ hatte.

Mit gut einem Drittel der abgegebenen Stimmen entschied das Publikum, dass Wolfgang Schäuble nicht nur den Preis in der Kategorie „Lebenswerk“, sondern auch den Publikumspreis redlich verdient hat. Hier ist eine Auswahl der Kommentare, die unser Publikum auf den Wahlzetteln hinterlassen hat.

Lifetime

  • Es wurde Zeit.
  • Er ist einfach unerreicht.
    Und wird hoffentlich unerreichbar bleiben.
  • Hervorragende Laudatio, die uns die Psychologie des Sicherheitswahns näherbringt.
  • Es kann nicht sein, dass Politker unsere Grundrechte einschränken.
  • Art. 1 GG: Die Würde des Menschen ist unantastbar – tot oder lebendig.
  • So viel Konsequenz muss belohnt werden! ;-)

Politik

  • für politische Heuchelei
  • die „Scheinheiligkeit“ ist hier am offensichtlichsten
  • weil der Vorwand zur Überwachung von Daten empörend ist: Schutz vor sexuellem Mißbrauch selbst zum Mißbrauch von Daten zu benutzen
  • Das Gesetz von Zensursula ist so unfassbar kontraproduktiv und unsinnig und maßt sich trotzdem an, gepriesen zu werden!
  • Es ist einfach unmenschlich, unverständlich und erschreckend, dass eine Familienministerin so etwas zulässt!!!

Arbeitswelt

  • Überwachung / Motivation: selbst betroffen
  • betrifft fast alle Menschen, egal ob in Arbeit oder arbeitssuchend

Wirtschaft

  • wenig spektakulär, aber von tiefgreifender Bedeutung
  • Die Wirtschaft hat heute mehr Macht als die Politik und bestimmt die Spielregeln der Gesellschaft. Siehe geplante Einführung der Gesundheitskarte.
  • Wegen der Exportmöglichkeiten in Diktaturen
  • extrem unnütz
  • weil das Thema „Profitieren von Überwachung“ viel zu wenig auftaucht in der Öffentlichkeit

Sport

  • Versuch, alles zu regeln, bloß: wer versucht, alles zu regeln, kriegt irgendwann nichts mehr geregelt (Gödel), es gibt noch Hoffnung.
  • Einschnitte in Art. 5 GG

ungültig

  • alles wichtig

Jahr
Kategorie
Publikumspreis (2017)

Digitale Aufrüstung empört

Auch 2017 haben wir die schöne Tradition fortgesetzt, am Ende der BigBrotherAwards-Gala das Publikum in der Hechelei zu fragen, welcher Preis sie besonders „beeindruckt, erstaunt, erschüttert, empört, …“ hatte. Wie im letzten Jahr haben wir einen klaren Gewinner, allerdings nicht (wie 2016) mit einer absoluten Mehrheit.
Das Publikum während der BBAs 2017.

Aus den sechs Preisen, die zur Auswahl standen, bildete unser Publikum ein Mittelfeld von vier Kategorien, ganz vorne gab es jedoch einen klaren Gewinner: mit einem guten Drittel der Stimmen ging der Preis „Behörden“ ins Ziel, also die Bundeswehr und Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen wegen der massiven digitalen Aufrüstung und den damit verbundenen Gefahren einer Eskalation ohne Kontrolle oder Rechtsgrundlage.

Hier sind einige der Kommentare, die unser Publikum auf den Wahlzetteln hinterlassen hat.

Arbeitswelt

Ich bin für Vertrauen und Respekt. Ausbeutung ist demotivierend. Ich freue mich, MA bei einem Unternehmen zu sein, dem respektvoller Umgang wichtig ist.

Dem Kontrollwahn der Arbeitgeber muss etwas entgegengesetzt werden. Schon jetzt zeichnet sich eine Zweiteilung der Arbeitswelt ab – in ein Dienstleistungsprekariat und deren Management.

Hier war die Wirkung der Datenerfassung am deutlichsten und eindrücklichsten sichtbar. Ganz unübersehbar – auch für Menschen, die sich ansonsten wenig damit befassen.

Wirtschaft

Es ist unglaublich, dass die deutsche Wirtschaft so stark korrumpiert wird!

Bestätigt mal wieder die Macht der Lobby und die Ohnmacht der Bürger gegenüber den gewählten Volksvertretern.

Politik

Meinungsfreiheit ist eins der wichtigsten Grundrechte.

Besonders an dem Beispiel DİTİB wird stark verdeutlicht, wie sehr man persönliche Daten missbrauchen kann.

Wirklich mutig! Hier geht es um Menschenleben! Gegen Bespitzelung und Diktatoren! Weiter so!

Bildung

Bildung ist wichtig für die Gesellschaft. Sie ist keine Ware und steht jedem gleichermaßen und kostenfrei zu. Das Bildungssystem muss frei sein und darf nicht monetarisiert werden.

Behörden

Die Demokratie wird ausgehöhlt und der Frieden leichtfertig gefährdet.

Das aggressive Potential von KdoCIR und die mangelnde demokratische Kontrolle macht die Bundeswehr besonders preiswürdig.

Physische Gefährdung der Menschheit.

Weil es die Kriegsgefahr für uns alle auf dem Planeten erhöht.

Legaler Cyberwar, ein 3. Weltkrieg. Entmündigung der Bürger.

Menschenrechte und Datenschutz gehören zusammen (in allen Kategorien). Die Laudatio hat das sehr gut begründet.

Weil daraus innerhalb kürzester Zeit tödlicher Ernst werden könnte.

Verbraucherschutz

padeluun hat sehr überzeugend vorgetragen und das Thema war super interessant.

(Ohne Stimme)

Mag ich nicht gewichten, ist alles verwerflich. Hinter allem sind Menschen, die umsetzen und damit andere Menschen ausliefern.

Jahr
Kategorie
Tadel & Lob (2017)

Tadelnde Erwähnungen

Auch in diesem Jahr hat es mehr Nominierungen gegeben, als es Preisträger geben kann. Einige dieser Nominierten haben sich zumindest einen Tadel verdient.

Öffentlich-rechtliche Medien

Ein Hoch auf die kritische Berichterstattung! In Politik- oder Verbraucher-Sendungen warnen die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten immer mal wieder vor Facebook & Co. Nur bei der Konsequenz hapert es. Kaum eine Sendung, die Publikumsbeteiligung vorgaukeln will, die Facebook außen vor lässt. „Posten Sie uns ihre Fotos“, wird mehrmals täglich aufgerufen, oder besonders pointierte Kommentare aus den sozialen Medien werden vorgelesen oder eingeblendet, um Sendezeit zu füllen. Man hat das Gefühl, dass die Sendeanstalten den Bildungsauftrag so auslegen, dass man die Menschen zwar „abholen“, aber nirgendwo hinbringen will. Ihnen sei der Text von Digitalcourage zum Umgang mit Facebook empfohlen: https://digitalcourage.de/themen/facebook/facebook-eine-grundsatzentscheidung

Unberechtigte Ausweiskopien

Nur wenige Unternehmen sind berechtigt, amtliche Personalausweise zu kopieren oder sich überhaupt zeigen zu lassen. Banken gehören dazu und z.B. SIM-Karten-Verkäufer. Dennoch werden Menschen heute von Unternehmen und Vermietern oder der Deutschen Bahn vielfach aufgefordert, sich amtlich auszuweisen, ja, gar Ausweise einzuscannen und per E-Mail zu versenden. Das ist aus gutem Grund verboten: Denn auf dem Ausweis steht gut lesbar das Passwort, mit dem die elektronischen Features der Ausweise zu nutzen sind. Und die möchte man sicherlich nicht jedem in die Hand geben.

Digitalcourage empfiehlt, sich einen nichtamtlichen Lichtbildausweis ausstellen zu lassen. Dort kann man sogar selbst die Daten wählen, die darauf stehen sollen: https://shop.digitalcourage.de/lichtbildausweis-mit-selbst-gewaehlten-daten.html

BlaBlaCar und Immobilienscout24

Viele Internet- und Onlineanwendungen, Apps und Portale vermitteln zwischen Angebot und Nachfrage, z.B. Mitfahrzentralen und Immobilienanbieter. Die Kontaktaufnahme funktioniert, wenn man sich angemeldet hat, über den Dienst-internen Nachrichtenserver. Wenn man sich aber z.B. als potentieller Mitfahrer nach einer ersten Kontaktaufnahme direkt mit der Fahrerin zum Klären von notwendigen Details vor dem Vertragsabschluss verabreden will und z.B. dafür die Handynummer austauschen will, erlebt man eine Überraschung: Die Nachrichten werden vom Vermittlungsportal gelöscht und nicht weiter gegeben. Kommunikation ist nur über den Firmenserver erlaubt. Denn die Vermittler-Firmen befürchten, sonst umgangen zu werden und ihre Provisionen zu verlieren. Dieses Misstrauen in die Ehrlichkeit der Kundinnen und Kunden ist zumindest sehr lästig und ärgerlich, wenn nicht sogar ein Verstoß gegen das Fernmeldegesetz. Das hat auf jeden Fall schon mal einen Tadel verdient.

Richtig schlitzohrig aber geht die Firma BlaBlaCar vor: Um das Fernmeldegesetz zum umgehen, veröffentlicht die Firma alle ihnen genehmen Nachrichten etwas versteckt öffentlich auf ihrer Webseite. Damit gibt es offiziell keine „privaten Nachrichten“ bei BlaBlaCar. Ob diese Finte nun wieder rechtlich zulässig ist, möchten wir ebenfalls sehr stark bezweifeln.

Bundesnachrichtendienst (BND) - Update Mai 2017

Kein Tadel, sondern ein Update zum Preis von 2015: Der Bundesnachrichtendienst möchte gemäß einer von Netzpolitik.org veröffentlichten Projektplanung 150 Mio. Euro von der Politik einwerben, um die Inhalte digitaler Kommunikation knacken und mitlesen zu können. Insbesondere nimmt der BND dabei die allgemein beliebten Messengerdienste, die inzwischen oft Ende-zu-Ende verschlüsselt sind, ins Visier. Dieser Angriff auf Verschlüsselung als Selbstschutz der Nutzerinnen und Nutzer wird flankiert durch weitere Initiativen der Bundesregierung, mit denen das Grundrecht auf vertrauliche Kommunikation gebrochen werden soll. Dabei steht ZITIS, die „Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich“ im Vordergrund. Sie bekommt allein im Jahr 2017 für die „Forschung und Entwicklung neuer Methoden, Produkte und Strategien“ zur Beobachtung der Digitalkommunikation der Bevölkerung 12,5 Mio. €.

Tadelnde Erwähnung: Die Europäische Kommission

Die Europäische Kommission und der Rat der Europäischen Union haben eine 5. Geldwäsche-Richtlinie vorgeschlagen, mit der das anonyme Bezahlen im Internet völlig verboten und das anonyme Zahlen mit eCash in der Offline-Welt auf 150 € beschränkt werden soll. Zugleich soll eine Infrastruktur aufgebaut werden, mit der Finanzdienstleister effektiv dazu gebracht werden können, finanzielle Transaktionen gegenüber Sicherheitsbehörden individuell offenzulegen. Zu dieser „Offensive“ gehören auch politische Bestrebungen, die Nutzung des anonymen Bargeldes selbst für den privaten Konsum zurückzudrängen. Das Netzwerk Datenschutzexpertise kommt in einem Gutachten zu dem Ergebnis, dass die geplante 5. Geldwäsche-Richtlinie einen ähnlich verfassungswidrigen Überwachungseffekt hätte, wie die vom Bundesverfassungsgericht und vom Europäischen Gerichtshof aufgehobenen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten.

Tadel WhatsApp

„Du stellst uns regelmäßig die Telefonnummern von WhatsApp-Nutzern und deinen sonstigen Kontakten in deinem Mobiltelefon-Adressbuch zur Verfügung. Du bestätigst, dass du autorisiert bist, uns solche Telefonnummern zur Verfügung zu stellen, damit wir unsere Dienste anbieten können.“

So steht das im Kleingedruckten (AGB) von WhatsApp (Stand Mai 2017). Damit holt sich der Messenger-Dienst die Einwilligung der Nutzer, alle Kontakte aller Nutzer miteinander abzugleichen und gegebenenfalls noch-nicht-Kunden zu bekehren.

Der Hamburgische Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar hat deutliche Zweifel, ob eine solche Klausel in den AGBs zulässig ist, weil es wohl praxisfern ist, dass ein Nutzer tatsächlich alle Kontakte vorher um Erlaubnis gefragt hat.

Wir haben auch unsere Zweifel und finden es darüber hinaus eine Sauerei.

Tadel WordPress / Google Fonts

Wenn wir eine Internetseite aufrufen, kommt sie so gut wie nie nur von einem Anbieter. Wir surfen eine Netzadresse an und ohne dass wir es merken, werden verschiedene Inhalten von verschiedenen Servern geladen: Texte und Fotos vielleicht vom Anbieter der Seite, Werbung von verschiedenen Werbe-Servern, Videos von Youtube oder Schriftarten von Google. Genauer gesagt sind es die Beschreibungsdateien von Schriftarten, die von Google geladen werden, die sogenannten „Google Fonts“. Dabei entstehen auch Verbindungsdaten – mindestens unsere IP-Adresse verbleibt beim fremden Server. Google weiß also, dass wir bestimmte Schriften über eine bestimmte Seite geladen habe. Aber Google wird mit den Daten schon nichts, Böses tun. Oder? (Siehe Laudatio zum BigBrotherAward 2013 für Google https://bigbrotherawards.de/2013/globales-datensammeln-google)

Wir finden es nicht in Ordnung, dass in der Standardinstallation des beliebten Blogger-Systems WORDPRESS Schriften installiert werden, die direkt von Google-Servern heruntergeladen werden. Ob eine solche automatische Nachladung überhaupt zulässig ist, bedürfte einer gerichtlichen Klärung, schließlich wird der Nutzer ja quasi „betrogen“. Zumindest wird auf den meisten Seiten nicht über dieses Datenschutzrisiko informiert - und selbst wenn, dann wäre es auch schon zu spät.

Jahr
Kategorie
Bildung (2017)

Technische Universität München (TUM) und Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU)

Die Technische Universität München und die Ludwig-Maximilians-Universität München erhalten den BigBrotherAward 2017 in der Kategorie Bildung für die Kooperation mit dem Online-Kurs-Anbieter Coursera. Coursera als Wirtschaftsunternehmen verfügt mit den Daten über den Lernerfolg der Studierenden über einen großen Datenschatz und behält sich vor, diesen auch wirtschaftlich zu nutzen.
Laudator.in:
Frank Rosengart am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Frank Rosengart, Chaos Computer Club (CCC)

Der BigBrotherAward 2017 in der Kategorie Bildung geht an die TU München und die Ludwig-Maximilians-Universität München, vertreten durch Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang A. Herrmann und Prof. Dr. rer. pol. Bernd Huber, für die Kooperation mit dem Online-Kurs-Anbieter Coursera.

Die Idee klingt grundsätzlich verlockend: Eine Professorin oder ein Dozent hält eine Vorlesung an der Uni. Diese Vorlesung zeichnet man „nebenbei“ auf Video auf und bietet das Ergebnis interessierten Studierenden weltweit an. Diese können damit Vorlesungen hören und sehen, die an ihrem Studienort oder in ihrem Land nicht angeboten werden. „Massive Open Online Course“, kurz MOOC, heißt diese Form von Bildungsglobalisierung. Die Firma Coursera aus den USA ist unbestrittener Weltmarktführer1 unter den Anbietern von Online-Kursen.

Eine Firma? Ja, genau, es geht dabei ums Geldverdienen. Der Abruf der meisten Vorlesungsmaterialien ist kostenlos, wenn man sich erst mal mit seinen persönlichen Daten eingeloggt hat. Bezahlen muss ein Student üblicherweise, wenn er sich die Teilnahme offiziell bestätigen lassen möchte, um sich bei seiner Uni den Besuch des Kurses für sein Studium anrechnen zu lassen. Doch lässt sich damit das große Geld verdienen?

Dazu werfen wir einen Blick in den Vertrag zwischen Coursera und – zum Beispiel – der Universität Michigan: Unter dem Kapitel „Ausblick – Monetarisierung“ findet sich ein Absatz, der vorsieht, dass Coursera Firmen anbieten darf, Studierende nach bestimmten Kursen und Lernerfolgen zu filtern und diese gezielt anzusprechen. Für Firmen oder Personalagenturen eine bequeme Möglichkeit, mit potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten für Top-Jobs zu finden und mit ihnen in Kontakt zu treten. Selbstverständlich nicht kostenlos.

Nun lässt sich bereits erahnen, welchen Datenschatz sich Coursera mit Hilfe der Hochschulen hier aufbauen kann: Die Tatsache, an welchem Kurs jemand teilnimmt und wie gut und schnell er oder sie die Prüfung dazu ablegt, sind äußerst interessante Informationen.

Aber nicht nur für Firmen ist Coursera ein Datenschatz: Die Daten der Studierenden werden in den USA gespeichert und verarbeitet. Damit dürften sie auch dem Zugriff durch US-Behörden ausgesetzt sein und können zum Beispiel Auswirkungen auf Einreisegenehmigungen usw. haben. Wie offen und transparent Coursera im Umgang mit den Daten und entsprechenden kritischen Nachfragen dazu ist, durfte ein Schweizer Professor erfahren, der versucht hat, bei Coursera eine Information über die von ihm und seinen Teilnehmern gespeicherten Daten zu bekommen: Er und sein Kurs wurde von der Online-Uni rigoros gesperrt.

Die Münchener Universitäten, die heute den BigBrotherAward bekommen, haben eine Kooperationsvereinbarung mit Coursera geschlossen. Ausgesuchte Vorlesungen werden von den Unis für die Online-Präsentation produziert und bei Coursera eingestellt. Studierende können Online-Kurse besuchen und damit Leistungspunkte für ihr Studium erwerben.

Wir bewerten die Kooperation der Münchner Hochschulen mit Coursera vor allem als eine Marketingmaßnahme. Die Hochschulen können sich dort weltweit präsentieren und stehen damit in einer Reihe internationaler Elite-Unis. Allerdings schmückt sich Coursera auch mit deren Namen.

Die Datenschutz-Problematik scheint dabei ausgeblendet zu sein. Ebenso wie eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, wem die produzierten Inhalte gehören und wem mögliche Einnahmen zugutekommen.

Noch ist das Kursangebot über Coursera übrigens freiwillig für die Studierenden – dieser BigBrotherAward soll eine Warnung an die Hochschulen sein, Online-Kurse bei datenschutztechnisch zweifelhaften Anbietern nicht zum Pflichtangebot für den Scheinerwerb zu machen.

Es ist eigentlich schlimm genug, wenn Bildung zum Wirtschaftsgut verkommt, indem öffentlich finanzierte Hochschulen ihr Angebot über kommerzielle Anbieter verbreiten. Falls es keine geeignete europäische Plattform für das Angebot von MOOC gibt, wäre es eine Sache der Unis, eine solche Plattform aufzubauen.

Mit der Verleihung des BigBrotherAwards an die TUM und die LMU möchten wir die beiden Universitäten und auch alle anderen Bildungseinrichtungen daran erinnern, dass das langfristige Geschäftsmodell von solchen „Bildungsanbietern“ daraus besteht, dass die Studierenden durch die Verträge von Coursera nicht die „Kunden“ des Online-Bildungsangebotes sind, sondern das Produkt, das verkauft wird.

Herzlichen Glückwunsch an die Technische Universität und die Ludwig-Maximilians-Universität München zum BigBrotherAward 2017.

Laudator.in

Frank Rosengart am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Frank Rosengart, Chaos Computer Club (CCC)
Quellen (nur eintragen sofern nicht via [fn] im Text vorhanden, s.u.)
Jahr
Kategorie
Politik (2017)

Türkisch-islamische Union DİTİB

Die türkisch-islamische Union DİTİB erhält den BigBrotherAward 2017 in der Kategorie Politik dafür, dass ihre Imame für türkische Behörden und für den Geheimdienst MİT ihre Mitglieder und Besucher politisch ausspioniert, denunziert und sie so der Verfolgung durch türkisch-staatliche Stellen ausgeliefert haben.
Laudator.in:
Dr. Thilo Weichert am Redner.innepult der BigBrotherAwards 2021.
Dr. Thilo Weichert, DVD, Netzwerk Datenschutzexpertise
Das Logo der DİTİB. Darunter eine Grafik mit einem Schlüsselloch, darin ein Auge.

EnglishTürkçe

Der BigBrotherAward 2017 in der Kategorie Politik geht an die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V., kurz DİTİB, vertreten durch den DİTİB-Generalsekretär Dr. Bekir Alboğa, weil bei der DİTİB tätige Imame für türkische Behörden und den Geheimdienst MİT ihre Mitglieder und Besucher ausgehorcht und sie so der Verfolgung durch türkisch-staatliche Stellen ausgeliefert haben sollen.

Dieser BigBrotherAward ist etwas Besonderes. Denn er richtet sich diesmal nicht – wie Sie es von uns gewohnt sind – gegen eine Datenkrake, die erst durch die digitale Welt möglich wurde und technischer Voraussetzungen bedarf. Nein, hier geht es um handfestes Bespitzeln, um das Ausnutzen menschlicher Kontakte von Angesicht zu Angesicht, und das im Rahmen einer religiösen Gemeinschaft.

Religionsausübung, freie Meinungsäußerung und soziales Leben, „Real Life“, wie es heute heißt – mit der Spionage durch DİTİB-Imame sind elementare Grund- und Menschenrechte in Deutschland missbraucht worden, um dem Wunsch einer Regierungsbehörde in der Türkei nachzukommen.

Was ist passiert?

Im Dezember 2016 veröffentlichte die regierungskritische türkische Zeitung „Cumhuriyet“ Dokumente, die belegen, dass Imame des in Deutschland eingetragenen Vereins DİTİB Informationen über ihre Mitglieder und Besucher gesammelt und an türkische Behörden weitergegeben haben. Im Mittelpunkt des Interesses standen dabei vermutete Anhänger des Predigers Fethullah Gülen. Die türkische Regierung wirft der Gülen-Bewegung vor, für den militärischen Putschversuch im Juli 2016 in der Türkei verantwortlich zu sein. Nachweise hierfür wurden bisher nicht vorgelegt.

In den Spitzelberichten der Imame werden detaillierte Informationen über vermeintliche Gülen-Anhänger gegeben, z. B. mit Details über deren Moscheebesuche sowie auch zu deren Verbindung in der Türkei. Eine Nachhilfeeinrichtung für Kinder wurde in den Spitzelberichten als „Hort des Bösen“ beschrieben. Gemäß einem Bericht des Landesamtes für Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen sind von den Denunziationen mindestens auch fünf Lehrkräfte mit deutscher Staatsangehörigkeit betroffen. Die ausspionierten Menschen, die über diese Erkenntnisse von deutschen Stellen informiert wurden, dementierten, mit Gülen zu sympathisieren.

Die für DİTİB tätigen Imame sind türkische Staatsbeamte und der türkischen Religionsbehörde Diyanet unterstellt. Ihre Spitzelberichte gehen auf eine Aufforderung der Diyanet an die Botschaften und Generalkonsulate vom September 2016 zurück. Aus den Berichten kann aber geschlossen werden, dass die Spitzelei durch DİTİB für türkische Behörden schon seit längerer Zeit stattfindet.

Nach der Veröffentlichung durch „Cumhuriyet“ im Dezember 2016 erhob der grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck umgehend Anzeige bei der Generalbundesanwaltschaft wegen Spionageverdachts gemäß § 99 StGB (Geheimdienstliche Agententätigkeit). Erst Wochen später wurden Ermittlungen eingeleitet. Eine polizeiliche Durchsuchung in den Wohnungen von vier Imamen erfolgte erst am 15. Februar 2017, nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel von ihrem Türkeibesuch zurückgekehrt war. Inzwischen hatten sich sechs stark Verdächtige der damals insgesamt 16 von der Bundesanwaltschaft Beschuldigten auf Direktive von Diyanet zurück in die Türkei begeben.

DİTİB sprach nach Bekanntwerden der Spitzelberichte zunächst empört von Unterstellungen. Wenig später erklärte der DİTİB-Generalsekretär Bekir Alboğa, die „schwerwiegenden Vorwürfe“ würden „sauber und transparent“ untersucht. Er räumte ein, es habe zwar Berichte gegeben, was aber eine auf einem „Missverständnis“ beruhende „Panne“ gewesen sei. Wiederum wenig später dementierte Alboğa, die Spitzeleien bestätigt zu haben.

In ihren spärlichen Pressemitteilungen zum Thema betont die DİTİB immer wieder, dass es sich um Privat-Aktivitäten von Imamen der Diyanet gehandelt habe und es keinerlei organisatorische Mitwirkung der DİTİB gegeben habe. Verantwortung für das, was in ihren Räumlichkeiten, unter ihrem Dach passiert ist, übernimmt sie nicht. Ein Bedauern oder ein Verurteilen von Spionage-Aktivitäten in DİTİB-Moscheen liegt uns ebenfalls nicht vor.

Der Präsident der Religionsbehörde Diyanet, Mehmet Görmez, erklärte: „Es gibt keine Spionagetätigkeit“. Die zurückbeorderten Imame hätten zwar ihre Kompetenzen überschritten, sich aber nicht strafbar gemacht. Er sei „sehr traurig“ darüber, dass die Bemühungen, die Moscheegemeinde in Deutschland zu schützen, als Spionagetätigkeit bezeichnet werden. DİTİB arbeite seit Jahrzehnten auf der „Grundlage des Rechts“. Für ihn sei nicht vorstellbar, dass der Moscheeverein Recht ignoriere. Die DİTİB erklärte die Affäre für intern aufgeklärt.

Der türkische Justizminister Bekir Bozdağ verurteilte derweil die polizeilichen Durchsuchungen bei den Imamen als „klaren Verstoß gegen internationale Abkommen und die deutsche Verfassung“, in der die Religions- und Glaubensfreiheit festgeschrieben sei.

Die Spitzelberichte der Imame sind Bestandteil einer umfassenderen geheimdienstlichen Ausforschung durch die Türkei und insbesondere des dortigen Geheimdienstes MİT, der in Deutschland, so ein namentlich nicht genannter „einflussreicher Sicherheitspolitiker“ in der „Welt am Sonntag“, ca. 6.000 Informanten beschäftigt. Die deutschen Sicherheitsbehörden gehen demgemäß davon aus, dass in Deutschland rund 150 MİT-Mitarbeiter an der türkischen Botschaft und an den Konsulaten arbeiten. Gemäß der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sollen in Nordrhein-Westfalen türkische Schülerinnen und Schüler gar aufgefordert worden sein, regierungskritische Äußerungen ihrer Lehrer heimlich zu filmen und an die Generalkonsulate weiterzumelden.

Ziel der MİT-Aktivitäten ist die Überwachung der Türkinnen und Türken in Deutschland, deren Beeinflussung pro Erdoğan, die Einschüchterung und Isolierung von Regierungsgegnern sowie die Einflussnahme auf die deutschen Behörden und auf die hier bestehende öffentliche Meinung. In Deutschland ausspionierte vermeintliche Regimegegner haben im Fall einer Reise in die Türkei eine Verhaftung, Strafverfahren und entwürdigende Behandlung, evtl. gar Folter zu befürchten. Angehörigen in der Türkei drohen Repressalien. Und auch bundesdeutsche Politikerinnen und Politiker wie Cem Özdemir von den Grünen, Michelle Müntefering von der SPD oder Emine Demirbüken-Wegner von der CDU stehen unter Beobachtung des MİT wegen angeblicher Sympathie für die Gülen-Bewegung.

Die deutschen Behörden nehmen Rücksicht auf die Befindlichkeiten der türkischen Regierung, nicht zuletzt, um das ausgehandelte Flüchtlingsabkommen, mit dem die sogenannte „Balkanroute“ blockiert werden soll, nicht zu gefährden. Auch die DİTİB wird geschont, um den Gesprächsfaden mit den Islamverbänden in Deutschland aufrecht zu halten. Dessen ungeachtet haben die Generalbundesanwaltschaft und die Polizei Ermittlungen aufgenommen und erste Schritte zur Verfolgung der Verletzungen der Rechte der ausspionierten Menschen und zu deren Schutz ergriffen.

Von den deutschen Behörden werden hier aber – das ist offensichtlich – vorrangig diplomatische Interessen verfolgt. Diese hochpolitischen Interessen dürfen nicht dazu führen, dass die schutzwürdigen Persönlichkeits- und Menschenrechte der einzelnen, ausspionierten Moscheebesucherinnen und -besucher geopfert werden.

Es ist fatal, wenn Menschen durch ein Ausspionieren an der Ausübung ihrer Religion gehindert werden. DİTİB darf ihre Spitzel-Affäre nicht für beendet erklären, muss die internen Vorgänge transparent machen und sich der öffentlichen Kritik stellen.

Wir machen es uns aber zu einfach, wenn wir nur Forderungen an DİTİB stellen. Auch der deutsche Staat und die deutsche Gesellschaft müssen sich bewegen und den Weg für eine freie islamische Religionsausübung ebnen – z.B. durch die Förderung politisch unabhängiger islamischer Religionsgemeinschaften.

Eine Umkehr und Aufarbeitung bei DİTİB ist nur möglich, wenn sich die türkisch-islamische Union von der Abhängigkeit und der Einflussnahme durch türkische Behörden wie der Diyanet befreit. Hiervon müssen auch die deutschen Stellen abhängig machen, ob sie die DİTİB weiterhin als Ansprechpartnerin akzeptieren. Zugleich müssen alle Spionageaktivitäten, auch wenn sie unter dem Dach von religiösen Organisationen erfolgen, vollständig aufgeklärt und vor allem auch strafrechtlich, nicht nur organisationsintern verfolgt und ohne diplomatische Rücksicht angeklagt werden. Inzwischen gibt es zwanzig konkrete strafrechtliche Ermittlungsverfahren. Spionage verstößt gegen deutsches Strafrecht und ist keine „interne Angelegenheit“.

Informationelle Grundrechte gelten nicht nur für Deutsche, sondern für alle. Diese müssen sich in Deutschland angstfrei friedlich religiös und politisch betätigen können.

Dass sie dies nicht können, dafür gebührt der DİTİB der BigBrotherAward des Jahres 2017 in der Kategorie Politik. Herzlichen Glückwunsch!

Laudator.in

Dr. Thilo Weichert am Redner.innepult der BigBrotherAwards 2021.
Dr. Thilo Weichert, DVD, Netzwerk Datenschutzexpertise
Jahr
Kategorie
Behörden & Verwaltung (2017)

Bundeswehr und Bundesministerin für Verteidigung Dr. Ursula von der Leyen

Bundeswehr und Bundesministerin für Verteidigung erhalten den BigBrotherAward 2017 in der Kategorie Behörden für die massive digitale Aufrüstung der Bundeswehr mit dem neuen „Kommando Cyber- und Informationsraum“ (KdoCIR). Diese digitale Kampftruppe mit (geplant) fast 14.000 Dienstkräften wird die Bundeswehr fit machen für den Cyberkrieg – auch für militärische Cyberan­griffe auf IT-Systeme und kritische Infrastrukturen anderer Staaten. Mit dieser Militarisierung des Internets beteiligt sich die Bundesrepu­blik am globalen Cyber-Wett­rüsten – ohne Parlamentsbeteiligung, ohne demokratische Kon­trolle und ohne ­rechtliche Grund­lage.
Laudator.in:
Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)
Logo des „Bundesministeriums der Verteidigung“. Rechts daneben ein Werbeplakat der Bundeswehr mit der Aufschrift: „Deutschlands Freiheit wird auch im Cyberraum verteidigt.“ Freiheit wurde händisch mit rot durchgestrichen und Militarisierung dazu geschrieben.

Der BigBrotherAward 2017 in der Kategorie Behörden geht an die Bundeswehr und die Bundesministerin für Verteidigung, Dr. Ursula von der Leyen (CDU), als deren Oberbefehlshaberin.

Mit dieser Auszeichnung wagen wir uns erstmals in der 17jährigen Geschichte des BigBrotherAwards auf militärisches Terrain beziehungsweise Sperrgebiet. Wohingegen Frau von der Leyen schon einschlägig aufgefallen ist - schließlich haben wir sie bereits 2009 in ihrer damaligen Funktion als Familienministerin mit dem Negativpreis bedacht; wir erinnern uns: als „Zensursula“ wegen ihrer Vorstöße zur Inhaltskontrolle und Sperrung von Webseiten. Doch was haben die Verteidigungsministerin und das Militär mit Überwachung, Zensur, überhaupt mit Datensünden zu tun? Weshalb soll ausgerechnet die Bundeswehr mit ihren Panzern, Bomben und Granaten eine auszeichnungswürdige Datenkrake sein – die in jüngerer Zeit eher durch Neonazi-Umtriebe, Gewaltexzesse, Misshandlungen, sexuelle Übergriffe, Mobbing und einen ausgeprägten Korpsgeist aufgefallen ist?

Nun, die heutige Verleihung erfolgt für die massive digitale Aufrüstung der Bundeswehr mit dem neuen „Kommando Cyber- und Informationsraum“ (KdoCIR) - das heißt im Klartext: für die Aufstellung einer kompletten digitalen Kampftruppe mit (geplant) fast 14.000 Dienstkräften, mit eigenem Wappen, Verbandsabzeichen und Fahne - selbst ein Cyber-Marsch wurde eigens für diese Truppe komponiert, die Frau von der Leyen just vor einem Monat (am 5.04.2017) in Bonn in Dienst gestellt hat. Schon bislang existierte eine kleine, geheim agierende IT-Einheit in Rheinbach bei Bonn („Computer Netzwerk Operationen“) mit etwa 70 bis 80 Soldaten, die für operative Maßnahmen zuständig ist. Diese Einheit wird nun mit weiteren IT-Einheiten der Bundeswehr, etwa dem Kommando Strategische Aufklärung, in der neuen Cyber-Kampftruppe verschmolzen und zentralisiert. Weitere dringend benötigte IT-Fach­leute versucht die Bundeswehr mithilfe großer Werbekampagnen anzu­heuern.

Mit dieser digitalen Aufrüstung wird - neben Land, Luft, Wasser und Weltraum - ein fünftes Schlachtfeld, das sogenannte "Schlachtfeld der Zukunft" eröffnet und der Cyberraum - man kann auch sagen: das Internet - zum potentiellen Kriegsgebiet erklärt. Mit der Befähigung der Bundeswehr zum Cyberkrieg beteiligt sich die Bundesrepu­blik am globalen Wett­rüsten im Cyberspace – und zwar weitgehend ohne Parlamentsbeteiligung, ohne demokratische Kon­trolle, ohne ­recht­liche Grund­lage.

Das klingt zwar ziemlich beunruhigend, bleibt aber eher abstrakt. Was hat all das mit uns zu tun? Was müssen wir befürchten? Wo sind die Betroffenen? Berechtigte Fragen, aber sie greifen zu kurz. Denn nicht alles, was wir hierzulande nicht unmittelbar spüren und erleiden, ist problem- oder harmlos. Schließlich gelten Grund- und Menschenrechte auch für Menschen in anderen Ländern, die sehr wohl betroffen sein können – ganz abgesehen vom Eskalationspotential dieser digitalen Aufrüstung, das auf uns zurückschlagen kann; und ganz abgesehen auch von ungelösten völkerrechtlichen Problemen.

Selbstverständlich ist es legitim, wenn die Bundeswehr geeignete Schutzmaßnahmen ergreift, um sich gegen Cyberattacken von außen zu wehren, die gegen ihre eigene Militär-IT gerichtet sind - angeblich sind das Zigtausende pro Tag (2016: über 47 Mio. IT-Angriffe auf die Bundeswehr)1. Doch das Bundesverteidigungsministerium gibt sich damit nicht zufrieden. Im Gegenteil: Es erhebt den - unseres Erachtens nach rechtsstaatswidrigen - Anspruch auf kooperative Zuständigkeit der Bun­deswehr für die – so wörtlich - „gesamtstaatliche Sicherheitsvorsorge“ und Abwehr von Cyber-Angriffen. Also auch zum Schutz anderer staatlicher, kommunaler und ziviler Netzwerke im Innern des Landes, für den in Friedenszeiten jedoch ausschließlich Polizei, Geheimdienste und Justiz zuständig sind sowie speziell das Bundesamt für Si­cher­heit in der Informationstechnik (BSI) und das Nationale Cyber-Ab­wehr­zentrum, in dem alle Sicherheitsorgane zusammenwirken. Bundeswehr­einsätze im Innern zum Schutz nichtmilitärischer IT-Systeme vor Cyber-Attacken sind insoweit weder verfassungsgemäß noch erforderlich.

Doch es kommt noch härter: Denn die Bundeswehr soll mit ihrer verharmlosend "Cyber- und Informationsraum" genannten Cyber-Kampftruppe nicht nur abwehren können - Ihre dort beschäftigten Cyberkämpfer sollen darüber hinaus bereits im Vorfeld in fremde IT-Systeme eindringen und diese ausforschen können sowie zu eigenen Cyberangriffen auf andere Staaten und deren Infrastruktur befähigt werden. Im Klartext: also zum Führen von Cyberkriegen - im Übrigen auch als Begleitmaßnahmen zu konventionellen Kriegs­einsätzen der Bundeswehr im Ausland, etwa in Afghanistan oder Mali. So sieht es die geheime Strategische Leitlinie Cyber-Vertei­digung des Verteidigungsministeriums (2015) vor und auch das „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr 2016“. Das bedeutet: Die Bundeswehr soll eigene Cyberwaffen entwickeln, um getarnt in fremde IT-Systeme einbrechen, diese über Sicherheitslücken, Trojaner, Viren etc. ausspähen, manipulieren, fehlsteuern, lahm­legen, schädigen oder zerstören zu können.

Doch selbst wenn es sich dabei nicht um eigene völkerrechtswidrige kriegerische Angriffe handelt, sondern um Cybergewalt zur Selbstverteidigung gegen Militärattacken von außen, dann wäre das zwar völkerrechtlich prinzipiell zulässig, doch höchst riskant. Warum? Weil davon nicht allein militärische Ziele betroffen wären, sondern – zumindest als „Kollateralschäden“ - auch zivile Infrastrukturen. Denn auch Cyberan­griffe, die nur auf militärische Ziele gerichtet sind, können rasch zum Flächenbrand führen, sobald sie sich auf kritische zivile Infrastrukturen ausbreiten, diese lahmlegen oder gar zerstören. Digitale Waffen sind in einer vernetzten Welt keineswegs Präzisionswaffen und die Streuwirkung kann immens sein. Und das mit gravierenden, ja lebensbedrohlichen Folgen für die Zivilbevölkerung, wenn die Gegenattacken etwa zu lang andauernden Ausfällen der Strom- und Wasserversorgung oder des Krankenhaus-, Gesundheits- oder Verkehrswesen führen. Dies wäre ein Verstoß gegen das Humanitäre Völkerrecht.

Zusätzlich zu solchen Auswirkungen von Cyberangriffen kommen noch weitere, kaum zu lösende Probleme und Gefahren einer Militarisierung des Internets hinzu:

Erstens besteht die große Gefahr, dass es aufgrund von Fehlinterpretationen bei der Frage, ob es sich bei einem Cyberangriff um eine kriegerische oder um eine nichtmilitärische, etwa kriminelle Attacke handelt, zu vorschnellen militärischen Selbstverteidigungsschlä­gen kommt - und damit zu einer gefährlichen und folgenschweren Eskalation. Derzeit ist im Völkerrecht nicht klar und verbindlich definiert, wann ein Cyberangriff als kriegerische Angriffshandlung zu gelten hat. Nach derzeit noch vorherrschender Auffassung2 unter Völkerrechtlern liegt ein solcher Angriff jedoch nur dann vor, wenn die zerstörerischen Auswirkungen mit denen konventioneller Waffengewalt vergleichbar sind – also wenn eine solche Online-Attacke etwa Züge entgleisen, Flugzeuge abstürzen, Kraftwerke explodieren lässt und Menschen verletzt werden oder umkommen. Doch NATO wie Bundeswehr behalten sich ausdrücklich vor, im Einzelfall zu entscheiden, ab wann es sich um einen solchen kriegerischen Angriff handelt und wie darauf reagiert wird – warum das so ist, verrät ein Oberstleutnant im Verteidigungsministerium3: „weil wir hier auch ein Stück weit unberechenbar bleiben wollen und müssen“. Diese Unberechenbarkeit hinsichtlich Anlass und Art eines Gegenschlags diene letztlich auch der Abschreckung, so die NATO-Philosophie.

Zweitens: Im Cyberkrieg gibt es keine Armeen, die sich gegen­überstehen und keine Soldaten in Uniform. Stattdessen kommen etwa Viren, Würmer oder Trojaner verdeckt und häufig auf Umwegen zum Einsatz - also Software, die keine Uniform oder Staatsabzeichen trägt. Dabei lassen sich Datenspuren leicht manipulieren, verdecken oder anderen in die Schuhe schieben – um etwa unter falscher Flagge Konflikte zu schüren oder Kriegsgründe zu fingieren. So ist nicht nur schwer herauszufinden, ob es sich bei IT-Angriffen um zivil-kriminelle und wirtschaftliche oder um geheimdienstliche und militärische Operationen handelt. Der angegriffene Staat hat außerdem das Problem, die wahren Urheber zweifelsfrei zu identifizieren, um überhaupt rechtmäßig, angemessen und zielgenau reagieren zu können. Die Beweisführung ist in aller Regel äußerst schwierig. Der Internationale Gerichtshof verlangt jedoch eine klare Beweislage, denn es gibt kein Recht auf militärische Selbstverteidigung ins Blaue hinein oder aufgrund bloßer Indizien; ein Gegenschlag ohne klar identifizierbaren Aggressor ist jedenfalls völkerrechtswidrig.

Und drittens: Diese Probleme werden noch verschärft durch eine gefährliche Rechtsauslegung im „Tallinn Manual“ – einem NATO-Handbuch zur Anwendung des Völkerrechts auf die Cyberkriegsführung (2013). Zwanzig zumeist militärnahe Rechtsexperten aus NATO-Staaten, auch aus Deutschland, haben diesen Leitfaden erarbeitet. An den darin aufgelisteten 95 Regeln sollen sich alle NATO-Staaten im Fall eines Cyberkriegs orientieren - auch die Bundeswehr. Was aber ist daran so gefährlich? Drei Beispiele:

  • Danach gelten selbst solche Operationen als Cyberwar-Angriffe, die bloße wirtschaftlich-finanzielle Schäden eines betroffenen Staates verursachen, wenn diese gewisse Ausmaße annehmen, etwa einen Börsencrash. Dagegen wäre dann eine militärische, auch konventionelle Selbstverteidigung mit Kriegswaffen rechtens, so der Leitfaden, was zu einer unkontrollierbaren Eskalation der Auseinandersetzungen führen könnte.

  • Laut Handbuch gelten zivile Hacker („Hacktivists“) als aktive Kriegs­teilneh­mer, wenn sie Cyber-Aktionen im Verlauf kriegerischer Konflikte ausführen. Solche Zivilisten können daher militärisch angegriffen und auch getötet werden. Selbst das Suchen und Offenlegen von Schwachstellen in Computersystemen des Gegners gilt demnach als kriegerische Handlung. Auf diese Weise wird die Kampfzone praktisch auf Privatpersonen und deren Laptops ausgeweitet.

  • Das NATO-Tallinn-Manual sieht zudem vor, dass ein Staat sein Recht auf Selbstverteidigung auch präventiv ausüben darf – bevor überhaupt ein digitaler Angriff stattgefunden hat. Auch hier, wie bei konventionellen Militär-Erstschlä­gen, besteht hohe Missbrauchs- oder Missinterpretationsgefahr.

Mit der Rechtsauslegung in diesem NATO-Dokument werden die hohen völkerrechtlichen Eingriffsschwellen für bewaffnete Gewaltanwendungen zwischen Staaten unverantwortlich weit herabgesenkt sowie die restriktiven Kriterien des Selbstverteidigungsrechts aufgeweicht. Das gefährdet die Zivilbevölkerungen und die internationale Sicherheit in erheblichem Maße. Was einflussreiche, zumeist militärnahe Völkerrechtler da an Regeln für die NATO zusammengestellt haben, ist geeignet, die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit, zwischen Zivilem und Militärischem, zwischen Krieg und Frieden, zwischen Angriff und Defensive zu verwischen - und eine schwere Datenattacke blitzartig in einen echten Krieg mit Raketen, Bomben und Granaten eskalieren zu lassen.

All dies bedeutet: Mit der Aufrüstung der Bundeswehr zum Cyberkrieg steigen Eskalationspotentiale, Kriegsbereitschaft und Kriegsgefahr – und davor schützt auch die obligatorische Zustimmung des Bundestags zu Militäreinsätzen im Einzelfall nur bedingt. Denn das Cyber-Kon­zept der Verteidigungsministerin für die Bundeswehr ist letztlich demokratisch kaum zu kontrollieren. Wobei die längst zur Interventionsarmee umgebaute Truppe ohnehin schwer kontrollierbar und skandalträchtig ist.

Wir vergeben unsere Negativpreise zwar für böse Pläne und Taten, aber wir geben unsere Preisträger_innen nicht verloren und verleihen den Preis gerne auch auf Bewährung. Voraussetzung dafür wäre, dass Sie, Frau Verteidigungsministerin, von der digitalen Aufrüstung abrücken, auf offensive Cyberwaffen für die Bundeswehr verzichten und eine ausschließlich defensive Cybersicherheitsstrategie verfolgen, um die Zivil­bevöl­kerung effektiv zu schützen – flankiert von vertrauensbildenden Maß­nah­men im Rahmen einer friedensorientierten Außenpolitik und Diplomatie (Stichwort: „Cyberpeace“). Wir fordern darüber hinaus eine weltweite Cyberabrüstung sowie eine völkerrechtliche Ächtung von Cyberspionage und Cyberwaffen. Und wir fordern die Schaffung einer unabhängigen Instanz der UN zur Untersuchung zwischenstaatlicher Cyberattacken und deren angemessener Abwehr.

Doch Sie, Frau von der Leyen, haben offenbar anderes zu tun. Sie suchen stattdessen, so wörtlich, „händeringend Nerds“: „Hacker, IT-Programmierer, IT-Sicherheits­fach­leute, Penetrationstester, Systemadministratoren oder IT-Entwickler“. Der Bedarf der Bundeswehr liege bei rund 800 IT-Admi­nistratoren und 700 IT-Soldaten, also Cyberkämpferinnen und -kämpfern pro Jahr. Flächendeckend und großflächig wirbt die Bundeswehr auf Bahnhöfen, in Unis und Medien um Fachpersonal und Quereinsteiger für den Waffendienst am PC; auch zivile Experten aus Wirtschaft, Verbänden und NGOs werden für eine schlagkräftige „Cyber-Reserve“ geworben. In Anlehnung an den Kriegsslogan Ihres Vorvorgängers Peter Struck – „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“ – werben Sie nun mit dem Sinnspruch: „Deutschlands Freiheit wird auch im Cyberraum verteidigt. Mach, was wirklich zählt…“. Das klingt spannend und womöglich auch verlockend.

Ob Sie, Frau Ministerin und ihre Werberkolonnen schon mal beim ChaosComputerClub oder bei Digitalcourage vorbeigeschaut haben? Auch heute hier im Saal sitzen wohl reihenweise technikaffine und -kundige Menschen, die genau in Ihr Beuteschema passen. Darum hoffen wir sehr, dass diese Laudatio und unsere Preisvergabe solche Menschen dazu ermutigen, ihre Fähigkeiten für Frieden und Verständigung im Internet einzusetzen, statt für digitale Angriffe und Cyberkrieg auf dem „Schlachtfeld der Zukunft“!

Herzlichen Glückwunsch zum Negativpreis BigBrotherAward 2017, Frau Bundesverteidigungsministerin und Oberbefehlshaberin der Bundeswehr.


Nachdruck, auch im Internet, nur mit Zustimmung des Autors.

Laudator.in

Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)
Jahr
Verbraucherschutz (2017)

Prudsys AG

Die Firma Prudsys AG erhält den BigBrotherAward 2017 in der Kategorie Verbraucherschutz, weil sie Software anbietet, die Preisdiskriminierung erlaubt. Diese Software legt einen Preis fest, je nachdem, was sie über den jeweiligen Kunden herausfinden kann. Damit zählt nicht mehr, was ein Produkt kostet oder wert ist. So kommt es, dass zwei Menschen unterschiedliche Preise für die gleiche Ware bezahlen müssen.
Laudator.in:
padeluun am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
padeluun, Digitalcourage
Das Logo von prudsys präsent in der Mitte. Rechts daneben ein Kassenbon im Hintergrund. Darunter der Text: „Jeder Kaffee, den Sie kaufen, kann gegen Sie verwendet werden!“

Der BigBrotherAward in der Kategorie Verbraucherschutz geht an Jens Scholz, Vorstand der Prudsys AG, Chemnitz, für Ihre Software zur Preisdiskriminierung, also für Beihilfe zur Preistreiberei und Verbreitung sozialen Unfriedens.

Wissenschaft – und das gilt auch für die Disziplinen Mathematik und Informatik – ist etwas Feines. Man forscht, gewinnt Erkenntnisse und setzt diese dann – zum Beispiel mittels Ausgründung aus der Universität – zum Besten für die Menschheit um.

Unser Preisträger, die Prudsys AG, ist eine Ausgründung der TU Chemnitz. Sie beschäftigt sich mit Data Mining. Sie veranstaltet schon so lange, wie wir die BigBrotherAwards veranstalten – seit dem Jahr 2000 – den „Data Mining Cup“, wo sich die Besten der Besten einen Wettbewerb liefern, um aus riesigen Kübeln voll mit Big Data das eine oder andere Daten-Nugget herauszufischen. Mit solchen Fähigkeiten könne man – so wird erzählt – unbekannte Krankheiten heilen und das Hungerproblem der Welt lösen.

Die Prudsys AG, so scheint es, hat an diesen guten Zielen wenig Interesse. Ihr Businessmodell bietet etwas anderes an: „Preisdiskriminierung“. Und das ist uns bei den BigBrotherAwards schon im Jahr 2000 begegnet, als wir die Firma Payback für ihre Kundenkarten mit einem unserer hübschen, aber unbegehrten Awards beehrten.

Die Prudsys AG entwickelt Algorithmen und Strategien, die es Händlern ermöglichen, für ein- und dasselbe Produkt, sei es Apfel, Milch oder Digitalkamera, online und offline den höchstmöglichen Preis zu verlangen, der eben noch möglich ist, ohne dass Sie als Kundin oder Kunde abspringen. Also ist nicht mehr der Wert einer Ware ausschlaggebend für die Preisgestaltung, sondern Sie sind es. Sie und ich. Die Händlerin oder der Händler müssen genug über uns wissen, um herauszufinden, welchen größtmöglichen Preis wir zu zahlen bereit sind. Im Marketing-Jargon heißt das: „Preisakzeptanzschwellen explorativ dynamisch austesten“1. Das klingt vielleicht absurd – ist aber so.

Nehmen wir an, Sie sind alleinerziehender Vater, müssen nach der Arbeit schnell in die Kita hasten, um Ihre Tochter abzuholen und husch husch, bevor Sie das Abendessen bereiten, noch einkaufen. Dann, denke ich, werden Sie nicht drei Läden besuchen, Preise vergleichen und günstiger einkaufen. Sie werden in das Geschäft laufen, das auf dem Weg oder kleinsten Umweg liegt und in den Korb werfen, was so auf dem Einkaufzettel steht. Wenn dieser Laden nicht „Dauertiefpreise statt Sonderangebote“ garantiert, dann werden Sie sicher mehr bezahlt haben, als jemand, der mehr Zeit hat.

„Ha!“, werden Sie jetzt vielleicht antworten. „Ich habe meine Kundenkarte. Da bekomme ich als treuer Kunde alles etwas günstiger.“ Doppel-HA! Antworte ich. Jetzt haben Sie erst recht verloren! Denn jetzt weiß der Händler, was Sie so einkaufen – und wann – und wie viel Sie im Durchschnitt pro Einkauf ausgeben – und ob Sie bar zahlen oder mit Karte. Er kann abschätzen, wie groß Ihr Haushalt ist, und kann Sie ganz gezielt mit Rabattcoupons dahin steuern, wohin er sie haben möchte. Weg von den Artikeln, an denen der Händler wenig verdient, hin zu den lukrativeren Artikeln. Er kann abschätzen, wie viele Kunden zukünftig wegbleiben, und ob es sich trotzdem lohnt, wenn er die 2-Kilo-Packung Spaghetti aus dem Angebot nimmt und statt dessen ausschließlich die 250-Gramm-Packungen – die leider etwas teurer sind – ins Regal legt.

Und das entscheidet nicht der freundliche Marktleiter, sondern die Zentrale. Die kann das nämlich viel besser entscheiden, als der Mensch vor Ort – denn die Zentrale bündelt die Daten, wertet sie aus, rechnet das Wetter, Saisonzeiten, Wochen- oder Tageszeiten dazu, oder ob die Konkurrenz gerade eine Promotionaktion fährt (kein Witz!) und schon ändert sich das elektronische Preisschild am Regal.

Denn die Zentrale hat guten Rat: Die Entscheidungssysteme sind mit der Software „Realtime Decision Engine“, kurz RDE, der Firma Prudsys verbunden. Die Selbstbeschreibung:

„Die Prudsys RDE ist als erstes Dynamic-Pricing-Tool in der Lage, die bestmögliche Preisfindung in Echtzeit vorzunehmen. Durch den Einsatz der Prudsys RDE werden tausende Produktpreise vollautomatisiert an das Kundenverhalten sowie sich ständig ändernde Markt- und Unternehmenssituationen angepasst.

Durch die Kombination von personalisierten Produktempfehlungen und individuellen Preisvorteilen werden Kunden durch Rabatte auf für sie relevante Produkte belohnt. Als Umsetzungsmedium für personalisiertes Pricing eignen sich besonders vollautomatisch erzeugte und personalisierte Coupons in Kunden-Newslettern, in Mailings und in mobilen Apps. Individuelle Rabatte können zudem im Zuge des Check-out-Couponings [Anmerkung des Laudators: das sind diese Zusätze, die Ihren Kassenzettel neuerdings immer so lang machen], via Kundenkarten oder auf Instore-Kiosksysteme ausgespielt werden.“

Was die Prudsys AG hier schreibt, schon eine Nummer härter, als dass die selben DVDs beim Marktkauf in Rahden (ein eher ärmerer Ort) grundsätzlich 30 % teurer sind als beim Marktkauf in Lübbecke, wo eher reichere Leute wohnen.

Und wenn das schon im Einzelhandel an der Straße funktioniert, wie gut funktioniert das erst in Online-Shops? Hier – meint einer der Prudsys-Chefs im Interview – kommen die Händler an der Preisdiskriminierung (die natürlich nicht Preisdiskriminierung heißt, sondern „Dynamic Pricing“ genannt wird) im Zeitalter von Amazon & Co gar nicht vorbei: Online-Shops würden ohne Dynamic Pricing bald schlicht nichts mehr verkaufen.

Was können wir tun? Hier sind ein paar praktische Tipps: Wenn Sie eine Reise buchen wollen, nehmen Sie lieber einen Windows-Rechner statt eines Macs. Sonst wird’s gleich teurer. Sie wollen vom Handy buchen? Ganz schlechte Idee – das wird meist richtig teuer, aber wenn, dann besser nicht vom iPhone aus, sondern lieber mit einem Smartphone mit dem Betriebssystem Android.

Das ist noch eine recht grobe Art der Differenzierung. Die Prudsys AG hat bessere Algorithmen, die viel feinziselierter Daten zusammenraffen, die von den meisten Menschen als „sind doch eh nicht wichtig“ fahrlässig abgegeben wurden. Jeder Kaffee, den Sie kaufen, kann gegen Sie verwendet werden! Wenn Sie im Web einkaufen, sehen Sie die Oberfläche, die ein Designer im Auftrag des Händlers programmiert hat. Ihr Nachbar sieht eine andere. Ihre Kollegin ebenfalls. Und das Wort „Oberfläche“ trifft es genau. Sie sehen nur eine winzig kleine Spitze Ihres Wahl- und Einkaufvorgangs. Unter der Oberfläche aber werden Daten geschaufelt, Berechnungen angestellt, geschachert und alles mit dem einen Ziel: Sie abzuzocken. Bei jedem Kauf im Netz müssen Sie sich vorstellen, dass unter der Oberfläche ein leises Kichern und ein zufriedenes Händereiben zu hören ist.

Das ist eine giergetriebene Welt. In dieser Welt existieren keine Menschen, keine Einzelprodukte, keine Zufriedenheit, kein Service – hier gibt es nur eins: Zahlen. Einsen und Nullen und am Ende manifestieren sich diese zu einem dicken fetten Plus an Euro und Dollar. Die Prudsys AG sagt, dass jeden Tag eine Milliarde Entscheidungen mit ihren Algorithmen getroffen werden – 8 Milliarden Dollar Handelsvolumen jährlich werden mit diesen Algorithmen erwirtschaftet. Selbst wenn Sie schon gelernt haben, dass man Begriffe wie „Premiumkunde“, „Rabatt“ und allein schon die Floskel „Sparen Sie …“ meiden sollte, wie der Teufel das Weihwasser: Es gibt quasi kein Entkommen. Selbst wenn Sie, wie die junge Frau, die ein Hotelzimmer in Brüssel buchen wollte, dieses 17mal stornieren, um am Ende 1,38 Euro weniger zu bezahlen. Die Welt wird nicht zu einem lustigen gigantischen orientalischen Basar. Sie als Kundin haben es nicht mehr mit einer Wochenmarkthändlerin zu tun, mit der Sie auf Augenhöhe um den Preis feilschen können. Hier feilscht nur einer, denn der Händler weiß alles über seine Kunden, die Kunden nichts über die Händler. Es besteht keine Augenhöhe, kein Frieden, sondern ein immerwährender Quell für das böse Gefühl, stets zu kurz zu kommen. Und das zu Recht.

Mit Data Mining, liebe Prudsys AG, mit Euren Fähigkeiten könnte man vielleicht unbekannte Krankheiten heilen und das Hungerproblem der Welt lösen. Ihr habt Euch leider für die dunkle Seite der Macht entschieden: Die Gier.

Ihr habt schon ein paar Awards bekommen: Den „Top 100“, den „Innovationspreis-IT“, den „Top Produkt Handel“, den „Chemnitzer Meilenstein“ … und jetzt auch noch den „Top BigBrotherAward 2017“. Herzlichen Glückwunsch, Jens Scholz von der Prudsys AG.

Laudator.in

padeluun am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
padeluun, Digitalcourage
Quellen (nur eintragen sofern nicht via [fn] im Text vorhanden, s.u.)
Jahr
Kategorie
Arbeitswelt (2017)

PLT – Planung für Logistik Transport GmbH

Die Firma PLT – Planung für Logistik & Transport GmbH erhält den BigBrotherAward 2017 in der Kategorie Arbeit für ihren PLT Personal-Tracker. Dieses Gerät zeigt Arbeitgebern in Echtzeit, wo sich Zeitungsausträger oder Briefträgerinnen befinden und wie schnell sie sich bewegen. Diese Totalkontrolle ist menschenunwürdig und sinnlos.
Laudator.in:
Prof. Dr. Peter Wedde am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Prof. Dr. Peter Wedde, Frankfurt University of Applied Science
Relativ mittig das Logo der Firma PLT, links daneben ein Figürchen mit Sackkarre. Text: „Der Kontrollwahn von Arbeigebern...“.

Der BigBrotherAward 2017 in der Kategorie Arbeit geht an die PLT – Planung für Logistik Transport GmbH, weil sie mit dem PLT Personal-Tracker ein Gerät anbietet, dass eine „minutengenaue“ und „unterbrechungsfreie Spurenverfolgung“ von Außendienstmitarbeiterinnen und -mitarbeitern ermöglicht. Dies führt zu einer lückenlosen Totalkontrolle der Beschäftigten, die dieses Gerät bei sich tragen müssen.

Der Tracker ist nur wenige Zentimeter groß, enthält einen GPS-Empfänger, ein GSM/GPRS-Modem, einen leistungsfähigen Akku und einen internen Datenspeicher, damit die Tourdaten von Beschäftigten auch dann abrufbar sind, wenn das Mobilfunknetz ausfällt.

Besonders komfortabel ist die Echtzeit-Ortung, wenn die von PLT ebenfalls angebotene Begleitsoftware „TrackPilot“ verwendet wird. Mit dem im „TrackPilot“ integrierten „sehr genauen Kartenmaterial“ können sich Arbeitgeber beispielsweise die von Beschäftigten absolvierte Strecke „exakt“ anzeigen lassen. Den Anwendern werden nach Aussage von PLT auf diesem Weg neben „exakten Fahrtenbüchern und Arbeitszeitberichten zahlreiche Auswertungen und Statistiken geliefert, um Personal und Fuhrpark wirkungsvoll zu steuern.“ Mit wenigen Klicks können hier verschiedene Berichte generiert und auf Wunsch exportiert werden. Durch das versprochene „metergenaue Tracking“ kann dabei beispielsweise erkannt werden, in welchem Tempo sich Zeitungsausträger oder Zusteller bewegen, wie lange sie an einer Haustür oder in einem Büro verweilen oder wann sie eine Pause machen.

Die Firma PLT erhält den BBA 2017 stellvertretend für alle Anbieter dieser Art von Überwachungstechnik, die ohne Rücksicht auf die Rechte von Beschäftigten eingesetzt wird. Unsere Preisverleihung soll diesen Trend stoppen.

PLT ist hat den BigBrotherAward besonders verdient, weil diese Firma in ihrer Werbung gesetzliche Vorschriften verfälscht, um den Einsatz von Personal-Trackern nicht nur als gesetzeskonform, sondern quasi als gesetzlich erforderlich darzustellen. So behauptet PLT auf seiner Website:

Insbesondere das neue Mindestlohngesetz (MiLoG), welches am 01.01.2015 in Kraft trat, macht es in vielen Branchen notwendig, die Arbeitszeiten der Mitarbeiter zu überwachen und minutengenau zu dokumentieren, damit später bewiesen werden kann, dass auch tatsächlich der Mindestlohn i. H. v. 8,50 Euro gezahlt wurde. Daraus erwächst in einigen Branchen ein immenser Mehraufwand, nur um die Einhaltung des Gesetzes zu dokumentieren und den Nachweispflichten nachzukommen. Besonders hart betroffen sind vom Mindestlohn Zustelldienste und Zusteller der Zeitungslogistik und Brieflogistik. Die tatsächlichen Arbeitszeiten der Zeitungszusteller müssen aufgezeichnet und für Prüfungen des Zoll mindestens 10 Jahre vorgehalten werden.

Diese Werbeaussage ist eine echte „Fake News“: Richtig ist hieran eigentlich nur die Information, dass das Mindestlohngesetz (MiLoG) Arbeitgebern mit Wirkung vom 1. Januar 2015 bestimmte Nachweispflichten auferlegt. Nach § 17 Abs. 1 dieses Gesetzes sind sie verpflichtet,

Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit dieser Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer spätestens bis zum Ablauf des siebten auf den Tag der Arbeitsleistung folgenden Kalendertages aufzuzeichnen und diese Aufzeichnungen mindestens zwei Jahre beginnend ab dem für die Aufzeichnung maßgeblichen Zeitpunkt aufzubewahren“.

Dazu reicht es, wenn die Beschäftigten einen Stundenzettel ausfüllen, wie sie es seit Jahrzehnten tun. Von einer Verpflichtung zur „minutengenauen“ Überwachung der Arbeitszeit ist hingegen im MiLoG ebenso wenig die Rede wie von einem Recht der Arbeitgeber, den genauen Standort von Beschäftigten permanent zu erfassen. Auch eine angebliche „zehnjährige Aufbewahrungspflicht“ gibt es schlicht nicht, auch nicht „für den Zoll“. Was die Firma PLT da auf ihrer Website schreibt, ist damit eine plumpe Verfälschung der gesetzlichen Situation.

Die vollmundigen Werbeaussagen auf der PLT-Website ändern aber nichts an der eindeutigen arbeits- und datenschutzrechtlichen Situation, nach der eine permanente und metergenaue elektronische Totalüberwachung des Standorts und der Bewegungen von Beschäftigten in den allermeisten Fällen verboten ist. Datenschutzrechtlich zulässig ist eine exakte online-Ortung von Menschen nur in wenigen Ausnahmen, etwa für Besatzungen von vollgepackten Geldtransportern oder für Berufsfeuerwehrleute während des Einsatzes in einem brennenden Haus. Für „normale“ Beschäftigte wie etwa für Auslieferungsfahrer ist es völlig ausreichend, wenn ihr ungefährer Standort oder ihre ungefähre Ankunftszeit bei Kunden an die Zentrale übermittelt wird.

Das minuten- und metergenaue Tracking, dass der PLT Personal-Tracker verspricht, trifft damit auf leicht erkennbare und eindeutige rechtliche Grenzen. Für die Branchen, die PLT auf seiner Website nennt:

„Winterdienst (Handtouren), Wachdienst, Objektschutz, Gebietsbestreifung, Agrar- und Forstbetrieb, Sportveranstaltungen oder Zustelldienst, Zusteller der Zeitungslogistik und Brieflogistik.“

gibt es keine gesetzliche Erlaubnis. Deshalb ist der Einsatz von Personal-Trackern in derartigen Fällen arbeitsrechtlich und datenschutzrechtlich unzulässig.

Umso erstaunlicher ist es, dass der Personal-Tracker laut der Website von PLT bereits vielfach „legal“ eingesetzt werden soll:

Bereits etliche Zustelldienste haben Ihre Zusteller mit dem PLT Personal Tracker ausgestattet und eine entsprechende interne Betriebsvereinbarung getroffen. Danach werden die zurückgelegten Zustelltouren der Zeitungsausträger metergenau getrackt und im TrackPilot Ortungssystem zu übersichtlichen Arbeitszeitberichten verarbeitet. Die Berichte können in Dateiform gespeichert und dauerhaft archiviert werden.“

Der Hinweis auf Betriebsvereinbarungen, durch die ein metergenaues persönliches Tracking von Zustellern erlaubt wird, hat uns verblüfft. Das würde ja bedeuten, dass Betriebsräte einer Form der Totalüberwachung zugestimmt hätten, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts in Arbeitsverhältnissen unzulässig ist.

Deshalb haben wir uns die auf der PLT-Website hinterlegten „Betriebsvereinbarungen“ genauer angesehen. Erwartet hätten wir hier eine Referenzliste mit Formulierungsbeispielen aus bereits abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen. Stattdessen finden sich hier aber nur allgemeine Hinweise auf deren mögliche Regelungsinhalte sowie auf rechtliche Probleme. Auch dieser Teil der PLT-Präsentation ist wiederum eine geschickte Marketingaussage, die vorgaukelt, dass rechtlich alles in Ordnung ist.

Seltsam mutet auch die folgende Formulierung an:

„Durch die extrem kleinen Abmaße lässt sich das Gerät sehr leicht am Körper tragen oder versteckt positionieren und passt in jede Hosentasche.“

Wieso weist die Firma PLT darauf hin, dass es möglich ist, den Personal-Tracker etwa auch versteckt in einem Auslieferungswagen oder in einer Tragetasche unterzubringen? Die Ortung könnte dann ohne Wissen der Beschäftigten erfolgen. Dies aber wäre nach geltender Rechtslage definitiv unzulässig.

Der Einsatz von Personal-Trackern zur Totalkontrolle von Beschäftigten – sei es das Gerät von PLT oder auch von einer anderen Firma – ist menschenunwürdig, rechtswidrig und sinnlos. Diese Geräte sind genau wie durch Videokameras „totalüberwachte“ Arbeitsplätze Ausdruck des überbordenden Kontrollwahns und des übertriebenen Misstrauens von Arbeitgebern, die meinen, jeden Meter und jede Minute der Arbeit ihrer Beschäftigten überwachen und erfassen zu müssen.

Hinzu kommt: Es gibt weder die von PLT behauptete gesetzliche Erfordernis, noch beinhaltet etwa die meter- und minutengenaue Erfassung eines Briefträgers ein nennenswertes Einsparpotenzial für die Unternehmen. Ganz im Gegenteil: Derartige Kontrollen kosten zunächst einmal Geld. Firmen wie PLT verdienen am Kontrollwahn von Arbeitgebern und an der absurden, aber weit verbreiten Logik „Überwachung gleich Sicherheit“. Die angebotene Überwachungstechnologie wird auf Kosten der Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vermarktet.

Hoffentlich können wir mit diesem BigBrotherAward einige Firmenchefs und -chefinnen davor bewahren, auf diese Propaganda herein zu fallen. Probieren Sie es doch einmal anders: Vermitteln Sie Ihren Beschäftigten Vertrauen und Wertschätzung. Optimieren Sie mit ihnen zusammen Routenführungen und entwickeln sie mögliche Effizienz-Steigerungen gemeinsam. Nehmen Sie ernst, dass diese Menschen ihre Touren und Arbeitsabläufe am besten kennen. Das wirkt sich mit Sicherheit positiv auf die Arbeitsmotivation aus – und steigert das Arbeitstempo vielleicht ganz ohne Zusatzkosten.

Herzlichen Glückwunsch zum BigBrotherAward 2017, Firma PLT – Planung für Logistik und Transport GmbH.

Laudator.in

Prof. Dr. Peter Wedde am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Prof. Dr. Peter Wedde, Frankfurt University of Applied Science
Jahr
Kategorie
Wirtschaft (2017)

IT-Branchenverband Bitkom

Der deutsche IT-Branchenverband Bitkom erhält den BigBrotherAward 2017 in der Kategorie Wirtschaft für sein unkritisches Promoten von Big Data, seine penetrante Lobbyarbeit gegen Datenschutz und weil er de facto eine Tarnorganisation großer US-Konzerne ist, die bei Bitkom das Sagen haben.
Laudator.in:
Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage
Das Bitkom-Logo vor dem Hintergrund einer Feier, im Fokus ein gehobenes Glas. Darunter der text: „Penetrante Lobby gegen Datenschutz“.

Der BigBrotherAward 2017 in der Kategorie Wirtschaft geht an den deutschen IT-Branchenverband Bitkom, vertreten durch seinen Präsidenten Thorsten Dirks. Der IT-Branchenverband erhält diesen BigBrotherAward für sein unkritisches Promoten von Big Data, seine penetrante Lobbyarbeit gegen Datenschutz und weil er de facto eine Tarnorganisation großer US-Konzerne ist, die bei Bitkom das Sagen haben.

Bitkom – wer ist das überhaupt, was machen die? Hier im Stakkato: Bitkom ist der IT-Branchenverband in Deutschland, wurde 1999 gegründet, hat rund 1.600 Mitglieder, veranstaltet den jährlichen „IT-Gipfel“ mit der Bundesregierung (der ab 2017 als „Digital-Gipfel“ firmiert), macht Studien, wird von der Bundesregierung immer gefragt, wenn „irgendwas mit Computern“ zur Debatte steht und hat beste Beziehungen zur Politik.

Und was meint Bitkom zum Datenschutz?

Datenschutz – findet Bitkom – „passt nicht in die heutige Zeit“, ist „veraltet“, „analog“1, „letztes Jahrhundert“2, überreguliert und nicht mehr zeitgemäß3. Hier bestimmt offenbar das Sein das Bewusstsein. Einbrecher finden auch, dass das Prinzip des Eigentums veraltet sei.

Aber lassen wir die Bitkom-Vertreter.innen doch selber zu Wort kommen:

Zitat Bitkom-Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder:

„Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, den Datenschutz abzuschaffen. Im Gegenteil: Je stärker Daten eingesetzt werden, umso stärker müssen sie gegen Missbrauch geschützt werden – rechtlich, technisch, organisatorisch. Genau diese Unterscheidung aber wird kaum gemacht: Sinnvoller Gebrauch gegen unerwünschten Missbrauch.“

Doch halt – wer entscheidet eigentlich, was „Missbrauch“ und was „sinnvoller Gebrauch“ ist? Im Klartext heißt das vermutlich: „Um Ihre Daten zu schützen, müssen wir sie erstmal haben! Also her mit Ihren Daten, denn wir machen was Sinnvolles damit, nämlich Geld! Wenn jemand anderes an unseren Datenschatz heranwill, dann ist das Missbrauch.“

Nächstes Zitat: Dieter Kempf, Ex-Bitkom-Präsident, beim Safer Internet Day 2015:

„Ob das Konzept der Datensparsamkeit heute noch in dieser Absolutheit sinnvoll und geeignet ist, moderne Datenverarbeitung zu regulieren, muss man auch einmal fragen dürfen.“

Bitkom propagiert „Datenreichtum“ statt Datensparsamkeit So im Bitkom-Positionspapier zur „Digitalen Souveränität“. Zitat:

„Zwei Grundprinzipien des Datenschutzes – Datensparsamkeit und Zweckbindung – sind zu überprüfen und durch die Prinzipien der Datenvielfalt und des Datenreichtums zu ergänzen bzw. zu ersetzen.“

Auch Susanne Dehmel, Mitglied der Geschäftsleitung und bei Bitkom zuständig für Datenschutz, wirbt:

„Lassen wir Datenreichtum zu.“

Euphemismus-Warnung: Wer von „Datenreichtum“ spricht, verschweigt, wer eigentlich reich werden will und wer in Zukunft der Rohstoff sein soll, der ausgebeutet wird. Deshalb gab es für dieses Wort im letzten Jahr auch schon den Neusprech-Award!

Bitkom propagiert „Datensouveränität“ statt Datenschutz. So plädiert zum Beispiel Geschäftsführer Rohleder dafür, dass „der mündige Verbraucher durch datensouveränes Verhalten entscheiden können muss“, was er nutzen und mit wem er Informationen teilen wolle.

Euphemismus-Warnung: „Datensouveränität“ ist eine schöne Idee, aber wer das sagt, tut so, als ob die Verbraucher.innen tatsächlich die Macht hätten, zu entscheiden, wer was von ihnen erfährt. Aber so ist es nicht. Mit dem Wort „souverän“ soll den Menschen suggeriert werden, dass Gesetze zu ihrem Schutz überflüssig seien und dass Verbraucherschutz Bevormundung sei.

Wer fordert, dass „Datensouveränität“ nun den Datenschutz ersetzen soll, will nicht die Persönlichkeitsrechte der Bürger schützen, sondern Datenkraken-Firmen vor wirksamen Gesetzen. Denn „souverän“ klingt nett, ist aber wolkig statt rechtsverbindlich.

Wer von „individueller Datensouveränität“ spricht, meint damit die Digitalversion des „mündigen Bürgers“ – der normalerweise nicht gefragt wird, aber der immer dann herbeizitiert wird, wenn er über den Tisch gezogen werden soll.

„Souverän“ klingt erst mal gut. Wollen wir das nicht alle – souverän sein? „Souverän“ ist magischer Feenstaub und Bitkom stäubt ihn wie Puderzucker über unsere kritische Wahrnehmung. Wusch – weg sind die Persönlichkeitsrechte. Plopp – da sind die Daten als Wirtschaftsware, die die Verbraucher.innen einfach weitergeben können. Magischerweise entsteht so der Rohstoff des 21. Jahrhunderts, der aber – simsalabim – erst dann wirklichen Wert hat, wenn er in die Hände der datensammelnden Firma gerät.

Und Bitkom-Präsident Thorsten Dirks legt noch einen drauf:

„Das Prinzip der Datensparsamkeit hat sich in fast allen Lebensbereichen überholt. Wir wollen kein Supergrundrecht auf Datenschutz.“

Da erscheint vor meinem geistigen Auge doch gleich ein total unfaires Supergrundrecht, das die Wirtschaft drangsaliert. Jetzt mal im Ernst: Das ist doch absurd!

All dies wird immer und immer wieder wiederholt. Wir können es auch „Quengeln“ nennen.

Das Schlimme ist:

Das Quengeln zeigt Wirkung

Bundeskanzlerin Angela Merkel ist mittlerweile weich geworden und erfüllt dem IT-Kindergarten Bitkom jeden Wunsch. Denn diese Kinder behaupten ja, unsere Zukunft zu sein.

An dem einen Rockzipfel zerren die Firmen, die Überwachungstechnik verkaufen, an dem anderen Rockzipfel die Firmen, die freie Bahn für ihr Big Business mit Big Data wollen. Als gemeinsamer Feind ist ausgemacht: Der Datenschutz, der die Bürgerinnen und Bürger vor den schlimmsten Auswüchsen schützen soll.

Und das Quengeln wirkt nicht nur bei der Kanzlerin, sondern auch bei ihren drei Ministern, die gemeinsam fürs Digitale zuständig sind: Innenminister Thomas de Maiziére, Verkehrsminister Alexander Dobrindt und (bis vor kurzem) Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel.

Denn wenn man den Mitgliedern der Bundesregierung zuhört, dann hat man fast das Gefühl, eigentlich die Bitkom-Sprecher zu hören, die wir eben zitiert haben:

Sigmar Gabriel auf IT-Gipfel in Saarbrücken 2016:

„Ich glaube, dass wir uns endgültig verabschieden müssen von dem klassischen Begriff des Datenschutzes, weil der natürlich nichts anderes ist als ein Minimierungsgebot von Daten. Das ist ungefähr das Gegenteil des Geschäftsmodells von Big Data. Aber das heißt nicht Aufgabe jeder Form, sondern, statt Datenschutz ‚Datensouveränität‘ zum Gegenstand von Politik und Umgang mit Daten zu machen.“4

Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt auf einem Empfang von Bitkom:

Der bisher gültige Grundsatz, dass Datensparsamkeit das Übermaß der Dinge ist, der hat sich überholt, der muss weg. Datenreichtum muss der Maßstab sein, nach dem wir unsere Politik ausrichten.“5

Dafür wolle sich die Regierung zusammen mit Bitkom einsetzen.

Auch Angela Merkel zeigt viel Verständnis für die Big-Data-Wünsche:

Sie brauchen hinreichend Freiheiten, um neue Daten, um neue Möglichkeiten des Datenmanagements, des Big Data Minings oder auch die Cloud für Ihre Geschäftsmodelle zu nutzen. Ich glaube, das ist eine bis jetzt, jedenfalls in Deutschland, noch nicht richtig erkannte Form der Wertschöpfung. Daten sind Rohstoffe des 21. Jahrhunderts“,

sagte sie auf einer Verlegertagung 2015 in Berlin.

„Wenn wir es nicht machen, machen es andere,“ sagt Thomas de Maiziére in seiner Bundestagsrede zum BDSG-Anpassungsgesetz. Das ist allerdings ein Argument, das man auch als Entschuldigung für Waffenhandel, Zuhälterei und Drogen-Dealen anführen könnte – und das wir nichtsdestotrotz moralisch verwerflich finden.

Bitkom genießt seinen Einfluss auf die Regierung. Manchmal ein bisschen zu sehr. So sagte ein Bitkom-Vertreter bei einer Anhörung zum E-Government-Gesetz triumphierend: „Was soll ich denn gegen ein Gesetz sagen, das ich selbst geschrieben habe?!“ Niemand bei der Anhörung schien Anstoß daran zu nehmen – soweit geht die Selbstverständlichkeit der Lobby-Einflussnahme.

Und nun raten Sie mal, was als nächstes kommt in unserer Liste der Kritikpunkte:

Die altbekannte Strategie der „freiwilligen Selbstverpflichtung der Wirtschaft“.

Für die Einflussnahme in Brüssel hat Bitkom den gemeinnützigen Verein „Selbstregulierung Informationswirtschaft e.V.“, kurz SRIW, gegründet, der sich für „Selbst- und Ko-Regulierung“ einsetzt, unter anderem in einem Ausschuss der EU-Kommission. Mit anderen Worten: Er deckt das Feld Daten- und Verbraucherschutz ab, um zu suggerieren, dass die Verbraucher.innen Vertrauen haben können, weil die Wirtschaft sich doch schon selbst um diese Anliegen kümmert. Neben Bitkom gehören zum Verein SRIW: die Deutsche Telekom, DHL, Map & Route, zwei Unternehmen für Panoramabilder, Vermessung und Georeferenzierung à la Streetview – und, ja genau: Google.

Fun fact am Rande: Die überschäumende Freude, wie gut das mit der Beeinflussung der Politik funktioniert, hat gleich zu zwei Freud’schen Verschreibern auf der SRIW-Website geführt: „sanktionsbewährt“ mit „ä“ – naheliegend, denn die Strategie des Verbandes, durch Selbstregulierungstamtam Gesetzgebung zu verhindern, ist in der Tat „altbewährt“ – „wehrhaft“ dagegen sollen die Persönlichkeitsrechte ja eben nicht sein.

Vielsagender Vertipper Nummer 2: „Die digitale Agenda der Bundesregulierung“ – die Bundesregierung schon komplett ersetzt durch Selbstregulierung. Hm, hier war offenbar der Wunsch Vater des Gedankens. Oder Google hat bei der Übersetzung geholfen.

Freie Bahn für Big Data

Aber Spaß beiseite – die Sache ist ernst. Worum geht es bei der Bitkom-Lobbyarbeit eigentlich? Um freie Bahn für Big Data Geschäftsmodelle. Big Data bedeutet: Jede Menge Daten werden über uns en passant gesammelt – nicht nur, welche Webseiten ich zur Information anschaue, was ich kaufe, wohin ich reise, sondern auch, wie ich mich bewege, wie schnell ich tippe und wie oft ich mich verschreibe, wie viele Nachrichten ich versende, ob ich auf Sonderangebote klicke und ob ich mich unter Zeitdruck zu Entscheidungen drängen lasse … und und und. Auf diese gemischten Daten wollen Firmen ihre Algorithmen loslassen und schauen, ob sie interessante Muster erkennen können.

Aus den gesammelten Daten werden Schlussfolgerungen über unser Verhalten und unsere Motive sowie Prognosen über unser zukünftiges Verhalten angestellt. Und diese Prognosen werden von denen verwendet, die sie zu ihrem Vorteil nutzen können. Wir werden nicht mehr gefragt. Big Data nimmt uns unsere Souveränität.

Rührend, wie immer wieder nach guten Zwecken gesucht wird, für die Big Data angeblich die Lösung sein soll: Gesundheit, bessere Verkehrsleitung, medizinischen Erkenntnisse, betrügerische Gebrauchtwagenhändler identifizieren, … ach ja, Arbeitsplätze natürlich auch.

Big Data ist ein Euphemismus. Denn eigentlich geht es um die Enteignung von Menschen – um die Enteignung von ihren Daten, von ihren Motiven, von ihren Wünschen, Plänen und Träumen und um die Enteignung von ihren eigenen Entscheidungen. Es geht um Manipulation und Kontrolle. Es geht darum, Claims abzustecken.

Aber Lobbyarbeit ist doch Bitkoms Aufgabe?

Klar – sie machen ihren Job. Aber sie machen ihn schlecht! Denn sie arbeiten nicht nur gegen Grundrechte und soziale Gerechtigkeit, sondern sie schaden letzten Endes auch der deutschen und europäischen IT-Wirtschaft. Denn der Wildwuchs an Datenaneignung zerrüttet das Vertrauen der Nutzer.innen – Misstrauen und mangelnde Akzeptanz werden die langfristige Folge sein.

Die Lobbyisten von Bitkom tun so, als ob wir Angst vor Neuerungen hätten. Dabei sind sie es, die nicht den Mut haben, eigene Lösungen zu erdenken und Dinge anders zu machen als die großen Brüder in den USA. Warum nutzen sie nicht die Vorteile, die deutsche und europäische Unternehmen haben, weil sie seit langem mit Datenschutz, Verbraucherschutz, Arbeitnehmerrechten, Umweltschutz und anderen Werten vertraut sind? Mit der europäischen Datenschutzgrundverordnung gilt ab 2018 das Marktortprinzip. Das heißt, alle, die in Europa Geschäfte machen wollen, müssen sich an die hier geltenden Datenschutzregeln halten – egal, wo ihre Firma angesiedelt ist. Auch deshalb ist „Wenn wir’s nicht machen, machen es andere!“ ein schlechtes Argument.

Warum also sind die Bitkom-Verantwortlichen nicht selbstbewusst und bringen die deutsche Wirtschaft voran? Warum nutzen sie nicht die Qualität und die Kompetenz, die deutsche Unternehmen in diesem Bereich haben? Spannende Frage – wir haben eine mögliche Antwort:

Bei Bitkom bestimmen US-Konzerne den Kurs

8 Prozent der rund 1.600 Bitkom-Mitglieder kommen aus den USA. Das klingt erst einmal gar nicht sooo viel. Aber wenn wir nicht auf die reine Mitgliederzahl schauen, sondern wer diese 8 Prozent sind, die sich neben den deutschen Mittelständlern tummeln, dann sollte der Groschen fallen: Amazon, Apple, Cisco, Ebay, Facebook, Google, Hewlett Packard, IBM, Intel, Paypal, Xerox und Microsoft – die Hechte im Karpfenteich in Sachen Umsatz, Macht und Marktbeherrschung. Daneben hat’s auch noch Marktforschungsunternehmen (Forrester), Unternehmensberatungen (Accenture), Wirtschaftsprüfer (PriceWaterhouseCoopers), Cloud- und CRM-Anbieter (Salesforce), GPS-Navigation (Garmin), Scoringunternehmen (Fair Isaac), Trackinganbieter (Zebra Technologies) und echte Sympathieträger wie Taxi-Konkurrenz Uber.

Die Machtverhältnisse bilden sich auch im Bitkom-Präsidium ab: Von den 16 Menschen im Bitkom-Präsidium sind 5, also fast jede.r Dritte, von einer US-Tochterfirma.

Und in der Tat: Seit Jahren bestimmen US-Internetkonzerne den Kurs von Bitkom. Von dort kommen die Ressourcen. Sie sagen, wo es langgeht. Wir könnten es auch nicht-staatlichen Kolonialismus nennen. Bitkom ist kein deutscher IT-Verband mehr – sondern Bitkom ist inzwischen eine Lobbyorganisation von US-Konzernen, die unter falscher Flagge segeln.

Liebe Bitkoms: Wir wünschen Ihnen mehr Mut zu einem eigenen deutschen und europäischen Weg, mehr Eigenständigkeit, eigene Visionen, echte Innovation! Besinnen Sie sich auf die eigenen Qualitäten, entmachten Sie die US-Konzerne in Ihrem Verband und hören Sie auf, gegen den Datenschutz zu quengeln.

Liebe Bundesregierung: Hören Sie auf, dem Bitkom-Kindergarten jeden Wunsch zu erfüllen, solange sich dieser nicht von dem Einfluss der US-Konzerne befreit hat. Wer quengelnden Kindern dauernd nachgibt, tut auf lange Sicht weder der Gesellschaft noch den Kindern selbst einen Gefallen.

Möge der BigBrotherAward daran erinnern – herzlichen Glückwunsch, Bitkom!


Antwort des Preisträgers

BigBrotherAwards-Preisträger Bitkom kann den Preis zwar nicht persönlich entgegennehmen, grüßt aber mit einer Videobotschaft.

Laudator.in

Rena Tangens am Redner.innenpult der BigBrotherAwards 2021.
Rena Tangens, Digitalcourage
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Hier wird gerade etwas an den veröffentlichungseinstellungen getestet. eigentlich düfte diesen artikel niemand finden, da er nicht verlinkt ist, aber man kann ja nie wissen ;)

Über die BigBrotherAwards

Spannend, unterhaltsam und gut verständlich wird dieser Datenschutz-Negativpreis an Firmen, Organisationen und Politiker.innen verliehen. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und wurden deshalb von Le Monde „Oscars für Datenkraken“ genannt.

Ausgerichtet von (unter anderem):

BigBrother Awards International (Logo)

BigBrotherAwards International

Die BigBrotherAwards sind ein internationales Projekt: In bisher 19 Ländern wurden fragwürdige Praktiken mit diesen Preisen ausgezeichnet.